Gornerschlucht. Urs W. Käser

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Название Gornerschlucht
Автор произведения Urs W. Käser
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967525830



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Wetter! Ich wünsche Ihnen jedenfalls eine unvergessliche Tour!« Biner eilte weiter, ohne im Entferntesten zu ahnen, welch besondere Wahrheit er mit seinen letzten Worten ausgesprochen hatte.

      Lea und Maja waren mit der Gornergratbahn bis zur Station Riffelberg gefahren und hatten dann in einer halben Stunde Fussmarsch ihr heutiges Untersuchungsgebiet auf rund 2‘400 Metern Höhe erreicht. Mit Erleichterung hatte Lea bemerkt, dass sich ihre morgendliche aggressive Stimmung mit jedem Schritt in der klaren Bergluft mehr und mehr verflüchtigte, und dass sie schliesslich wieder ganz freundschaftlich mit Maja umgehen konnte. Die Studentinnen legten ihre Rucksäcke ab und bestaunten zunächst die phänomenale Aussicht, die sich ihnen darbot.

      Unter ihnen erstreckte sich der breite, von unzähligen Spalten zerklüftete Eisstrom des Gornergletschers. Darüber flimmerte die riesige, vollkommen eisgepanzerte Nordflanke des Breithorns, rechts davon ragte, wie ein Eckzahn, der Felsgipfel des sogenannten Kleinen Matterhorns aus der Gletscherfläche, und ein Stück weiter rechts erhob sich die riesige Pyramide des echten Matterhorns in den tiefblauen Himmel. Links vom Breithorn war noch ein Teil des mächtigen Liskamms zu sehen, während der Monte Rosa, der höchste Gipfel auf Schweizer Boden, von einem Felsvorsprung verdeckt wurde. Die Pracht des Hochgebirges war einfach unbeschreiblich!

      Nach gebührender Würdigung der Fernsicht packten Lea und Maja ihre wenigen Hilfsmittel aus – Bleistifte, Notizheft, Lupe und Pflanzenbücher – und begannen, jede für sich, den steilen, mit Gräsern und zahllosen Alpenblumen bewachsenen Südwesthang systematisch zu untersuchen. Sie machten sich eifrig Notizen, welche Arten von Pflanzen sie vorfanden, und immer wenn sie etwas Besonderes fanden oder etwas, das sie nicht sicher kannten, verstauten sie die Pflanze in einem Plastiksäckchen, um sie zuhause noch detaillierter anzuschauen und dann zwischen alten Zeitungsseiten für das Herbar zu trocknen.

      Um halb zwölf trafen sich Lea und Maja wieder bei ihren Rucksäcken, um eine Pause zu machen.

      »Mensch, ist das extrem heiss heute«, sagte Maja, wischte sich den Schweiss von der Stirn und setzte ihre Wasserflasche an die Lippen.

      »Ja, das finde ich auch«, bestätigte Lea, »aber das ist mir doch viel lieber als der kalte Nebel am letzten Freitag.« Lea nahm einen grossen Schluck aus ihrer Wasserflasche, und dann zeigte sie auf den gegenüberliegenden Hang, auf dem ein Zickzackweg in die Höhe führte. »Du, warum sieht man eigentlich nie jemanden auf diesem Wanderweg da drüben? Wo kommt denn der überhaupt her?«

      Maja entfaltete ihre Wanderkarte. »Aha, jetzt habe ich es. Der Weg kommt von der Gornerschlucht hoch und ist weiter unten sehr steil. Kein Wunder, dass da heute bei dieser Hitze niemand hochsteigt.«

      Lea hielt sich, um von der Sonne nicht geblendet zu werden, eine Handfläche vor die Stirn.

      »Doch, dort unten kommt tatsächlich jemand!«, rief sie aus und setzte dann ihr Fernglas an die Augen. »Eine Frau und ein Mann, beide mit Rucksack. Puh, werden die schwitzen auf dem steilen Weg in praller Sonne!«

      »Ich kann es mir lebhaft vorstellen!«, lachte Maja mit.

      Zehn Minuten später waren die beiden Wanderer auf gleicher Höhe wie die Studentinnen angelangt. Aus einem Abstand von vielleicht zweihundert Metern winkten sie ihnen freundlich zu und setzten dann ihren Aufstieg fort.

      Lea nahm nochmal das Fernglas. »Den Mann kenne ich doch. Aber woher bloss? Den habe ich ganz sicher schon öfter in Bern gesehen. Wo könnte das nur gewesen sein?«

      »Hör am besten auf nachzudenken«, schlug Maja vor, »dann fällt es dir bald von selber ein.« »Du hast recht. Machen wir uns wieder an die Arbeit?«

      »Liebe Herr und Frau Vontobel, willkommen in unserem Hotel auf dem Gornergrat, dem schönsten Aussichtspunkt der Schweiz!« Hotelassistentin Patrizia Werlen streckte den verschwitzten und staubigen Wanderern die Hand entgegen. »Sind Sie wirklich den ganzen Weg zu Fuss hier heraufgekommen?«, fragte sie mit einem leisen Zweifel in der Stimme.

      »Oh ja«, bestätigte Claudia Vontobel und strich sich die feuchten blonden Haare aus der Stirn, »wir sind geübte Bergwanderer und regelmässig in Zermatt im Urlaub. Auch auf dem Gornergrat waren wir schon etliche Male.«

      »Aber… hier übernachtet haben Sie noch nie?«

      »Nein, das ist ein Geburtstagsgeschenk für meinen Mann.«

      Patrizia Werlens Augen begannen zu leuchten. »Oh, was für eine originelle Idee für ein Geschenk! Dann scheint ja Ihre Partnerschaft unter einem guten Stern zu stehen.«

      Etwas verlegen blickten sich die beiden Angesprochenen in die Augen.

      »Hier ist Ihr Zimmerschlüssel«, fuhr die Assistentin fort, »ab sieben Uhr werden Sie zum Abendessen erwartet, und das Frühstück können Sie zwischen sieben und zehn Uhr geniessen. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Aufenthalt bei uns im Hochgebirge. Und übrigens… Falls Sie eine romantische Ader haben: Sonnenuntergang ist heute um zwanzig Uhr sechsundfünfzig, Sonnenaufgang morgen um sechs Uhr elf.«

      »Oh, danke«, antwortete Claudia, »wir werden uns gerne danach richten…«

      Bruno und Barbara Fuchs verbrachten ihren Zermatter Urlaub schon zum siebten Mal im Hotel Bellavista, einem kleineren, sehr sympathischen Familienbetrieb. An Mahlzeiten wurde im Hotel nur das Frühstück angeboten. Aber was für ein Frühstück! An einem solchen Selbstbedienungsbuffet konnte man sich kaum sattsehen! Es war aussergewöhnlich reichhaltig und so exzellent, dass der Gast es kaum schaffte, die Morgenmahlzeit irgendwann auch wieder zu beenden. Der Hoteldirektor hatte früher als Koch gearbeitet und liess es sich nicht nehmen, Brot und Gebäck für das Frühstücksbuffet selber herzustellen. Das Buffet quoll beinahe über an Köstlichkeiten: Brote, Brötchen und Gebäck in jeder Grösse und Geschmacksrichtung, eine grosse Auswahl an Käse und Fleischwaren, hausgemachte Konfitüren, Fruchtsäfte, frische Früchte, Joghurt und Müsli in diversen Variationen. Ganz exquisit und ein Geheimtipp waren auch die hausgemachten, federleichten und herrlich aromatischen Amaretti, welche die Gäste den ganzen Tag über zum Naschen verlockten.

      Überhaupt war die Atmosphäre im Hotel sehr familiär und gastfreundlich, so dass die allermeisten Gäste schon bald zu Stammgästen wurden und das Hotel auch fleissig weiterempfahlen. Das Haus war in traditionellem Walliser Stil gebaut, das Erdgeschoss gemauert und alle höheren Stockwerke aus Holz. Jedes Zimmer hatte einen mit Geranienkästen geschmückten Balkon. Von weitem wirkte deshalb die Fassade des Hauses wie ein einziges rotes Blütenmeer. Auch die gute Lage des Hotels trug zum Wohlbefinden bei. Es lag am Hang, etwas oberhalb des Dorfes, und wenn man vom Zimmer auf den Balkon hinaustrat, überblickte man den ganzen Talkessel von Zermatt mit den umliegenden Berghängen und dem majestätischen Matterhorn als Krönung.

      Barbara und Bruno Fuchs wählten für ihr Abendessen jeden Tag ein anderes der unzähligen Restaurants im Dorf aus. Heute hatten sie Lust auf ein original Walliser Raclette und gingen in die in der Bahnhofstrasse gelegene Walliserstube. Schon beim Eintreten schlug ihnen der Duft von geschmolzenem Käse entgegen. Eines war klar: Hier etwas anderes als Fondue oder Raclette essen zu wollen, wäre keine gute Idee gewesen! Bruno und Barbara bekamen einen hübschen Zweiertisch am Fenster und bestellten die traditionelle Vorspeise, eine Auswahl an Walliser Trockenfleisch mit Roggenbrot und dazu eine Flasche einheimischen Rotwein. Auch zum anschliessenden Raclette tranken sie, entgegen der Tradition, lieber roten als weissen Wein. Das Raclette selbst hingegen wurde ganz nach alter Sitte zubereitet. Im offenen Kamin prasselte ein Holzfeuer, und davor standen vier metallene Ständer, auf denen je ein halber Käselaib, jeder mehrere Kilo schwer, so befestigt war, dass die Schnittfläche des Käses sich dem Feuer zuwandte. Sobald die Schnittfläche durch die Hitze genügend weich geworden war, wurde die oberste Schicht Käse mit einem langen Messer direkt auf einen Teller abgeschabt. Neben den geschmolzenen Käse wurden zwei kleine Schalenkartoffeln und eine Salzgurke platziert, und der Teller dem Gast so als Portion Raclette serviert. Die meisten Gäste würzten dann ihren Käse noch mit Pfeffer aus der bereitstehenden Mühle.

      Je nach Restaurant wurde entweder jede Portion separat verrechnet, oder man konnte Raclette à discrétion bestellen und für einen fixen Preis essen, soviel man wollte.