"Bleib schön sitzen!". Eugen Freund

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Название "Bleib schön sitzen!"
Автор произведения Eugen Freund
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783990471128



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Gedicht aufzusagen. Schließlich sangen wir gemeinsam das Kärntner Heimatlied, wobei vor allem die vierte Strophe hervorsticht:

       »Wo Mannesmut und Frauentreu,

       die Heimat sich erstritt auf neu,

       Wo man mit Blut die Grenze schrieb

       Und frei in Not und Tod verblieb;

       Hell jubelnd klingt’s zur Bergwand

       Das ist mein herrlich’ Heimatland.«

      Und alle sangen mit, auch die Kinder, die zuhause gar keine andere Sprache als Slowenisch hörten. Davon gab es zumindest in den 1950er Jahren noch viele. In manchen Häusern wurde fast ausschließlich Slowenisch oder jedenfalls ein Dialekt davon gesprochen. Das war auch für meinen Vater bei der Behandlung der Patienten eine Herausforderung. Als Wiener aus gut bürgerlichem Haus konnte er zwar Englisch, Französisch und Latein (er war stolz darauf, sich mit einem Bischof im jugoslawischen Split einmal in dieser »toten Sprache« unterhalten zu haben), aber nicht Slowenisch. Einen Ausdruck hatte er sich aber sehr schnell eingeprägt: »Drei Mal am Tag« (wenn es um das Einnehmen von Tabletten ging) heißt »tri krat na dan« auf Slowenisch. Selbst ich hatte das bei den gemeinsamen Patientenbesuchen so oft aufgeschnappt, dass es sich in mein Gedächtnis eingeprägt hatte. Ebenso alles, was mit der katholischen Messe verbunden war. Wir gingen jeden Sonntag in die Kirche, für meinen Vater gab es rechts vorne – auf der Männerseite – immer einen einzelnen Sessel, der freigehalten wurde. Die Kirchgänger hatten sich auch daran gewöhnt, dass er meist erst nach oder gerade während der Predigt erschien, denn die wurde – wie die gesamte Messe – auf Slowenisch gehalten. Das »Vater Unser« (»Očenaškaterisinebesi…«) habe ich auch so oft gehört, dass es mir eine Basis für das Verständnis einer slawischen Sprache gab, auch wenn es lange brauchte, bis ich wusste, dass »Oče« Vater und »naš« unser heißt und wo diese unendliche und für mich unverständliche Buchstabenwurst getrennt gehört.

      Die »Kura«, von der schon die Rede war, gehörte zu unserem winterlichen »Naherholungsgebiet«, im Sommer hatten wir zusätzlich den Klopeiner See vor unserer Haustür. Wenn es genug Schnee gab – und ich kann mich an keinen Winter erinnern, in dem es das nicht der Fall war –, zogen wir unseren Schlitten oder nahmen die Skier und schossen auf der »Kura« den Hügel hinunter. Das heißt, die anderen »schossen«, ich war immer ein Angsthase, mir war alles zu steil, mit dem Schlitten ging es gerade noch, aber beim Skifahren konnte ich mit den anderen Buben nie mithalten. Sicherheitsbindung oder dergleichen gab es auch nicht, sie ging mir auch nicht ab, niemand kannte das damals. Nein, man fuhr mit den »Goiserern« (heute würde man sagen: eine Art Wanderschuhe) in zwei auf dem Kopf stehende V-förmige Eisenteile am Ski, schob einen dicken Draht hinten über den vorstehenden Absatz und spannte das ganze dann vorne mit einem Hebel fest. Die Skier waren aus Holz, ohne Kanten, wenn man stürzte, blieb man in der Bindung hängen und konnte nur hoffen, dass alle Knochen heil geblieben waren.

      Wenn wir in der warmen Jahreszeit zuhause blieben, spielten wir am Nachmittag meist im Hof. Die großen Holzzaun-Türen, die die Einfahrt abschlossen, aber ohnehin meist offen standen, wurden zu einer Drehfahrt umfunktioniert: Ein Flügel wurde ganz weit geöffnet, dann stellten wir uns abwechselnd mit einem Bein auf die untere Querleiste und schoben mit dem anderen an – mit dem Schwung erreichten wir mühelos eine 180-Grad-Drehung. Die Mädchen spielten meist mit dem Ball. Fangen spielen war zu langweilig, also »peppelten« sie den Ball gegen die Wand, nach jeweils fünf oder zehn Schlägen wurde es schwieriger: die Hand über Kreuz vor der Brust, oder die Hand durch das Bein, oder sich einmal umdrehen – doch immer den Ball gegen die Wand schlagen. Gemeinsam trafen wir uns auch oft zum »Schlatzkugel«-Spielen. Noch bevor Murmeln aus Ton oder noch später aus Glas auftauchten, drehten wir unsere selbst zwischen zwei Handflächen aus Erde und Spucke. Mit dem Schuhabsatz trieben wir ein Loch in den Boden und schon waren wir damit beschäftigt, die Kugeln in die Senke zu befördern. Und dann gab es noch die selbstgebastelten Panzer: In eine hölzerne Zwirnspule schnitzten wir Kerben ein, von einer dickeren Kerze wurde eine zirka einen halben Zentimeter starke Scheibe abgeschnitten (jede zweite zerbrach in mehrere Stücke, bis wir herausgefunden hatten, dass wir die Schneide des Messers möglichst heiß machen mussten), durch das Loch der Spule fädelten wir ein dickes Gummiband. Vor das Kerzenstück kam noch ein kleiner Stab, der sowohl zum Aufziehen als auch zum Vortrieb verwendet wurde. Die Kerze bewirkte, dass die Rolle nicht davonschoss, sondern sich ganz langsam vorwärtsbewegte und über so manches Hindernis kletterte.

      * * *

      Für gemeinsame Urlaubsreisen mit den Eltern gab es kaum Zeit und Gelegenheit. Im Sommer waren sie mit den vielen (kranken) Gästen voll beschäftigt, und in der übrigen Jahreszeit war immer zumindest eines von uns Kindern in der Schule. Lediglich einmal – es dürfte in der letzten Ferienwoche gewesen sein – besuchten wir gemeinsam Venedig.

      Das erste Mal am Meer, die ungewöhnliche Luft, der Strand und der Sand am Lido hatten es uns Kindern besonders angetan. Wir hatten uns im »Albergo San Fantin« einquartiert, einem kleinen Hotel in der Stadt mit einem Durchgang, der mitten durch das Gebäude ging. Unser Zimmer war über diesem »Tunnel« und so kamen wir auf die Idee, einen Zettel auf einem Faden runterhängen zu lassen, auf dem wir »Buona notte« (eine der wenigen italienischen Phrasen, die wir kannten) geschrieben hatten. Es war schon dunkel, der Faden war kaum zu sehen, nur der helle Zettel. Wenn jemand von den Spaziergängern nach dem Papier greifen wollten, zogen wir schnell daran und – husch – war die Notiz verschwunden. Wir freuten uns diebisch, wenn die Leute dann verärgert nach oben blickten, aber niemanden sahen, denn wir hatten uns längst vom Fensterbrett entfernt.

      Sommer am Klopeiner See

      Viele Tage im Sommer verbrachten wir am Klopeiner See. Von zuhause führte ein kleiner Waldweg an einem Bach entlang direkt zum Bad. Ziemlich zentral stand dort das Hotel »Obir«, ein großer Kasten mit vielen Balkons. Herr und Frau Wutte führten das Hotel und kümmerten sich auch um das Strandbad. Sohn Walter fiel – vor allem mir – durch seine ausgefallene Autoauswahl auf. An den Studebaker »Golden Hawk« kann ich mich gut erinnern – niemand hatte damals so einen Straßenkreuzer mit der großen Schnauze und den noch viel auffälligeren Heckflossen. Er war auch der Erste, der sich kurz nach dessen Debüt auf dem Genfer Autosalon 1963 einen Mercedes 230 SL besorgte. Das war jener Sportwagen mit dem Pagodendach und einem querstehenden Rücksitz (für ein weiteres Paar Beine wäre hinter dem Fahrer kein Platz gewesen). Am Abend arbeitete Walter auch hinter der Theke, wenn »Andy Müller und sein Orchester« groß aufspielten. Die Band kam aus Graz (wie – unterhaltungsmäßig – armselig wäre der Klopeiner See gewesen, hätten die Steirer hier nicht ausgeholfen …), spielte zuerst zum Fünf-Uhr-Tee und am Abend von acht bis Mitternacht. Der Saal war voll, in erster Linie deutsche, aber auch holländische und dann natürlich österreichische Urlauber, die jeden Spaß mitmachten – oder das, was Andy Müller darunter verstand. Da mussten zum Beispiel männliche Freiwillige einen Luftballon aufblasen, während sie weibliche Freiwillige unter den Achseln kitzelten. Sehr groß wurden die Ballons nicht. Doch die meisten kamen zum Tanzen und wohl auch zum Schunkeln, kein Abend verging, ohne dass die gut aufgelegten Gäste nicht zu Jetzt trink mer noch ein Glaserl Wein, oder Bier her, Bier her, oder I fall’ um schunkelten. Höhepunkte der Saison waren die Auftritte von Fred Haid, auch ein Steirer, der zwei Mal im Sommer mit Schmachtfetzen aus Oper und Operette die Touristen begeisterte.

      Nicht, dass mir das Baden mehr Spaß machte als das Skifahren. Dass ich im Wasser nicht weniger Angst hatte als im Schnee, hing auch mit dem Schwimmlehrer zusammen. Er hieß Egon Karpf – und schrammte mit seinem Namen nur knapp an jenem Fisch vorbei, von dem man im Klopeiner See viele stolze Exemplare sah. Er war ein immer tief braun gebrannter, drahtiger Turnlehrer aus einem Gymnasium in Graz (das bestätigt wieder meine These, dass der Klopeiner See ein langweiliges Kaff geblieben wäre, hätten die Steirer nicht ausgeholfen), der jeden Sommer seinen Zöglingen – je nach Mentalität – das Schwimmen oder das Fürchten lehrte. Bei mir war es eher Letzteres, denn schon die erste Stunde begann damit, dass er mich einfach ins (für mich kalte) Wasser warf. Natürlich war er nicht weit von meinem Strampeln und Schreien entfernt und fischte mich auch