Ein unvergessliches Jahr. Raoul Ribot

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Название Ein unvergessliches Jahr
Автор произведения Raoul Ribot
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783959634908



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      1. Auflage Februar 2018

      Copyright © 2018 by Ebozon Verlag

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      Alle Rechte vorbehalten.

      Übersetzung: Vanessa Kayling

      Covergestaltung: Ebozon Verlag

      Coverfoto: Raoul Ribot / Vanessa Kayling

      Layout/Satz/Konvertierung: Ebozon Verlag

      ISBN 978-3-95963-492-2 (PDF)

      ISBN 978-3-95963-490-8 (ePUB)

      ISBN 978-3-95963-491-5 (Mobipocket)

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      Raoul Ribot

      Ein unvergess-

      liches Jahr

      Roman

      Aus dem Französischen

      von Vanessa Kayling

      Ebozon Verlag

      Ein unvergessliches Jahr

      Prolog

      Zugegeben: Ich glaube nicht an Wunder, aber wenn es mir vergönnt wäre, ein Jahr meines Lebens noch einmal zu erleben, so würde ich das Jahr 1944 erwählen. Ein Stück Leben noch einmal durchlaufen - das wäre mein Traum. Ein unmöglicher Traum… und doch versuche ich ihn zu verwirklichen, indem ich auf den folgenden Seiten einen Teil meiner Vergangenheit auferstehen lasse. Im Jahre 1944, mitten im Krieg, erreichte ich mein 18. Lebensjahr, während ein großer Teil der Gleichaltrigen ihr Leben bereits verloren hatte. Die Umstände erlaubten mir, meines zu behalten - ein Privileg, ein unglaubliches Geschenk, was mir damals durchaus nicht bewusst war, zumal ich keine Vorstellung davon hatte, was die Zukunft bescheren würde. Dieses Jahr hat mir Lebenskraft geschenkt, Demut und ebenso den unbändigen Willen, Momente des Glücks zu genießen, trotz und zugleich wegen ihres vergänglichen Wesens - eine Haltung, wie sie gewissen jungen Menschen meines Alters entspricht, die mehr Zynismus als Resignation verrät. Ich ließ mich eher durch den Gedanken Carpe diem leiten als durch irgendwelche Zukunftspläne. Die Zeit war kein Schlupfwinkel, sie bedeutete keinerlei Schutz, vielmehr bot sie sich als ein Rätsel dar, als eine Unbekannte, mit der man lieber keine Wette eingehen sollte. Jede Voraussage oder Vermutung bezüglich dessen, was sich ereignen würde, war schlicht unmöglich.

      Was die Beunruhigung noch verstärkte, war die Besetzung unseres Gebietes und insbesondere unserer Heimatstadt im Languedoc. Hier muss ich nebenbei bemerken, dass sich das Verhalten der deutschen Truppen, die sich seit dem 11. November 1942 intra muros befanden, nicht derartig tragisch ausgewirkt hatte wie in anderen Gegenden Frankreichs.1 Ihre Anwesenheit löste keine Begeisterung aus, bei weitem nicht, vielmehr bedeutete sie eine moralische Kränkung und eine materielle Belästigung. Die Besatzer wachten darüber, dass man jede ihrer Anordnungen und Vorschriften genauestens einhielt. Besonders eine davon sollte für mich eine tiefgehende Verletzung bleiben: der Befehl zur Evakuierung der Bewohner der Hafengegend von Mèze, wo unser Haus stand, das wir im Jahre 1943 den Nazihorden überlassen mussten, die sich dort bis zum Tag der Befreiung festsetzen sollten. Zu den auferlegten Zwängen gehörten die Aufforderungen zur obligatorischen Arbeit für die Truppen. Von der Rationierung der Lebensmittel waren offensichtlich, wie überall in unserem Land, die Ärmsten und Hilflosesten am stärksten betroffen, die nicht vom Schwarzmarkt profitieren konnten. Ich werde die Ausgehsperre nicht vergessen, die für den größten Teil der Bevölkerung sehr frustrierend war. Ich erinnere mich an die Heimkehr zu nächtlicher Stunde, mit dem Fahrrad oder zu Fuß, was einige Vorsichtsmaßnahmen erforderte, um unangenehme Begegnungen mit der feindlichen Patrouille zu verhindern, deren hämmernde Stiefel man zum Glück von weitem vernahm. Diese Bedrohung veranlasste uns, unsere Schuhe mit den verräterisch klappernden Holzsohlen auszuziehen und sie auf unseren Schleichwegen in der Hand zu tragen. Dennoch entkamen wir nicht; man brachte uns zur Kommandantur, wo wir je nach der Laune des Kommandanten 24 oder 28 Stunden verbringen mussten oder zu einer unbekannten Aufgabe oder Bestimmung entsendet wurden. Am verachtungswürdigsten waren die Razzien und Massenverhaftungen, da sie von Franzosen angezettelt und durchgeführt wurden, die der Miliz oder der Gestapo angehörten. Diese feigen Verräter schämten sich nicht, ihre eigenen Landsleute in die Vernichtungslager zu schicken. Es war ein Paradoxon, dass man die Kollaborateure mehr fürchten musste als den Feind.2 Wir werden niemals alle diese Massaker vergessen, die Kriegsverbrechen, die Deportationen und die vielen Todesopfer dieser Tragödie, die von derartigen Barbaren verursacht wurden. In diesem Kriegsklima mag man sich sehr wundern, weswegen ich mir das Jahr 1944 ausgesucht habe. Die Antwort darauf liegt vor allem in meinem Alter. Jung wie ich war, erlebte ich die Gegenwart, den Augenblick, so frei, wie es mir gefiel; auch wenn diese Freiheit keinerlei Sicherheit bedeutete, lag darin eine Ermutigung, sich gehen zu lassen, andererseits konnte man sich gegenüber diesem historischen Moment, den wir erlebten, nicht gleichgültig verhalten. In mir schwelte das Gefühl einer latenten Empörung. So zu tun, als ob nichts wäre, erschien unmöglich, ja geradezu unmoralisch.

      Ich habe diesen Zeitabschnitt in einer anderen geistigen Verfassung erlebt. Ich hatte mir ein Temperament angeeignet, das mich befähigte, allen Herausforderungen, die mich zwangsläufig erwarten würden, zu begegnen und sie zu überwinden. Ich hatte weder Grund, mich selbst zu bemitleiden, noch mich mit der Gegenwart aufzuhalten, die ein Schlachtfeld war. Ich war jung, sportlich, also auch körperlich gesund und voller Tatendrang, um an einer Aufgabe, einem Auftrag mitzuwirken, den ich als eine von mir zu erfüllende Pflicht betrachtete. Ich träumte von besseren Zeiten, zunächst war es aber nötig, Opfer zu bringen, aufopferungsfähig zu sein, wie es einmal eine traurige Persönlichkeit formuliert hatte, aber nicht aus demselben Grund. Ich hatte nichts zu verlieren. Meine Situation war nicht gerade glänzend, ich kam zurecht, dank einer provisorischen Beschäftigung, hatte etwas zu essen und ein Bett zum Schlafen. Die Annehmlichkeiten, die ich in meiner Kindheit genossen hatte, waren in weite Ferne gerückt. Ich war kein Spross einer großen bürgerlichen und konservativen Familie, der sich in die Vergangenheit flüchtete, um die Bilder und Eindrücke wiederzufinden, die der Zeit entronnen waren und die es ihm ermöglichten, durch den Geschmack der Madeleine die Wohlgerüche der Orte wiederzuentdecken, die er einst durchmessen hatte.3 Letztlich alles, was ihn in einen anderen Zustand versetzte, in eine Parallelwelt, die ihn die Qualen des gegenwärtigen Lebens vergessen ließ. Nein, ich flüchtete nicht in die Vergangenheit: Je mehr ich mich an diesem Leben erfreute - so unsicher und heikel es sich auch darbot - umso mehr Hoffnung wuchs in mir heran.

      Die entscheidenden Ereignisse im Frühling und Sommer 1944, die Landung der Alliierten in der Normandie und in der Provence, waren nicht länger ein Traum, sondern das Ende eines Albtraumes, obwohl dies noch nicht das Ende der Feindseligkeiten bedeutete. Von wahrer Freude konnte nicht die Rede sein, immerhin doch von einem gewissen Aufschwung, einem Auftrieb, der uns half, die künftigen Tage und Monate besser zu überstehen.

      Wir gingen einer Zukunft entgegen, die uns mit einem wahren Glücksgefühl erfüllen, ja überschwemmen sollte. Am Abend des 6. Juni 1944 waren wir, so muss man es sagen, trunken vor Freude und von einer kleinen Menge Alkohol. Einen Moment lang währte unser Eindruck von einem besseren Leben trotz noch immer leerem Magen. Letzteres konnte die positive Gestimmtheit nicht schmälern, die unseren Tatendrang wachsen ließ, unser Bedürfnis, in Aktion zu treten.

      Der Enthusiasmus, der uns am Abend zuvor entfesselt hatte, wich am Morgen der Ernüchterung beim Anblick des Strandes, der vom Blut unserer Befreier getränkt war.

      Wohlgemerkt, bei meinem Wunsch, dieses Jahr noch einmal zu erleben, habe ich mich darauf beschränkt, diese Fakten des Krieges zu erinnern, aber ich habe die Vorstellung, dass sie sich jemals