Im Westen geht die Sonne unter. Hansjörg Anderegg

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Название Im Westen geht die Sonne unter
Автор произведения Hansjörg Anderegg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967526899



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hinein in die Schränke, Deckel zu. Probleme gab es bei zwei Rollcontainern, deren volle Schubladen alles zurückwiesen, was er hineinstopfen wollte. Es blieb nichts anderes übrig, als endlich einmal auszumisten. Eine zeitraubende Angelegenheit. Verlorene Zeit aus seiner Sicht. Wenigstens hatte sich der Aufwand gelohnt. Seiner Besucherin schien die neue Ordnung zu gefallen. Eine Weile betrachtete sie stumm die Formelwand, die mittlerweile übersät war mit handschriftlichen Ergänzungen und Korrekturen.

      »Ihr Modell?«, wisperte sie schließlich ergriffen, als stünde sie vor Raffaels monumentaler ›Schule von Athen‹.

      »Sieht ziemlich chaotisch aus, nicht?«

      Sie drehte sich zu ihm um und schüttelte langsam den Kopf. »Eindrücklich würde ich sagen. Ich werde wohl nie verstehen, wie so etwas in einem einzigen Kopf Platz hat.«

      Er lachte laut auf. »Sie unterschätzen das menschliche Gehirn, Alex.« Beinahe verloren stand sie da, blickte ihn ratlos an, schien zu überlegen, wie es weitergehen sollte. »Sie erwähnten SWIFT«, erinnerte er sie.

      »Richtig.« Sie zögerte, dann sprach sie langsam weiter, wie jemand, der sich jedes Wort sorgfältig aussucht. »Ich muss Ihnen etwas beichten. Ich war an einer ganz andern Story, als mir Ihr Artikel auffiel. Vor vier Jahren wurde ein verheerendes und bis heute nicht aufgeklärtes Attentat auf ein Bergwerk für Seltene Erden in Kalifornien verübt. Viele Leute verloren damals ihr Leben. Zur gleichen Zeit schoss der Preis von Neodym in die Höhe, und wie es aussieht, hätte ihr Modell genau diese Entwicklung vorausgesehen. Wenn man nun Rückschlüsse ziehen könnte auf die Leute, die auf diesem Preisanstieg spekuliert und von ihm profitiert haben – verstehen Sie?«

      Er hatte sofort begriffen, worauf sie hinaus wollte, als sie die Mine erwähnte. »Sie sprechen von Mountain Pass«, stellte er fest.

      »Sie erinnern sich?«, rief sie überrascht.

      »Ein – Bekannter kam dort ums Leben, deshalb werde ich den Ort nicht so schnell vergessen.«

      »Das tut mir leid.« Wieder zögerte sie, bevor sie leise fragte: »Was halten Sie von meiner Idee?«

      »Die Idee kann ich nachvollziehen. Es gibt nur ein ganz entscheidendes Problem, fürchte ich.«

      »Nämlich?«

      »Die Daten, die wir zur Verfügung haben, sind anonym. Sie lassen keine Schlüsse auf die Akteure an den Finanzmärkten zu. Es sind reine Preisbewegungen. Und an die SWIFT-Meldungen kommen wir nicht. SWIFT ist ein geschlossenes Netzwerk, sicher wie Fort Knox.«

      »Glauben Sie?« Das erste Mal seit sie sein Büro betreten hatten lächelte sie entspannt. »Ich glaube, ich kann diese Daten beschaffen.«

      Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. »Das ist nicht Ihr Ernst«, stieß er aus.

      »Ich habe gute Verbindungen.« Leiser Spott mischte sich in ihr Lächeln.

      Er betrachtete ihre Visitenkarte, die er immer noch in der Hand hielt und murmelte kopfschüttelnd: »Alex, Alex, wer sind Sie wirklich?«

      Sie ließ die Frage offen. Ihr Gesicht wurde ernst. »Die Vorstellung reizt Sie, nicht wahr?«, bemerkte sie.

      Reizen war ein zu schwaches Wort. Hätte er tatsächlich derart detaillierte Daten wie SWIFT-Zahlungen mit ihren eindeutigen Sendern und Empfängern zur Verfügung, könnten die statistischen Auswertungen des Modells mit wenig Aufwand auf individuelle Datenquellen abgebildet werden. Nur eine technische Herausforderung, kein wirkliches Problem, aber eine ganz neue, zusätzliche Dimension von ungeheurer Sprengkraft. In Gedanken war er schon dabei, die SWIFT-Daten zu analysieren. »Am besten wären wohl Zahlungen vom Typ 202 und 103 geeignet«, murmelte er, mehr zu sich selbst. Er kannte nur die wichtigsten Meldungstypen, aber die Zahlungs- und Deckungsanweisungen gehörten dazu.

      Ihre Antwort kam ohne Zögern. »MT202 und MT103 haben wir – ich meine – kann ich beschaffen.«

      »Sie haben sicher schon den fertigen Projektplan in der Tasche«, grinste er. Plötzlich stutzte er. »Die Idee hört sich verlockend an, aber wäre so etwas überhaupt legal?«

      »Für uns schon. Wir arbeiten nicht mit gestohlenen Daten, wenn Sie das meinen. Könnten Sie sich eine solche Zusammenarbeit vorstellen?« Bevor er Zeit hatte zu antworten, fügte sie schnell hinzu: »Es wäre der absolute Knüller, wenn dadurch die Hintergründe des Attentats von Mountain Pass aufgedeckt werden könnten.«

      »Mountain Pass – gibt’s Neues?«, fragte eine bekannte Stimme. Jessie war unbemerkt durch die offene Tür ins Büro geschlüpft. »Oh Verzeihung, störe ich?«, entschuldigte sie sich, als sie die Unbekannte erblickte.

      Ryan lachte verlegen. »Nein, natürlich nicht.« Er hatte nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verging. Es war Mittag, und Jessie erschien wie vereinbart zum Lunch. Die zwei Frauen belauerten sich schweigend, unschlüssig, ob sie lächeln oder die Krallen wetzen sollten. »Äh – darf ich vorstellen: Jessie, meine Verlobte«, sagte er zu Alex. »Jessie, das ist Alex vom ›Wall Street Journal‹. Sie interessiert sich für mein Modell.«

      Jessie gab Alex vorsichtig die Hand. Zu Ryan gewandt sagte sie: »Ich möchte wirklich nicht stören. Wenn du mit Alex zu tun hast …« Das Wort Alex hörte sich fettgedruckt an, wie wie eine Drohung.

      »Nein, nein«, lächelte die Journalistin säuerlich, den Blick starr auf ihn gerichtet. »Ich meine, ich habe Ihre Zeit schon zu sehr in Anspruch genommen. Vielen Dank für das Interview, Ryan.« Sie verabschiedete sich eilig und war schon an der Tür, als sie ihm nochmals zulächelte. »Wir bleiben in Kontakt.« Dann ließ sie ihn allein mit Jessie.

      »Wir bleiben in Kontakt«, äffte sie ärgerlich nach. »Was war das denn?«

      »Das frage ich mich auch«, antwortete er in Gedanken versunken.

      Hockenheim, Deutschland

      Der Fahrer im rot-weißen 4-Liter Porsche 997 GT3 verfluchte den gelben Klon vor seiner Nase. Der Scheißkerl fuhr die Spitzkehre so ungeschickt an, dass er keine Möglichkeit hatte, ihn noch vorher zu überholen. Robert Bauer kannte den Hockenheimring wie seine Westentasche. Er fuhr die letzte Runde im Porsche Sports Cup. Noch nicht das Finale, aber die Punkte brauchte er. Der gelbe Trottel drohte ihm auf dem letzten Kilometer noch den Sieg zu vermiesen.

      »Nicht mit mir, Bursche«, knurrte Robert zähneknirschend unter der Gesichtsmaske. Er hängte sich so dicht an den Vordermann, dass sein Wagen das Heck des gelben Porsche fast berührte. Kurz vor der scharfen Rechtskurve schaltete er in den ersten Gang. Der Gelbe fuhr weit außerhalb der Ideallinie in die Spitzkehre hinein. Seine Chance war gekommen. Kaum hatten sie den 50er Punkt hinter sich, touchierte er die rechte Hinterbacke des Gelben. Nur leicht, gerade kräftig genug, um ihn weiter nach links ausbrechen zu lassen. Sofort besetzte er die Lücke. Er drückte aufs Gas, schaltete schnell hinauf. Nach fünfzig Metern war der Gelbe Geschichte. Robert hatte freie Fahrt auf der Geraden vor der Tribüne. Wenn er jetzt keinen Fehler mehr machte, war ihm der Pokal sicher, einmal mehr. Grinsend holte er das Letzte aus seinen 480 PS heraus. Er erwischte das Knie vor der Mercedes-Tribüne gut. Noch einmal beschleunigte er auf Höchstgeschwindigkeit. Der Abstand zum Gelben war so komfortabel, dass er die letzten beiden Schikanen, die heimtückische Sachs-Kurve und die Südkurve vor der Zielgeraden, locker hinter sich brachte.

      »Starke Vorstellung«, rief ihm der Mechaniker entgegen, als er an der Boxe den Motor abschaltete. Das Gesicht des Mannes, der ihn mit seinem kleinen Team schon seit einer Ewigkeit betreute, leuchtete vor Aufregung, als hätte er selbst am Steuer gesessen.

      »Etwas anderes erwartet?«, lachte Robert und ließ sich umarmen. Das berauschende Hochgefühl, es wieder einmal allen gezeigt zu haben, stellte sich erst jetzt langsam ein. Es fühlte sich jedes Mal an wie die Sekunden vor dem Höhepunkt beim Liebesspiel, nur besser. Unschlagbar zu sein berauschte ihn auf der Rennbahn genauso wie im Handelsraum am Paradeplatz. Er war süchtig nach Sieg, das wusste er und jeder, der mit ihm zu tun hatte. Auch seine Sponsoren hatten das früh bemerkt. Kaum einer seiner Rennkollegen konnte auf eine so lange, stabile Beziehung zu seinen Geldgebern zurückblicken. Er war, verdammt noch mal, der Größte, und er hatte