Mehr als 0 und 1 (E-Book). Beat Döbeli Honegger

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Название Mehr als 0 und 1 (E-Book)
Автор произведения Beat Döbeli Honegger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783035509281



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stehe, und Lehrmittelhersteller sähen eher einen Markt für Themen, die in der Schule als Fach definiert sind. Angesichts der Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre betrachten Kritiker die Integrationsvariante als gescheitert. Erst ein eigenes Fach mit Zeitgefäß und Noten sorge für die notwendige Verbindlichkeit
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.

      Leitmedienwechsel-Reaktion 3: Es braucht sowohl ein Fach als auch Fächerintegration

      Die Wahl zwischen Integration und eigenem Fach sei ein falsches Dilemma, das in den letzten 30 Jahren oft die Bildungspolitik blockiert habe, entgegnen demgegenüber die Vertreter der Leitmedienwechsel-Reaktion 3: Während bei der Integration in alle Fächer die Verbindlichkeit fehlt, droht bei der Schaffung eines eigenen Fachs das Thema an eine Speziallehrkraft ausgelagert zu werden. Die übrigen Lehrerinnen und Lehrer fühlten sich damit nicht mehr verpflichtet, sich um Aspekte der Digitalisierung zu kümmern, denn dafür sei ja nun jemand anderes zuständig. Damit ist die Empfehlung zum Leitmedienwechsel bei dieser Position kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch: Es brauche sowohl ein Fach als auch eine Fächerintegration

a1183. Es zweifle schließlich auch niemand an einem Schulfach Deutsch, obwohl in allen anderen Schulfächern ebenfalls Deutsch gesprochen wird.

      Leitmedienwechsel-Reaktion 4: Schule muss neu gedacht werden

      Die bisher beschriebenen Reaktionsweisen 1 bis 3 betrachten digitale Kompetenzen als zusätzlichen Aspekt, welcher die bisherigen Rahmenbedingungen von Schule (Lehrpläne, Fächer, Stundenplan, Prüfungsformen usw.) nicht infrage stellt. Für Vertreter der Leitmedienwechsel-Reaktion 4 hingegen ist Schule in der bisherigen Form veraltet und ungeeignet für die Herausforderungen der Zukunft. Der Grundgedanke dieser Position geht davon aus, dass in der heutigen globalisierten und vernetzten Welt die großen Probleme in interdisziplinären Teams angegangen werden müssen. Die heutige Schule sei auf die Bedürfnisse der Industriegesellschaft ausgerichtet

a1043 und sei deshalb selbst auch wie eine Fabrik organisiert
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: Kinder und Jugendliche würden entsprechend ihrem Alter in Schulzimmer gesteckt, in denen eine einzige Person in 45-Minuten-Portionen erkläre, was richtig und was falsch sei. Dieses auswendig gelernte Wissen werde dann in Einzelprüfungen wieder abgefragt, starre und straffe Strukturen also, in denen die Gleichschaltung aller Produkte und Menschen angestrebt würde. Aus dieser Kritik wird abgeleitet, dass die Fabrikschule von gestern nicht geeignet sei, Schülerinnen und Schüler auf die Welt von morgen vorzubereiten
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. Schule müsse also grundlegend neu gestaltet werden, um den Erfordernissen im Leitmedienwechsel gerecht zu werden.

      Das Video eines Vortrags von Sir Ken Robinson, welches diese Position mit einer sehenswerten, wenn nicht gar suggestiven Comic-Visualisierung begründet

t12665, wurde in den letzten vier Jahren über elf Millionen Mal angeklickt.

      Leitmedienwechsel-Reaktion 5: Wer redet noch von formaler Bildung?

      Im Internet verfügbare Videos sind ein gutes Stichwort für die Argumentation der Leitmedien-Reaktion 5: Das Internet biete so viele Ressourcen, dass gar keine formale Bildung mehr notwendig sei. Interessierte Lernende finden im Internet sowohl massenhaft Inhalte, fertige Kurse als auch Gleichgesinnte, um sich auszutauschen. Die Schule verliere zunehmend ihr Informationsmonopol

a974, und das informelle Lernen sei der Ausweg aus einem hoffnungslos veralteten formalen Bildungssystem namens Schule
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. Dass die Schule nicht zum Leitmedienwechsel passe, hat Lewis Perelman 1992 im Buch School’s out
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sehr deutlich formuliert, als er meinte, Computer in die Schule zu integrieren sei etwa so sinnvoll wie Verbrennungsmotoren in Pferde einbauen zu wollen. Auch der Piaget-Schüler und LOGO-Erfinder Seymour Papert meinte bereits 1984, dass der Computer die Schule zum Verschwinden bringen werde – zumindest dann, wenn man Schule als einen Ort definiere, an dem Lernende nach Jahrgängen in Klassen eingeteilt sowie einheitliche Lehrpläne und Prüfungen durchführende Lehrkräfte existieren würden
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. Diese Einschränkung zeigt, dass die auf den ersten Blick klare Trennung zwischen Position 4 und 5 eher fließend verläuft. Es ist eine zunehmende Unzufriedenheit mit den derzeitigen Schulstrukturen, die in der Position 5 schließlich dazu führt, dass eine Reformation der Schule nicht für möglich gehalten und deshalb das Ende der formalen Bildung ausgerufen wird.

      Auch die Leitmedienwechsel-Reaktion 5 ist nicht erst in den letzten Jahren entstanden. Neil Selwyn nennt Ivan Illichs Deschooling Society

b5209 von 1971 und Perelmans School’s out von 1992 als prominente Vorreiter dieser Position
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. Während Selwyn bei Illich eher eine Kapitalismuskritik als Motivation sieht, ortet er heute auch neoliberale Überlegungen als Hintergrund des Rufs nach Abschaffung der Schule. Gemäß dieser Argumentation hat die Digitalisierung eine staatlich organisierte und finanzierte Schule überflüssig gemacht. Dank moderner Technologie könnten einerseits die Lernenden selbst Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen und andererseits kommerzielle Unternehmen die benötigten Lerninfrastrukturen anbieten. Spätestens hier zeigt sich, dass die Frage nach der richtigen Leitmedienwechsel-Reaktion weit über didaktisch-pädagogische Aspekte hinausgeht.

      Leitmedienwechsel-Reaktion 6: Wer redet noch von Bildung?

      Die radikalste Reaktionsstufe schließlich orientiert sich an der Singularitätstheorie, die unter anderem vom Informatiker und Futurologen Ray Kurzweil,

p691 prominent vertreten wird. Mit der Singularität
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ist der Zeitpunkt gemeint, an dem die künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertreffen wird. Kurzweil und andere prognostizieren die Singularität für die Zeit zwischen 2030 und 2040, da in dieser Zeit die reine Rechenkapazität eines Computers diejenige eines menschlichen Gehirns übertreffen wird, wenn das mooresche Gesetz (siehe Kapitel 1) bis dann weiter gültig bleibt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt werde es nicht mehr darum gehen, die Bildung von Menschen zu optimieren, sondern das Zusammenleben von Menschen mit intelligenten Robotern zu organisieren und in letzter Konsequenz der künstlichen Intelligenz zu erklären, warum die menschliche Intelligenz überhaupt noch nützlich sei
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. Der Posthumanismus benötigt