Die Bibliothek des Kurfürsten. Birgit Erwin

Читать онлайн.
Название Die Bibliothek des Kurfürsten
Автор произведения Birgit Erwin
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839269008



Скачать книгу

wie Macht zu haben. Lena hatte schnell herausgefunden, dass Gisbert Reiling zwar gutes Bier braute und eine Nase für allerlei krumme Geschäfte hatte, viele der besseren Gäste jedoch ihretwegen kamen. Sie hob den Kopf etwas höher, während Anni lustlos auf der Treppe herumfuhrwerkte. Lena wusste, je mehr Lärm sie machte, desto schlampiger arbeitete sie. Plötzlich hielt Jiří einen Finger in die Höhe. Lena biss die Zähne zusammen. Konnte der Kerl nichts anderes als saufen? Ohne sich sonderliche Mühe zu geben, freundlich zu wirken, trat sie näher. »Noch ein Bier?«

      »Eigentlich wollte ich meine Dienste anbieten.« Lena hob die Brauen. »Ich habe ganz durch Zufall mitbekommen, was du mit dem verehrten Herrn Reiling besprochen hast. Ich muss in die Stadt. Ich könnte dich begleiten. Ich sollte dich begleiten. Die Wege sind nicht sicher.« Bei den letzten Worten wirkte er ungewöhnlich ernst. Und leider hatte er recht. Als er ihr Zögern sah, blitzte seine alte Frechheit auf. »Und ich könnte …«

      »Nein!«

      »Wie … Nein?«

      »Ihr könnt nicht. Ich nehme Euer Angebot an, weil es vernünftig ist. Aber Ihr könnt nicht. Egal, was es ist.«

      Er zuckte die Achseln. »Du weißt nicht, was du verpasst. Ich warte hier. Und in der Zwischenzeit … Nein«, er lächelte schief, »kein Bier mehr.«

      Wenig später befanden die drei sich auf der alten Straße nach Heidelberg. Lena versuchte heldenhaft, ihre Belustigung zu unterdrücken. Der arme Jiří ertrug die Enttäuschung tapfer, dass sie sich strikt geweigert hatte, sich vor ihn auf sein Schlachtross zu setzen. Anni hätte den Platz hinter ihm bekommen – das leichtfertige Ding war drauf und dran gewesen zuzusagen. Lena glaubte ihm, dass das Pferd die dreifache Belastung ausgehalten hätte, sie hatte das riesenhafte Biest im Stall gesehen, doch ansonsten glaubte sie ihm rein gar nichts. Also gingen sie zu Fuß durch den Wald. Nachdem es ihr gelungen war, Annis helle Stimme auszublenden, genoss sie den Marsch. In ein dickes Wolltuch gehüllt, raschelte sie durch das welke Laub, wie sie es als Kind getan hatte, während sich um sie herum alles Leben hartnäckig gegen den Winter wehrte. Vögel, Eichhörnchen und größeres Getier taten alles, die letzten Wochen zu feiern. Sie dachte an den Krieg. Ob Jiří wirklich beim Weißen Berg dabei gewesen war? Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, war ein Ausdruck in seinen Augen, der ihr Angst machte. In diesen Momenten glaubte sie ihm. Und sie fragte sich, was er verschwieg. Vor einem halben Jahr war er wie aus dem Nichts aufgetaucht, abgerissen und schmutzig. Jetzt hatte er Geld, Freunde und war ihr ein noch größeres Rätsel als zuvor. Lena bückte sich nach einem Tannenzapfen und ließ ihre Finger über das trockene Holz wandern.

      »Ihr müsst uns nicht zur Garnison begleiten«, sagte sie in eine Gesprächspause hinein.

      »Du willst wirklich zum Stadtkommandanten? Das war nicht nur eine Ausrede, um dem alten Schinder zu entkommen?«

      Lena stöhnte gereizt. »Natürlich nicht. Und ja, ich muss zum Stadtkommandanten.«

      »Dann geh zu den Schanzen. Da wirst du ihn eher antreffen als in der Garnison.«

      »Woher wisst Ihr das denn schon wieder?«, entfuhr es ihr.

      Er schmunzelte und nahm ihr den Tannenzapfen aus der Hand. Seine Finger waren warm und rau. Er zielte und warf. Ein wütendes Quieken im Unterholz war die Antwort. »Ratten«, murmelte er. »Die kriegen noch genug zu fressen, wenn es losgeht. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich weiß das, weil er dauernd da ist. Tag und Nacht. Man sagt, dass er nicht mehr schläft, dein Stadtkommandant.«

      »Er ist nicht mein Stadtkommandant«, fauchte Lena.

      Anni kicherte und Jiří zuckte die Schultern. »Gut für mich. Einer wie Spielvogel macht mir keine grauen Haare, aber ein Major …«

      »Herr Němec, ich habe Euch nie irgendeine Ermutigung gegeben und ich …« Sie biss sich auf die Lippen, als der Schalk in seinen Augen aufblitzte. »Ihr seid unleidlich.«

      »Aber ich habe dich zum Lachen gebracht. Gott hat es zu einem guten Tag gemacht.«

      Sie hob die Hände zum Himmel und schnaubte. Die Stadtmauer tauchte in der Ferne auf. Überrascht stellte Lena fest, dass es ihr beinahe leidtat, dass sie am Ziel waren. Die Wache am Speyerer Tor machte sich kaum die Mühe, für zwei Frauen und einen Mann, alle zu Fuß, den Kopf zu heben. Der junge Soldat lehnte an der Mauer und hielt sein gerötetes Gesicht in die Sonne.

      »Wir suchen den Stadtkommandanten!«, rief Jiří.

      Statt misstrauisch zu werden, deutete der Mann an der Außenmauer entlang. »Der ist aber beschäftigt. Der halbe Rat ist bei ihm. Alles furchtbar wichtige Herren.«

      »Danke.« Jiří sah die beiden Frauen an. »Sicher? Wir könnten auch …«

      »Ganz sicher«, entgegnete Lena und fasste Annis Hand.

      Je weiter sie kamen, desto lebhafter wurde das Treiben auf der Baustelle. Lena ließ ihre Gefährtin nicht los. Zuerst hatte sie sie beruhigen wollen, jetzt umklammerte sie ihre Finger warnend, denn sie wusste, wie gern Anni die guten Sitten fahren ließ. Die bewundernden Blicke der vielen Männer waren eine beinahe unwiderstehliche Versuchung für das Mädchen. Nach rechts und links den Hals drehend, stolperte sie neben ihrer Freundin her. Lena gab es ungern zu, aber hier war sie für Jiřís Anwesenheit ehrlich dankbar. Ein paar Scherze, mehr trauten sich die Männer nicht. Die Arbeit schien unglaublich schwer zu sein. Lena konnte sich nicht vorstellen, wie jemand diese Wälle würde überwinden können. Doch als sie in Jiřís Gesicht sah, erkannte sie nur abgrundtiefen Zynismus. Alle wärmeren Gefühle erstarben jäh. Umso eifriger schaute sie sich nach Maxilius um und schließlich entdeckte sie ihn. Inmitten einer Gruppe gut gekleideter Ratsherren wirkte er staubig und abgekämpft. Er war braun gebrannt, aber hager, und unter den Augen lagen dunkle Ringe, den speckigen Hut hielt er, wie er es gern tat, in der Hand und nutzte ihn, um in einem wütendem Rhythmus gegen seinen Oberschenkel zu schlagen. Sogar die Ratsherren schienen Abstand zu halten. Am Rand der Gruppe standen Jakob und der Leutnant, beide mit absurd zerschlagenen Gesichtern. Jakob sah im hellen Sonnenlicht noch schlimmer aus als in der gnädigen Beleuchtung der Schankstube. Lena wunderte sich, dass er sich überhaupt auf den Füßen halten konnte. Sie merkte, dass Jiří sie ansah, nicht auffordernd, eher neugierig. Sie hob das Kinn und trat auf die Männer zu. Als sie nahe genug war, dass Maxilius sie irgendwann sehen musste, blieb sie bescheiden stehen und wartete. Anni drängte sich an ihre Seite. Es war nicht der Stadtkommandant, sondern einer der Ratsherren, ein schlanker Mann in den Vierzigern, der sie schließlich bemerkte. Er musterte sie eine Weile, ehe er Maxilius mit einem diskreten Wink auf sie hinwies.

      Ungeduldig fuhr der Stadtkommandant herum. Lena lächelte scheu. Maxilius stutzte und setzte seinen Hut auf. Er gebot dem Vorarbeiter, der gerade irgendeinen Bericht erstattete, zu schweigen und winkte den Frauen mit seiner behandschuhten Hand zu. Lena konnte die Verwunderung der Männer ebenso spüren wie ihr Missfallen. Nur Jakobs Gesicht blieb unbeweglich, was aber an seinem Zustand liegen mochte.

      »Lena«, sagte der Major, als sie vor ihm stand. »Ich nehme an, es ist wichtig?«

      Lena machte einen Knicks. Auf einmal war sie um Worte verlegen. Sie machte einen zweiten Knicks.

      Seine grauen Augen, kühl und forschend, verengten sich unheilvoll.

      »Es geht um die Leiche, Herr Major«, erklärte sie. »Herr Liebig hat Fragen gestellt.« Sie hoffte, dass sie Jakob nicht in Schwierigkeiten brachte, doch der nahm die Aufmerksamkeit gelassen hin. »Ich hatte eine Idee, wer der Tote sein könnte. Oder vielmehr Anni.« Sie knuffte das Mädchen in die Rippen.

      Annis Mund stand offen. Sie starrte Maxilius an wie eine Erscheinung. Lena biss die Zähne zusammen. Musste das dumme Ding, das doch wirklich nicht schüchtern war, ausgerechnet jetzt vom Anstand gepackt werden? Sie bohrte ihr den Finger in die Seite. »Anni, red!«, zischte sie.

      »Kuno«, flüsterte Anni errötend.

      Lena blickte Maxilius hilfeflehend an. Zu ihrer Überraschung lächelte er. Es machte ihn um Jahre jünger. Und während der halbe Rat in der Sonne stand und wartete, schenkte er seine ganze Aufmerksamkeit der kleinen Schankmagd.

      »Der Mann heißt also