Название | Lebenslänglich |
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Автор произведения | Lisbeth Herger |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039199389 |
Robi ist nun vier Jahre alt, seine kleine Schwester zwei. Das neue Heim bedeutet für sie eine noch radikalere Trennung von den Eltern. Nicht nur wegen der grossen Distanz, sondern auch, weil im Wiesengrund noch strengere Besuchsregeln als auf dem Hasliberg gelten: Vier Stunden, periodisch alle fünf Wochen, sind erlaubt, und am Anfang, in der Phase der Eingewöhnung, wird für drei Monate ein totales Besuchsverbot verfügt. Darunter leiden nicht nur die Kinder, sondern auch Vater Minder. Sein Schmerz findet sich in mehreren seiner Bitt- und Erkundigungsbriefe, die alle korrekt im Archiv des Heims abgelegt und als dessen Teil schliesslich im Staatsarchiv St. Gallen gelandet sind. Dort fand Robi Minder die Klage seines Vaters, in seinem ersten Brief an die Heimeltern Furrer, in einer sanft fliessenden Schrift und ohne jeden Fehler: «[…] wie man mir sagte, ist während drei Monaten (bis Mai) keine Besuchszeit. Nun, ich schicke mich darein, obwohl ja diese Kindlein noch das einzige sind, das ich habe, für das ich lebe […].» Der erhoffte Ausnahmebesuch an Ostern wird wegen der Sperrfrist abgelehnt, Vater Minder muss sich mit der Korrespondenz mit den Heimeltern als Ersatz trösten: «Nun, wie geht es dem Robi und dem kleinen Bethli? Ich habe sehr lange Zeit nach ihnen.» «Sagen Sie doch bitte dem Robi und dem Bethli viele liebe Grüsse vom ihrem Pa, der ja so viel an sie denkt.» Erst vier Monate nach Eintritt wird ein erster Besuch möglich: «Ich besuche die Kinder definitiv am 1. Sonntag im Mai, denn ich habe sie seit Weihnachten nicht mehr gesehen und ich will auf gar keinen Fall, dass die Kinder sich von ihrem Vater entfernen», schreibt Vater Minder ungeduldig. Er hat damals auch ernsthafte Pläne, seine Kinder wieder zu sich zu nehmen, hochfliegende Träume eines Mannes, der seine Schuld verdrängt. Fürsorgerin Seliner, die per Mandat zu Robis Patin geworden ist, hat für die Pläne von Vater Minder nichts übrig und schreibt den Furrers einen warnenden Brief: «Der Vater erzählte kürzlich, er erhalte nun eine Kommunalwohnung im Hinblick darauf, dass er Robi und Elisabeth im Herbst zu sich nehme. Seine ehemalige Frau sei einverstanden. Ich hoffe nur, dies stimme nicht oder das Jugendamt sei dagegen. Hr. Minder hat ja aus der jetzigen Ehe ein Kind u. soviel ich weiss, hat seine Frau noch ein eigenes daheim. Sie wäre vermutlich der Erziehung nicht gewachsen und ausserdem würde vermutlich der Lohn nicht ausreichen. Vor allem aber glaube ich, dass Hr. Minder sich gegenüber den verschiedenen Kindern nicht recht verhalten würde […]. Er hat mir einmal erzählt, dass er einen Vorarbeiter geschlagen hat. Auch ist er ja eher bequem.» Fritz Minder gründete also mit seiner zweiten Heirat gleich auch eine neue Familie. Er wird Stiefvater von einem Kind, das seine Frau bereits in die Ehe mitbringt, und bald einmal Vater von zwei eigenen, die er abgöttisch liebt. Mit all diesen Vaterpflichten für insgesamt fünf Kinder ist der Hilfsarbeiter und Gelegenheitsschreiner schlicht überfordert. Und es ergibt sich von selbst, dass für die fern Platzierten am wenigsten Zeit und Geld übrig bleibt. Und dennoch, trotz der hohen Fahrkosten, lässt es sich Vater Minder nicht nehmen, die beiden regelmässig in Auwil zu besuchen. Und ebenso regelmässig treffen während der ganzen zehn Heimjahre Briefe aus Basel ein, die sich nach Röbeli und Bethli und etwa ihren Weihnachtswünschen erkundigen. Mutter Margrith hingegen ist mit den ihr verbliebenen Kindern und dem kleinen Serviertochterlohn vorerst in jeder Hinsicht überlastet, zudem wird sie später ebenfalls erneut heiraten. Sie schafft in den ersten sechs Heimjahren keinen einzigen Besuch bei ihren fernen Kindern.
Die Anfangszeit im Wiesengrund gestaltet sich für Robi und seine Schwester aber nicht nur wegen der Trennung von den Eltern schwierig. Der Wiesengrund nennt sich zwar «Kinderheim», ist aber alles andere als ein wärmender Hort für verlassene Kinderherzen. Die Geschwister werden selbstverständlich nach Geschlechtern getrennt untergebracht, Robi kommt als dritter zu den Buben im oberen Stock, Elisabeth im Parterre ins Mädchenzimmer.
Das Heimregiment ist fromm und streng, das Einhalten der vielen Regeln wird straff kontrolliert, freie Zeit gilt als Tor zur Sünde. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt, oft schmeckt es widerlich für Kindergaumen, zum Frühstück gibt es rohes Sauerkraut mit Wacholderbeeren, in die Suppe kommt, wenn man Pech hat, löffelweise Lebertran, der Haferbrei wird aufgetischt, bis er gegessen ist, mehrere Tage, selbst dann noch, wenn er längst schimmlig ist.
Robi und seine kleine Schwester reagieren unterschiedlich heftig. Eine heftig juckende Neurodermitis, die den ganzen Körper und die Kopfhaut befällt, beginnt beide mehr und mehr zu plagen. Ob Rosmarie Furrer als ausgebildete Krankenschwester die Krankheit erkennt und um mögliche Therapien weiss, ist unklar. Auffällig ist, dass das heftige Leiden in der archivierten, sonst in Gesundheitsfragen präzisen Korrespondenz der Heimeltern mit allen massgeblichen Instanzen nie erwähnt wird. Jedoch kreiert Heimmutter Furrer eine hauseigene Methode, um das blutige Aufkratzen der befallenen Haut zu verhindern: Die Arme der Kleinen werden in Kartonröhren verpackt, die Hülsen zusätzlich hinten über den Nacken mit einem Bändel zusammengebunden, um so den Bewegungsradius weiter zu minimieren. Kratzen ist nun nur mehr über eine körperfremde Hand möglich, sie sind gänzlich vom Wohlwollen anderer abhängig. Sonst aber reagiert das kleine Bethli weit heftiger auf all die Wechsel und das lieblose Heimregime, mit Essensverweigerung während mehrerer Jahre, nur Flüssignahrung lässt es sich füttern, dann auch mit Krankheiten und Bettnässen. Gegen dieses Übel bekommt das Kind später eine Salzdiät verordnet: Brotscheiben mit viel Salz, das soll das Wasser im Körper binden und nachts die Leintücher trocken halten.
Robi, dem Älteren, gelingt es etwas besser, sich den neuen Umständen erst einmal anzupassen. Er hat bereits erste Sensoren ausgebildet, die ihm helfen zu erraten, was die Erwachsenen von ihm wollen. Er holt sich damit Brosamen in Form von Aufmerksamkeit und einen lobenden Eintrag in der Akte der Basler Jugendfürsorge: «Mit Robi geht alles gut, er ist lieb und ziemlich gut zu haben. Er scheint sich ganz normal zu entwickeln», kann der erwachsene Robi Jahrzehnte später über seinen Eintritt im Wiesengrund in einer Aktennotiz lesen. Diese Akte hat er schliesslich bei seiner hartnäckigen Suche nach Spuren im Basler Waisenhaus aufgespürt. Zwei eng beschriebene Bogen Papier, mit halbjährlichen Einträgen, in einer rückwärts gerichteten Handschrift geschrieben, von einer Basler Fürsorgerin, die sich telefonisch über das Wohl des Buben in der fernen Ostschweiz informiert hatte. Dies ist die Essenz von zehn Jahren Heimerfahrung, konserviert in 19 Kurznotizen, die erste datiert im Juni 1953, die letzte im Oktober 1963; es ist sozusagen das Kompendium einer Kindheit aus behördlicher Sicht, erzählt von den Heimeltern, übersetzt und verdichtet durch die zuständigen Behörden. Der grosse Aktenberg zu Robi Minders Kindheit jedoch, die Vormundschaftsakte, die sämtliche behördlich verwalteten Bewegungen seiner ersten zwanzig Lebensjahre dokumentiert hätte, die wurde geschreddert, wie er zu seiner grossen Enttäuschung erfahren musste.
Dafür aber ist das Jahrzehnt im Kinderheim Wiesengrund genauestens dokumentiert, in einem hauseigenen Archiv, das erst 2015 dem St. Galler Staatsarchiv übergeben wurde und in dem nebst den Akten zum Heim und der Stiftung fast alle Personenakten zu den Kindern aufbewahrt wurden. Ein Glücksfall für die Rekonstruktion dieser Kinderschicksale, auch wenn Robi Minder, das ehemalige Heimkind, zuerst einmal bitter enttäuscht war, als er das 2,4 Kilogramm schwere Aktenpaket, angeliefert aus St. Gallen, mit Herzklopfen öffnete. Denn schnell wurde dem unruhig Suchenden klar, dass in den Hunderten von Blättern, Berichten und Briefen herzlich wenig über seine eigene Entwicklung und die seiner Schwester zu finden sein würde, keine sorgfältig formulierten Entwicklungsprotokolle mit pädagogisch und psychologisch geschultem Blick auf das psychische Wohl der Kinder, mit all den Fortschritten und Sorgen darum herum. Der gewaltige Aktenberg ist kein Seelenspiegel kindlicher Entfaltung, sondern das Monument einer immensen Verwaltungsarbeit. Er illustriert eindrücklich den ungeheuren administrativen Aufwand, den die Heimeltern in der Zusammenarbeit mit den Behörden und Verwandten zu leisten hatten. Oder den sie meinten, leisten zu müssen. Damals bedeutete Kommunikation fast immer den Griff zum Stift oder zur Schreibmaschine,