Название | Schule und Bildung aus soziologischer Perspektive (E-Book) |
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Автор произведения | Regina Scherrer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783035506914 |
2. Die Bildung muß auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muß zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein. […]» (Vereinte Nationen 1948, S. 5 f.)
Man findet hier in hoher Verdichtung formuliert, was die europäische Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert in Bezug auf Bildung hinterlassen hat – im zweiten Absatz die grossen Hoffnungen, ja Erwartungen der Aufklärung bezüglich der positiven Auswirkungen von Bildungsprozessen; im ersten eine Umschreibung dessen, was sich in Europa während der vorangegangenen eineinhalb Jahrhunderte bezüglich des Zugangs zu Bildung schon mehr oder weniger eingebürgert hatte.
Selbstredend war der Artikel 26 der AEMR, wie andere Artikel auch, eine noch recht unverbindliche Absichtserklärung, an der sich die Staaten und namentlich die Vereinten Nationen orientieren konnten, deren Nichtbefolgung jedoch keine grösseren Folgen hatte. Es gab und gibt bis heute keine Weltregierung, welche diese Leitlinie mit Staatsgewalt durchsetzen könnte. Immerhin aber, und darin bestand das Neue, formulierte die AEMR so etwas wie eine Erwartung, welche die Weltgemeinschaft und nicht mehr bloss einzelne Länder oder Ländergruppen an die Staaten richteten, also gleichsam ein Signal, das von höherer Warte ausgesendet wurde. Das Signal beinhaltete in seiner Gesamtheit eine Vorstellung davon, was eine Nation zu tun hat, um von der Weltgemeinschaft als ‹anständiger›, legitimer Nationalstaat anerkannt zu werden. Darüber hinaus bot Artikel 26 der AEMR der Weltorganisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) Rahmenbedingungen, auf der sie ihre Tätigkeit entfalten konnte. Sie tat dies zunächst dadurch, dass sie die Bildungsentwicklung in den Mitgliedstaaten unterstützte sowie zwischenstaatliche Kontakte und Austausch förderte.
Es dauerte noch ein halbes Jahrhundert, bis die Umsetzung des noch unverbindlichen Artikels 26 auf globaler Ebene ernsthaft in Angriff genommen wurde. 1990 verständigten sich die Regierungen eines Grossteils der UNESCO-Mitgliedländer anlässlich der World Conference on «Education for All» in Jomtien (Thailand) im Grundsatz darauf, ein Projekt «Bildung für Alle» in Angriff zu nehmen. Im Jahr 2000, also zehn Jahre später, machte man sich an die konkrete Umsetzung. Vertreter der nationalen Ministerien auf der einen Seite und Repräsentanten der grossen Kreditinstitute (Weltbank, Internationaler Währungsfonds) sowie mehrere Organisationen der UNO und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen auf der anderen trafen sich in Dakar (Senegal) zum World Forum on Education for All und arbeiteten eine Declaration on Education for All (EFA) aus. Dabei verständigte man sich auf eine Reihe recht präzis gefasster Ziele:
«Wir verpflichten uns hiermit gemeinsam, die folgenden Ziele zu erreichen:
•Vorschulbetreuung und -erziehung auszubauen und zu verbessern, besonders für die schwächsten und am meisten benachteiligten Kinder;
•dafür zu sorgen, dass bis 2015 alle Kinder – besonders Mädchen, Kinder in schwierigen Lebensumständen und ethnische Minoritäten – Zugang zu kostenloser, obligatorischer Primarschulbildung von guter Qualität haben und diese abschliessen können;
•sicherzustellen, dass den Lernbedürfnissen aller jungen und erwachsenen Personen durch den Zugang zu geeigneten Lernmöglichkeiten und ‹life skill›Programmen Rechnung getragen wird;
•bis 2015 die Alphabetisierungsrate der erwachsenen Bevölkerung, besonders der Frauen, um 50 Prozent zu verbessern und allen Erwachsenen Zugang zu Grund- und Weiterbildung zu bieten;
•Ungleichheiten zwischen Mädchen und Jungen bezüglich Primar- und Sekundarschulbildung bis 2005 auszumerzen und bis 2015 völlige Gleichstellung zu erreichen; dies mit speziellem Augenmerk auf den vollen und gleichberechtigten Zugang von Mädchen zu einer Grundbildung von guter Qualität;
•Bildungsqualität in allen Aspekten zu verbessern und dabei einen hohen Standard (excellence) zu erreichen, sodass anerkannte und messbare Resultate, besonders bezüglich literacy, numeracy und life skills, von allen erreicht werden.» (UNESCO, 2000; Übers. M.R)
Die Erklärung enthält also nicht nur Aussagen darüber, welche inhaltlichen Ziele erreicht werden sollen; sie macht auch recht präzise Angaben darüber, in welchem Zeitraum dies ganz oder bis zu einem bestimmten Grad der Fall sein soll.
Es sind sehr ambitiöse Ziele, die da anvisiert werden, und ihre fristgerechte Umsetzung erscheint zumindest als fraglich. Dennoch ist das Abkommen auch in Bezug auf die Umsetzung solcher Projekte wegweisend:
Bemerkenswert ist zunächst, dass es sich nicht einfach um eine Vereinbarung zwischen nationalen Regierungen und Ministerien handelt, sondern auch die möglichen Geldgeber eingebunden werden. Man verpflichtet sich auf beiden Seiten: die Regierungen zur Durchführung einer Bildungspolitik, die in Richtung der gesteckten Ziele weist, die Kreditinstitute zur finanziellen Unterstützung einer solchen Politik.
Interessant ist weiterhin der Versuch, die Nachhaltigkeit des Abkommens mithilfe moderner Managementinstrumente zu unterstützen. Mit der Benennung von Fristen («bis 2015») werden gleichsam Benchmarks gesetzt. Und der Grad der Zielerreichung wird nicht erst am Ende der vereinbarten Periode evaluiert, sondern im Sinne eines permanenten Monitorings zu erfassen versucht. Eine eigene Abteilung bei der UNESCO in Paris trägt quantitative und qualitative Informationen aus den einzelnen Ländern zusammen und verarbeitet sie zu umfangreichen Berichten, die sich nicht nur an eine kleine Zahl von Spezialisten richten, sondern relativ breit gestreut werden. Ein erster dieser Berichte wurde bereits 2002, also gerade einmal zwei Jahre nach dem Abschluss des Abkommens, unter dem Titel Education for All. Is the World on Track? (Unesco 2002) veröffentlicht. Die breite Streuung dieser Berichte hat auch zur Folge, dass eine breitere Öffentlichkeit davon Kenntnis erhält, welche Länder sich in Richtung der im Abkommen definierten Ziele bewegen und welche nicht; oder direkter formuliert, welche Regierungen tatsächlich eine damit zu vereinbarende Politik verfolgen oder die Verpflichtung, die sie eingegangen sind, vernachlässigen. Die Vertragspartner des EFA-Abkommens stehen somit unter Beobachtung und sehen sich einem Erwartungsdruck ausgesetzt, ihren Verpflichtungen auch tatsächlich nachzukommen. Dass dies in Wirklichkeit nicht überall geschehen ist und die gesteckten Ziele nur zum Teil erreicht sein werden, geht aus einer Skizze für den Monitoring-Bericht für 2015 hervor, der zahlreiche Fortschritte, aber auch erhebliche Defizite in Bezug auf alle sechs Ziele ausweisen wird (UNESCO 2014). In Reaktion darauf hat UNESCO denn auch der 37. Generalversammlung eine Agenda für die Zeit ab 2015 präsentiert (UNESCO 2015).
Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass die eben geschilderten Vorgänge zwar zu einer globalen Institutionalisierung schulischer Bildung als solcher führen, dass aber die konkrete Ausgestaltung des Schulwesens der Länder völlig unterschiedlich aussieht, auch weil die Schule je nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Situation der Länder ganz anderen Zwecken und Bedürfnissen dienen muss. In der Tat lassen sich zwischen den Ländern zahlreiche Unterschiede beobachten. Diese beruhen jedoch oft weniger auf der gegenwärtigen Situation, sondern wurzeln eher in einer je besonderen Entwicklungsgeschichte, die den weiteren Entwicklungsverlauf geprägt und kanalisiert hat. Zu beobachten ist aber auch eine erstaunliche Ähnlichkeit der Art und Weise, wie das Bildungswesen organisiert ist, also etwa in der Art der Unterteilung in Schulstufen und der Anzahl Jahre, die für das Absolvieren einer dieser Stufen vorgesehen sind.
Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist gerade auch ein Vergleich der Bildungsziele und -inhalte. Denn gerade in ihnen, so sollte man erwarten, müssten sich die je spezifischen nationalen Bedürfnisse in besonders ausgeprägtem Masse äussern. Entgegen dieser Erwartung weisen jedoch die formalen Curricula, also die Aufteilung dieser Inhalte in Schulfächer, eine erstaunliche und über das 20. Jahrhundert hinweg zunehmende Ähnlichkeit auf, wie eine 1992 erschienene Studie (Meyer et al. 1992) und eine Reihe von Nachfolgeuntersuchungen haben zeigen können.24
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