Geist & Leben 1/2017. Группа авторов

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Название Geist & Leben 1/2017
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063184



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Kein Wunder, dass eine bekannte Schweizer Sterbehilfeorganisation sich den Namen Dignitas (Würde) zugelegt hat. Ein Beispiel für dieses Verständnis von Würde gibt Hans Küng. Im dritten Band seiner Autobiografie berichtet er (inzwischen über 85 Jahre alt), dass er an Parkinson erkrankt ist und ihm Erblindung droht. Dazu bemerkt er: „Ein Gelehrter, der nicht mehr schreiben und lesen kann? Was dann? Der Mensch hat ein Recht zu sterben, wenn er keine Hoffnung mehr sieht auf ein nach seinem ureigenen Verständnis humanes Weiterleben.“4 Offensichtlich ist das humane Leben für Küng und viele andere Menschen heute nicht mehr gegeben, wenn sie nichts mehr in ihrem gewohnten Metier leisten können, wenn ihre Kräfte deutlich nachlassen und sie obendrein mehr und mehr von anderen abhängig werden. Humanes, menschenwürdiges Leben als Leben weithin in Gesundheit und ohne größere Einschränkungen – ein enger und elitärer Begriff von Würde! Demnach ist das Leben sehr vieler Älterer, Kranker oder Behinderter nicht menschenwürdig. Es wundert darum nicht, dass nach einer Umfrage etwa 50 % unserer Bevölkerung den assistierten Suizid einem Alter vorziehen, in dem sie mehr oder weniger bettlägerig sind.

      In früheren Zeiten haben Christen bewusst eine ars moriendi kultiviert, die „Kunst des guten Sterbens“: Sie bedeutete, gut vorbereitet und im Kreis geliebter Menschen, die für einen beten, zu sterben. Zusätzlich bräuchten wir heute eine ars senescendi, eine „Kunst des Altwerdens“. Diese dürfte bewusst nicht am jeweiligen Grad der Leistungsfähigkeit, der Unabhängigkeit und der Selbstbestimmungsmöglichkeit ihr Maß nehmen. Sie müsste sich vielmehr an einem Menschenbild orientieren, das die Würde jedes Menschen begründet sieht in dessen Gottebenbildlichkeit: Er oder sie ist und bleibt in allen Lebensphasen ein geliebtes und wertgeschätztes Kind Gottes, dem er oder sie das eigene Leben als Leihgabe verdankt, um es ihm am Ende zurückzugeben (aber nicht in einem Akt der Vernichtung).5

      Häresie des Leistenmüssens

      Eine Kunst des Altwerdens hat einen zentralen Gesichtspunkt: das Selbstwertgefühl, zumal wenn die vierte Lebensphase spürbar näher rückt oder man schon voll in ihr steht. Wovon nährt sich mein Selbstwertgefühl, wenn ich nicht mehr (wie viele Jahre lang) so arbeiten und so viel leisten kann? Wenn ich nicht mehr so gefragt bin wie früher und ich auch keine besondere Verantwortung mehr übernehmen kann?

      Hier könnte uns die Aktualisierung einer Bibelstelle inspirieren, nämlich eine Dämonenaustreibung Jesu im Neuen Testament: Welche Dämonen würde Jesus hier bei uns, in unseren Gemeinschaften austreiben? Einen vor allem, den Dämon Arbeit! Dreht sich bei uns nicht doch fast alles um ihn? Auch Ordensleute sind Kinder ihrer Zeit. Und da gilt v.a. das Motto: „Man ist, was man leistet.“ Es geht dabei keineswegs darum, unsere wissenschaftliche oder pastorale Arbeit, unseren Willen, etwas Gutes leisten zu wollen, generell zu dämonisieren. Arbeit undLeistung sind jedoch oft so dominant, dass wir uns fast zur Gänze von daher definieren und unser Selbstwertgefühl beziehen – und darin liegt das „Dämonische“. Anderes, zumindest genau so Wichtiges, wenn nicht Wichtigeres, verkümmert allmählich darunter: zwischenmenschliche Beziehungen; die Zeit und die Aufmerksamkeit, die wir für die Pflege unserer Beziehung zu Gott und zu unserem Nächsten, der uns braucht, aufwenden; der ganze musisch-kulturelle Bereich unserer Freizeit (Lektüre, Musik, Kunst etc.); die notwendige Sorge für Erholung, entspannende Bewegung etc. Mit der „Häresie des Leistenmüssens“ (H. Rotter SJ) bleibt so vieles auf der Strecke!

      Darum ist die Frage umso bedeutsamer: Wie reagiere ich als Christ darauf, wenn Arbeit und Leistung (beruflich, privat, ehrenamtlich) alters- oder krankheitsbedingt nicht mehr so im Vordergrund stehen können? Wozu bin ich eigentlich noch nütze? Wo kann man mich noch brauchen, – im Maße meiner Kräfte, ohne mich zu überfordern?

      Ein Jesuswort eröffnet hier eine Perspektive: „Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst“ (Joh 21,18). Alt werden in Würde – das geht nicht ohne um das Vertrauen zu beten und zu ringen, dass „der andere“ eben Jesus ist, die menschliche Gestalt der Liebe Gottes, die uns gürten und führen wird, wohin wir nicht unbedingt von uns selbst aus gehen würden.

      Nehmen wir noch andere Jesusworte hinzu – etwa die Abschiedsreden (Joh 14–17), wo auch er Abschied nimmt von seinem irdischen Wirken und seinen Freunden; das Fruchtbringen der Reben am Weinstock (Joh 15,1–17); das Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt (Joh12,25f.) –, so zeigt sich: Nicht Leistung und Erfolg stehen bei Jesus im Vordergrund, sondern das Fruchtbringen für das Reich Gottes; und das ist unabhängig von Gesundheit und Alter. Pater Arrupe, der frühere Generalobere der Gesellschaft Jesu, lebte dies in seiner langen, schweren Krankheit vor. Am 3. September 1983 richtete er an die versammelte Generalkongregation des Ordens folgende Botschaft: „Liebe Patres, wie sehr hätte ich mir gewünscht, mich für diese Begegnung mit Ihnen in besserer körperlicher Verfassung zu befinden. Wie Sie sehen, kann ich nicht einmal direkt zu Ihnen sprechen. Aber meine Assistenten haben verstanden, was ich jedem von Ihnen sagen will. Mehr denn je befinde ich mich jetzt in Gottes Hand. Das habe ich mir mein ganzes Leben lang von Jugend auf gewünscht. Nun gibt es allerdings einen Unterschied: Heute liegt die Initiative ganz bei Gott. Mich so völlig in seinen Händen zu wissen und zu fühlen, ist wahrhaftig eine tiefe geistliche Erfahrung“.6

      Wie kann man zu einer solchen Einstellung gelangen? Denn sie ist auch Pater Arrupe nicht einfach in den Schoß gefallen. Was kann man in der langen oder kurzen Zeit davor tun, um allmählich in eine solche Haltung hineinzuwachsen? Ich nenne drei Verhaltensweisen. Sie klingen selbstverständlich, ja geradezu banal; werden sie jedoch real eingefordert, sind sie gar nicht so einfach.

      Die eigene Situation wahrnehmen und annehmen

      In der Tat, es ist nicht einfach, die eigene Lage mit all den zunehmenden Einschränkungen und der wachsenden Hilfsbedürftigkeit Schritt für Schritt und realistisch wahrzunehmen und sie anzunehmen. Man wäre vielleicht geneigt, die Si-tuation zu überspielen und so zu tun, als ob es mit größerer Willenskraft in etwa so weitergehen könnte wie bisher („Reiß dich doch zusammen!“). Man wäre vielleicht geneigt, der Versuchung zur Verzagtheit und Mutlosigkeit nachzugeben, zumal in Zeiten schwerer Krankheit oder sich leicht resigniert mit der Situation abzufinden („Ich muss es halt so nehmen, es bleibt mir eh nichts anderes übrig“). Demgegenüber ist das bewusste Annehmen, das Ja-Sagen ein entscheidendes Mehr. Warum? Die Kirchenväter helfen da weiter. Sie haben einst in Bezug auf die Menschwerdung des Wortes Gottes in Jesus Christus das Wort geprägt: „Was nicht angenommen ist, kann nicht erlöst, nicht geheilt werden.“ Die Väter der Kirche meinten damit, dass der Mensch in seiner Sündigkeit nur deswegen erlöst, zu seiner wahren Menschlichkeit befreit werden konnte, weil das ewige Wort Gottes in Jesus ganz und gar, durch und durch Mensch geworden ist, weil er unser Menschsein mit allen Konsequenzen (Krankheiten, Scheitern, Sterben) angenommen und durchgestanden hat. C.G. Jung hat dieses Wort in die Psychologie übertragen – mit großem Erfolg. Dass unsere Seele auch in den schwierigsten Phasen heil bleibt oder wird, hängt eben von dem Maß und der Wahrhaftigkeit unseres Annehmens ab.

      Dieses Annehmen zeigt und bewährt sich auch nach außen in kleinen Dingen, z.B. in der Bereitschaft, sich helfen zu lassen und damit offen einzugestehen: „Ich schaffe es nicht mehr allein.“ Das kann ganz schön schwierig sein, nicht erst im Alter! Wer bittet schon gerne um Hilfe, zumal wenn es nicht so vertraute Menschen sind? Aber zur Würde im Altwerden gehört auch eine gute Portion Demut.

      Loslassen

      Der Kirchenhistoriker P. Klaus Schatz SJ sagte einmal ironisch, als sein Pensionsalter langsam näher rückte: „Dass wir einmal sterben müssen, damit wird man sich abfinden, das trifft ja alle. Aber dass es nach einem in seinem Fachgebiet weiter geht, und möglicherweise noch besser, das ist ein schwer zu ertragender Gedanke!“ Das Loslassen von Verantwortung und von Tätigkeiten (beruflichen oder ehrenamtlichen), die Jahre, ja mitunter ahrzehntelang gut gelungen sind, an denen das Herz hängt, die mir Ansehen bei den Menschen eingebracht haben, ist eine gewaltige menschliche und geistliche Herausforderung. Dieses Sich-Zurücknehmen, um anderen Raum und Chancen zu geben, ist ein gutes Übungsfeld für das umfassende Loslassen am Ende unseres Lebens. Wo das nicht so gut gelingt und man über die Zeit hinaus an bestimmten Aufgaben festhält, ist es für die