Führungskräfte-Entwicklung: Worüber man in der Praxis ungern spricht. Rolf Th. Stiefel

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müssen durch Führungskräfte »exekutiert« werden und jede dieser systemexekutierenden Führungskräfte hat eine spezifische Situation zu bewältigen (einschließlich der eigenen individuellen Befindlichkeit zu dem jeweils einzusetzenden System). Wenn man sich der Frage entzieht, was mit dem Handling von Systemen alles vor Ort aufgerissen wird, kann man auch weiterhin in der durch Systeme geregelten Welt der entwicklungsorientierten Führung leben. FKE-Arbeit durch Systeme verlangt eine gehörige Portion Naivität und Einfältigkeit, die auch – oder speziell – bei jenen großbetrieblichen FKE-lern vorhanden ist, die sich bereits etwas an Karriere-»Lametta« in ihren Unternehmen »ersessen« haben.

      Es gibt in Großunternehmen den unerschütterlichen Glauben, dass ein langjähriger erfahrener FKE-Leiter dem Unternehmen eine hohe Qualität der Entwicklungsarbeit gleichsam garantiert, die es zur Sicherung seiner Wettbewerbsposition braucht. Langjährige Erfahrung in der Leiterposition wird mit guter FKE-Arbeit gleichgesetzt, zumal man dem langjährigen Leiter automatisch zuschreibt, dass er sich als Fachmann für FKE so auskennt, dass dem Unternehmen »state-of-the-art«-FKE geboten wird.

      Der Alternativmythos meiner reflektierten Erfahrungen stützt sich zunächst auf die bekannte allgemeine Tatsache, dass eine Zunahme der Verweildauer das Innovationsverhalten des langjährigen FKE-Leiters reduziert. Ich wiederhole hier noch einmal die entsprechenden empirischen Befunde einer klassischen Studie von KATZ (1982, S. 165 f.):

      • Zunehmende Unbeweglichkeit des Positionsinhabers

      • Verpflichtung zur Einhaltung von bestehenden Vorgehensweisen

      • Zunehmendes Sich-Isolieren und Sperren von externen Informationen

      • Zunehmende Kommunikation mit eher gleichartig Denkenden

      • Zunehmende selektive Wahrnehmung

      • Zunehmendes Sich-Abstützen auf die eigene Erfahrung

      Daneben gibt es noch spezielle Aspekte, die den Alternativmythos stützen, dass der langjährige FKE-Leiter ein Garant für obsolete Entwicklungsarbeit ist:

      • Der langjährige FKE-Leiter ist Teil des »Orchesters der gegenwärtig Mächtigen«. Bei seinen Entwicklungsentscheidungen orientiert er sich eher an den Erwartungen seiner etablierten Kollegen und kaum an der Weiterentwicklung seiner Fachdisziplin, die er ohnehin nur noch selektiv wahrnimmt.

      • Da es keine einheitlichen fachwissenschaftlichen Standards gibt, was beispielsweise ein gutes FKE-System auszeichnet, kann ein langjähriger FKE-Leiter immer seine Art der Entwicklungsarbeit rechtfertigen.

      • Die Arbeit eines langjährigen FKE-Leiters wird von den gegenwärtig Mächtigen in den oberen Führungsetagen nicht besonders hinterfragt, solange es keine außerordentlich massiven unerwünschten Vorkommnisse gibt und solange man seine eigenen Erwartungen an seine Seilschaft-Kandidaten erfüllt sieht.

      • Der langjährige FKE-Leiter hat sich mit diversen externen Wertschätzungs-Indikatoren (Verbände etc.) gegen Kritik immunisiert, so dass sich gut artikulierende arrivierte »FKE-Schwätzer« ohne Mühe gegenüber professioneller Obsoleszenz-Kritik zur Wehr setzen können.

      • Der langjährige FKE-Leiter sucht sich unter seinen externen Helfern »Stabilisatoren« und keine »Challenger«, die sein über Jahre aufgebautes FKE-Empire ins Wanken bringen könnten. Damit wird der vorhandene »FKE-Muff« immer weiter kultiviert – und die scheinbar so gute FKE-Arbeit zementiert.

      Ein weiterer besonderer Mythos in der großbetrieblichen FKE ist ihre markante diagnostische Ausprägung und die damit einhergehende Assessment-Lastigkeit, die man mit progressiver FKE gleichsetzt. Dieser Mythos ist in besonderem Maße auch bei dem langjährigen FKE-Leiter anzutreffen, weil er weiß, dass mit diagnostischen Systemen im weiteren Sinne eine Machtposition etabliert wird. So kann er einen wichtigen Beitrag zur Machtstabilisierung der gegenwärtigen Positionsinhaber liefern – was ihn dann umgekehrt dagegen schützt, dass man seine FKE-Arbeit über Gebühr hinterfragt. Der Glaube, mit Manager-Audits, Potentialeinschätzungs-Systemen oder allen möglichen Formen des Verhaltens-Feedbacks besonders progressive FKE-Arbeit zu betreiben, wird durch das vorherrschende Weltbild gestützt, dass nur durch Messen oder Zählen richtiges Management betrieben werden kann.

      Der Alternativmythos vermittelt bei diesem Punkt eine andere Wirklichkeit. Die starke Betonung des »Diagnostischen« geht auf Kosten der eigentlichen Entwicklungsinnovationen, die in der großbetrieblichen Förderungsarbeit eher unterentwickelt sind. Gerade zukunftssichernde Förderungssysteme im Management haben wenig im Teilsystem des Lernens und der Entwicklung zu bieten, wenn man hinter die »Etiketten« der einzelnen Maßnahmen schaut. Zudem führt der ausgeprägte Glaube an das »Diagnostische« als Merkmal dazu, dass man mit der FKE vorhandene Humanressourcen nicht entwickelt und für das Unternehmen wertvoller macht, sondern dass lediglich der Wert (oder Schein-Wert) der Humanressourcen transparent gemacht wird.

      Der Mythos, dass ein ausgeprägtes diagnostisches Arbeiten in der FKE für eine besonders gute FKE steht, wird durch die in diesem Kontext gepflegte Psycho-Fachsprache unterstrichen, die sich in den Audit-Gutachten, AC- oder Feedback-Berichten in imposanten ›Beeindruckungsritualen‹ manifestiert. Zieht man den Schleier des gepflegten FKE-Mythos weg, bleibt von richtiger Entwicklungsarbeit wenig übrig – auch deshalb, weil großbetriebliche FKE-ler Psychologen und keine Andragogen sind.

      Sowohl der langjährige FKE-Verantwortliche als auch der Glaube an den Mythos des Diagnostischen als Qualitätsmerkmale der großbetrieblichen FKE und FKE-Arbeit konnten die Jahre überstehen und waren nie in Gefahr, durch externe Beratergruppen »vorgeführt« zu werden. Man schätzte im »Orchester der Mächtigen« die gute und vertraute Zusammenarbeit in der FKE. Zum zweiten gehört die Konzipierung von neuen unternehmensspezifischen FKE-Systemen nicht zu den Produkten von großen Beratergruppen, weil dieses Arbeitsfeld nicht für den Einsatz von jungen Berater-»monkeys« zur Exekution ihrer Manuals taugt.

      Ein weiterer Mythos, der ein bezeichnendes Bild der kultivierten FKE-Wirklichkeit vermittelt:

      Als großbetrieblicher FKE-ler hat man sich »standesgemäß« vernetzt und verfolgt in der Entwicklungsarbeit die von den anderen in diesen Netzwerkstrukturen geteilten und für gut befundenen Konzepte. Der Mythos heißt beispielsweise: Wenn alle FKE-Leiter in einem standesgemäßen Erfahrungsaustauschkreis eine Company University oder Corporate Business School als innovativ erachten, dann muss man selbst auch eine derartige Einrichtung aufbauen, um eine progressive FKE-Arbeit vorzuweisen. Und wenn dann noch ein entsprechender Verband die »Erkenntnisse und Weisheiten« der sich standesgemäß Vernetzenden aufgreift und als neuen Benchmark in der FKE postuliert, macht man sich unangreifbar.

      Der Alternativmythos enttarnt dieses »Sich-gegenseitig-Bestätigen« der arrivierten Mittelmäßigkeit aus großbetrieblichen FKE-Abteilungen und unterstreicht, dass die scheinbar taktgebenden Netzwerkstrukturen einem einzelnen »innovativen Geist« keine Chancen geben. Man arrangiert sich mit dem »mainstream« der veröffentlichten Meinungen und referenziert seine FKE-Arbeit später mit dem anderer bekannter Unternehmen, die in den Erfahrungsaustauschkreisen vertreten waren.

      Wenn man mit seiner Arbeit auf andere FKE-Abteilungen mit gleicher Ausrichtung verweisen kann, leitet man aus dieser Situation fälschlicherweise Qualität ab. In Wahrheit steckt hinter diesem Mythos der großbetrieblichen FKE eine biedere Rückversicherungsmentalität von Durchschnitts-Performern, die es zum FKE-Repräsentanten ihrer Unternehmen gebracht haben.

      Ein weiterer Mythos der großbetrieblichen FKE: Wenn man als Vertreter eines bekannten Unternehmens nur häufig genug in der Öffentlichkeit auftritt und auf Tagungen und Konferenzen FKE-Konzepte präsentiert, gilt dies als besonderer Qualitätsindikator der FKE-Arbeit. Würde man denn von den Veranstaltern derartiger Rodeos nachgefragt werden, wenn man nicht eine »leading edge-FKE« vertreten würde? Schließlich befragen die Veranstalter dieser Rodeos doch auch ihre Teilnehmer über die vorgetragene Qualität.

      Der Alternativmythos geht mit diesem gelebten »Qualitätsmythos der großbetrieblichen FKE« arg ins Gericht:

      • Die Veranstalter von Großveranstaltungen sind beruflich aufgrund ihrer Erfahrungen und Kompetenzen nicht in der Lage,