Über London und Neuseeland nach Eggiwil. Simone Müller

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Название Über London und Neuseeland nach Eggiwil
Автор произведения Simone Müller
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783039198962



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Luftschiff | HIER UND JETZT Über London und Neuseeland nach Eggiwil – Die Geschichte der Claire Parkes-Bärfuss – Simone Müller – HIER UND JETZT

      INHALT

       I

       ZWINGEN, SURSEE 1913–1928

       Ein weisser Stoff mit winzig kleinen Blümchen

      1 Erzählen

      2 Lang her… lang

      3 Mariazell

      4 Bananen

      5 Frau Barfuss

       II

       LUZERN, GRAUBÜNDEN, TESSIN, BERNER OBERLAND, ZÜRICH, GENF, BASEL, PARIS 1928–1948

       Die Fischzähne ritzten die Haut nur leicht

      6 Das Wiesel

      7 Von der Bratpfanne ins Feuer

      8 Dienen

      9 Dora – und Imelda

      10 Wir waren alle so paff

      11 Luftlinie 27,3 Kilometer

      12 Die Forelle

      13 Zum Barfussgehen ist die Zeit vorüber

      14 Klara wird Claire

      15 Ganz zuoberst auf dem Eiffelturm

       III

       LONDON, NEUSEELAND 1948–1964

       Ein schönes heiteres Grün

      16 Der Hut

      17 Fasane und Rebhühner

      18 Ein halber Löffel Konfitüre

      19 Bethnal Green

      20 Good morning

      21 Alan

      22 Der tote König

      23 Also gut

      24 Im Gemüsegarten habe ich Hochbetrieb

      25 Der fliegende Fisch

       IV

       SCHWEIZ, LONDON 1964–1985

       In diesem Traum war unsere Familie zusammen, und Stanley war auch dabei

      26 Man muss dort richtig arbeiten

      27 Diese Parkes’

      28 Jessie

      29 Drei Flaschen

      30 Am offenen Feuer Kastanien rösten

      31 Gipsy Road

      32 Stanley und Claire

      33 Ein Traum

       V

       LONDON, STÜSSLINGEN, SCHÖNENWERD, STURRY, EGGIWIL 1985–2015

       Wie die Zugvögel nur wissen wohin?

      34 Tauben

      35 Vergessen und Erinnern

      36 Frau Wendelin

      37 Kein Zuhause gefunden

      38 Eine zierliche Gestalt

      39 3537 Eggiwil

      40 100

       Epilog

       ANHANG

       Übersetzung der englischen Ausdrücke

       Notizen 1977–1982

       Bildlegenden

I ZWINGEN, SURSEE
1 ERZÄHLEN

      «Ich habe einmal angefangen, alles aufzuschreiben. Es ging dann verloren. Ein paar Seiten hat der Hund zerrissen.»

      Geblieben ist die Fähigkeit zu erzählen. Die Stimme der Erzählerin ist tief und klar. Das Gesicht stark zerfurcht, die Augen fast blind. Die Erinnerung geht weit zurück, ins Jahr 1916; zu Alcide, dem schlafenden Bruder.

      Das Haus der Familie Bärfuss steht ausserhalb von Zwingen, nahe beim Wald. Alcide liegt in einer kleinen Kammer auf einem hohen Holzbett und schläft. Er ist dreizehn Jahre älter als Klara, sie kennt den Bruder nur flüchtig. Er lebt schon lange nicht mehr zu Hause. Jetzt ist er endlich da, und die Mädchen, Klara und ihre Schwestern, wollen mit ihm spielen. Sie klettern zu ihm aufs Bett, schütteln ihn. Sie hüpfen auf dem Bett; lachen. «Komm, du musst erwachen, du musst mit uns spielen.»

      Draussen auf dem Vorplatz haben sich Frauen aus dem Dorf versammelt, sie beten und trinken Kaffee. Fröhliche Kinderstimmen dringen aus Alcides Zimmer. Sophie Bärfuss, die Mutter, geht ins Haus. Sie findet die Mädchen, nimmt sie vom Bett, sagt: «Alcide schläft. Ihr müsst ihn schlafen lassen.» Klara ist drei Jahre alt. Noch entzieht sich das Wort «Tod» ihrer kindlichen Vorstellungskraft. Erst später wird sie verstehen, dass der Bruder nicht geschlafen hat, dass Alcide bereits tot war, als sie mit den Schwestern auf seinem Bett herumhüpfte.

      97 Jahre später, im Februar 2013, zieht Claire noch einmal um. Von Sturry in der englischen Grafschaft Kent nach Eggiwil im Berner Emmental. Sie bringt zwei Koffer und zwei Taschen mit sowie eine alte Hermes Baby. Der eine Koffer, blau mit goldenen Schnallen, ist von Neuseeland. Auf dem andern steht der Name des Herstellers: Rochini, London. Die Schreibmaschine kann sie nicht mehr benutzen. Deshalb erzählt sie nun ihre Geschichte.

      Zum Ritual des Erzählens gehört die Zubereitung des Kaffees. Ihre Bewegungen sind langsam und sicher. Sie füllt den weissen Kaldor mit Wasser und holt den Nescafé aus dem Schrank. Wenn das Wasser kocht, nimmt sie den Griff des Kaldors fest in die eine Hand, tastet sich mit der andern dem Herd entlang bis zur Tasse. Sie hält den Kaldor hoch über die Tasse. Giesst das heisse Wasser auf das Pulver. Ahnt mehr als dass sie sieht, wo die Tasse steht. «Milch?» Sie giesst Milch ein. Lässt die Tasse stehen, tastet nach dem Stock. Geht langsam die paar Schritte zu ihrem Stuhl. Setzt sich, beginnt zu erzählen.

      Das war schon im November 2012 so, als ich Claire Parkes-Bärfuss in Sturry bei Canterbury kennenlernte. Sie hat Kaffee gemacht und hat angefangen zu erzählen. Mit der ihr eigenen Klarheit, in dieser ihr eigenen Sprache. Schweizerdeutsch – aber wenn ihr das englische Wort zuerst in den Sinn kommt, sagt sie es auf Englisch. Viele Geschichten habe ich mehrmals gehört. Aber immer genau gleich. Auch wenn ein Abstand von zwei Jahren dazwischen liegt, braucht Frau Parkes dieselben Worte, wenn sie ein Ereignis noch einmal schildert.

      Frau Parkes? Wir sind im Gespräch bei «Frau Parkes» geblieben. Frau Parkes, und Frau Müller. Das war nicht Absicht, aber es hat sich so ergeben. Claire geht, wenn zu viel Nähe entsteht; sie ist oft gegangen in ihrem langen Leben. Frau Parkes ist geblieben. Hat einfach immer weitererzählt.

      Sie ist eine ausserordentliche Erzählerin mit einem ungewöhnlichen Erinnerungsvermögen. «Fisher», sagt Claire. Fisher