Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung. Kay Biesel

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Название Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung
Автор произведения Kay Biesel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783258480084



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Masse für Verfahren und Instrumente der Risiko- und Kindeswohleinschätzung. Dabei lassen sich zwei Typen unterscheiden: Konsensbasierte Verfahren und Instrumente operieren auf der Basis wissenschaftlichen Wissens und Erfahrungswissens zu den Risiken und Hintergründen von Vernachlässigung und Misshandlung und bereiten diese in Checklisten oder Diagnosebögen auf. Actuari-alistische Verfahren und Instrumente stützen sich auf empirische Studien, die Zusammenhänge zwischen Vernachlässigung und/oder Misshandlung einerseits und bestimmten Merkmalen bzw. Ereignissen andererseits gezeigt haben (Risikofaktoren). Solche Risikoinventare ermöglichen ein statistisch begründetes Urteil darüber, wie hoch die Wahrscheinlichkeit kindeswohlgefährdender Ereignisse in der Zukunft ist (niedriges, mittleres, hohes Risiko). Empirische Studien haben gezeigt, dass actuarialistische Verfahren und Instrumente eine deutlich bessere Voraussagevalidität erzielen als konsensbasierte Verfahren (Baird/Wagner 2000; Bastian 2012, S. 253). Gleichzeitig wurde zunehmend deutlich, dass Verfahren und Instrumente der Risiko- und Kindeswohleinschätzung konstruktionsbedingte, immanente Grenzen aufweisen. Eine sichere Vorhersage in Bezug auf den Einzelfall ermöglichen auch die besten Risikoinventare nicht (Goldbeck 2008). Aufgrund ihrer Konzentration auf einzelne, empirisch begründete Risikoindikatoren ist ihr Nutzen zur Erfassung der Komplexität von Lebenslagen begrenzt. Schliesslich geben Risikoinstrumente kaum Hinweise darauf, welche Interventionen oder Leistungen notwendig und geeignet sind, um in einem individuellen Fall das Kindeswohl sofort und nachhaltig zu sichern. Dazu müssen weitere und andere Informationen und Gesichtspunkte in die Urteilsbildung aufgenommen werden, die nur im Rahmen einer vertieften Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten des konkreten Falls gewonnen werden können (Schrapper 2008b; Schrapper 2008a). Weil Handlungen und Unterlassungen, die das Wohl von Kindern gefährden können, typischerweise mit den Wertvorstellungen, Bedeutungszuschreibungen und Erlebensweisen der beteiligten Akteure verbunden sind (z. B. Bilder guter Elternschaft, Erwartungen an das Kind, Erwartungen an die Wirksamkeit bestimmter Erziehungsmethoden), können sie nur in einem kommunikativen Prozess zugänglich werden und in das Gesamtbild einfliessen.

      Für die Klärung der zuletzt angesprochenen Fragen sind Abklärungen im Kindesschutz zwingend auf Vorgehensweisen aus dem rekonstruktiven Ansatz angewiesen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wissenschaftsbasierte Verfahren und Instrumente zur Sicherheits- und Risikoeinschätzung bei Abklärungen im Kindesschutz überflüssig wären. Sie können die Wahrnehmung gezielt auf solche Aspekte lenken, die sich nach vorliegendem Wissen als bedeutsam erwiesen haben, und können dabei helfen, kindeswohlgefährdende Zustände, Handlungen und/oder Unterlassungen differenziert und wissenschaftsbasiert wahrzunehmen, zu beschreiben und zu dokumentieren. Damit erweitern sie die Informationsbasis für die im Kontext von Kindeswohlabklärungen vorzunehmenden Einschätzungen und leisten einen spezifischen Beitrag zu einem Gesamtbild (vgl. Schone 2012, S. 271).

      Klassifikation – im Sinne einer Einordnung des Einzelfalls in allgemeine Kategorien – ist auch aus anderen Gründen unverzichtbar. Der Abklärungsprozess mündet in der Regel in einen Bericht mit Empfehlungen über die Notwendigkeit und Angemessenheit von Leistungen und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen. Typischerweise geht es dabei um die schlüssige Verknüpfung von anerkannten Bedarfslagen mit bekannten Leistungsarten – oder von Merkmalen einer Lebenssituation mit den rechtlich gerahmten Voraussetzungen für zivilrechtliche Massnahmen. Klassifikationen als «diskursabkürzende» Einordnung von Zuständen sind diesem Kontext unverzichtbar.

      Fachpersonen, die Kindeswohlabklärungen durchführen, sind insofern auf beide Ansätze angewiesen: auf rekonstruktive und auf klassifikatorische. Sie müssen einerseits Informationen über Beobachtbares zusammentragen und auswerten. Zugleich müssen sie im Gespräch und im Austausch die Sinn- und Lebenszusammenhänge von Eltern und Kindern erschliessen (Bilder guter Elternschaft, Erwartungen an das Kind, intergenerationale Aufträge; das Familienleben aus der Sicht des Kindes; soziale und materielle Problemlagen und Nöte), um zu begründeten Diagnosen kommen zu können. Sie müssen bei der Durchführung von Abklärungen im Kindesschutz demnach sowohl Verfahren und Instrumente zur Risiko- und Kindeswohleinschätzung als auch Methoden des Fallverstehens und der sozialen Diagnostik verwenden (Schrapper 2008b).

      Abklärende Fachpersonen müssen bei der Durchführung von Kindeswohlabklärungen im dialogisch-systemischen Sinn zwei gegensätzliche Positionen miteinander in Einklang bringen: Sie müssen einerseits verstehend auf Eltern und Kinder zugehen und mit ihnen den Dialog suchen. Andererseits müssen sie unter Verwendung von Verfahren und Instrumenten der Sicherheits- und Risikoeinschätzung auf Distanz zu Eltern und Kindern gehen (vgl. Schrapper 2012, S. 199). Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» will Fachpersonen dabei unterstützen, diese gegenläufigen Anforderungen in eine Balance zu bringen. Es unterstützt sie einerseits dabei, unterschiedliche Abklärungsinstrumente und -verfahren reflektiert, im Sinne ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit – und vor dem Hintergrund dessen, was in einem vorliegenden Fall klärungsbedürftig ist – einzusetzen. Andererseits unterstützt es sie dabei, mit Eltern und Kindern in den Dialog zu kommen, um möglichst viel Wissen über die Einbettung und Hintergründe von Erziehungs- und Beziehungsstilen in einer Familie hervorzubringen und dies mit den Familienmitgliedern zu teilen. Es unterstützt Fachpersonen bei einem strukturierten und reflektierten Vorgehen, welches dazu dient,

       systematisch Informationen über einen Fall von Kindeswohlabklärung zu sammeln und zu ordnen,

       mit unterschiedlichen Perspektiven auf den Fall zu blicken und

       Hypothesen über den Fall zu formulieren, zu prüfen und gegebenenfalls wieder zu verwerfen und durch plausiblere zu ersetzen (vgl. Schrapper 2012).

       Die vier Standards diagnostischen Fallverstehens

      Das Prozessmanual orientiert sich dabei an vier grundlegenden Standards diagnostischen Fallverstehens, die für das gleichrangige Zusammenspiel rekonstruktiver und klassifikatorischer Vorgehensweisen von Heiner (2011, S. 246f.) entwickelt wurden. Die (1) Partizipative Orientierung will Fachpersonen dazu anleiten, «dialogisch, aushandlungsorientiert und beteiligungsfördernd» (Heiner 2011, S. 246) vorzugehen und auch divergierende Ansichten offen anzusprechen; die (2) Sozialökologische Orientierung will gewährleisten, dass Fachpersonen das soziale Umfeld, die relevanten Infrastrukturen und Institutionen (inklusive Rolle und Auftrag der Fachpersonen), die materiellen Lebensbedingungen wie auch die situative Einbettung der Handlungsweisen der Klient/innen systematisch einbeziehen; die (3) Multiperspektivische Orientierung soll dazu dienen, eine möglichst komplexe Sicht von Problemlagen und Ressourcen zu erarbeiten, wobei biografische Dimensionen ebenso bedeutsam sein können wie beispielsweise die Wechselwirkungen von Handlungen verschiedener Familienmitglieder; die (4) Reflexive Orientierung bezieht sich auf das Vorgehen der Fachpersonen im Prozess des diagnostischen Fallverstehens; sie soll gewährleisten, dass Einschätzungen und Befunde systematisch überprüft und wenn nötig korrigiert werden. Die reflexive Orientierung umfasst darüber hinaus die fortlaufende, selbstkritische Reflexion des Vorgehens im diagnostischen Prozess.

      Fachpersonen, die Kindeswohlabklärungen nach dem «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» durchführen, gehen achtsam und fehleroffen vor. Sie gestalten Abklärungsprozesse respektvoll, aushandlungsorientiert und beteiligungsfördernd. Sie haben ein multifaktorielles, mehrgenerationales und interaktionsbezogenes Problemverständnis. Ihre Arbeitsweise ist partizipativ, multiperspektivisch und reflexiv. Ihr Anliegen ist es, in der Begegnung und im Austausch mit Eltern und Kindern sowie weiteren Fachpersonen vor dem Hintergrund eines dialogisch-systemischen Erkenntnis- und Interventionsmodells herauszufinden, was das Problem bzw. der Fall ist. Ihr Anliegen ist es, mit Eltern und Kindern sowie weiteren Fachpersonen wahrzunehmen, zu erkunden und zu verstehen, was Ursachen und Folgen von kindeswohlgefährdenden Situationen sind oder waren, um auf dieser Basis einen gemeinsamen Plan zur Förderung und Sicherung des Kindeswohls zu entwickeln und zu realisieren. Für sie sind Einschätzdimensionen von Relevanz, denen sie in verschiedenen Schlüsselprozessen dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung unter Verwendung von Verfahren und Instrumenten der Risiko- und Kindeswohleinschätzung sowie Methoden des Fallverstehens und der sozialen Diagnostik Aufmerksamkeit schenken:

      2.2 Schlüsselprozesse dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung im Überblick