Название | Fremde und Fremdsein in der Antike |
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Автор произведения | Holger Sonnabend |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783843806756 |
»Fern von Italien lieg ich und fern von der Erde der Heimat von Tarent – das ist mir bitterer als noch der Tod.«
Um 265 v. Chr. stirbt der Schauspieler Aristion. Er wird in Athen bestattet. Sein Grab ziert, neben der Darstellung einer Theatermaske, der folgende Text:
»Ich liege hier, mein Vater ist Aristaios aus Troizen
Mit 40 Jahren habe ich meines Lebens Strecke beendet und bin,
als dritter geboren, als erster gestorben.
Mir haben das Grabmal gesetzt Schwester und Bruder
im fremden Festland, und ich war ohne Nachkommen.
Mein Name aber war: Aristion. Ich übte die Kunst der Komödie aus.«
Nicht jeder, der in der Fremde starb, bekam auf dem Grabstein so schöne, eindrucksvolle Abschiedsworte. In allen drei angeführten Fällen waren Lyriker am Werk, die entweder im Auftrag der Familie arbeiteten oder die sich als Verfasser von Musternekrologen betätigten. Gemeinsam ist diesem speziellen Genre des Epigramms der Umstand, dass der Verstorbene oder die Verstorbene selbst spricht und sich auf diese Weise an die Öffentlichkeit wendet. Die Grundstimmung ist Trauer – Trauer wegen des Todes, mehr aber noch Trauer darüber, in fremder Erde liegen zu müssen, und nicht in Tarent im Süden Italiens oder in Troizen, einer griechischen Stadt in der Argolis. Diese Trauer hatte noch einen besonderen Grund: Die Familien der Verstorbenen hatten keine Gelegenheit, sich regelmäßig um die Grabstätte zu kümmern, sie zu pflegen, der Toten zu gedenken. Wie wichtig dieser Aspekt in der griechischen Gesellschaft war, zeigt der Umstand, dass in Athen nur diejenigen ein öffentliches Amt antreten durften, die zuvor den Nachweis erbracht hatten, dass sie über ein Familiengrab verfügten.
7. Unter göttlichem Schutz: Asyl bei den Griechen
Sollen sich Fremde in der Fremde so verhalten wie die Einheimischen? Oder sollen sie in der Fremde ihre gewohnte Kultur und Mentalität beibehalten? Je nach Standpunkt spricht man von gelungener oder nicht gelungener Integration.
Alle, die die erste Option bevorzugen, sollten sich Alkibiades zum Vorbild nehmen. Über den Athener, der im 5. Jahrhundert v. Chr. zu den schillerndsten Figuren in der griechischen Politik gehörte, weiß sein antiker Biograf Plutarch zu berichten (Alkibiades 23):
»Es war, wie man sagt, eine seine vielen Begabungen und Talente, die Menschen dadurch zu gewinnen, dass er sich ihnen anzugleichen, ihren Neigungen und Lebensformen anzupassen vermochte, indem er sich schneller wandelte als ein Chamäleon … In Sparta war er ein großer Sportler, einfach und ernsthaft, in Ionien war er üppig, vergnügt und leichtfertig, in Thrakien ein heftiger Zecher und Reiter, und wenn er bei dem [persischen] Statthalter Tissaphernes war, stellte er durch seinen verschwenderischen Prunk den persischen Luxus in den Schatten.«
In Sparta ein Spartaner, in Ionien ein Ionier, in Thrakien ein Thraker, in Persien ein Perser – Alkibiades wusste, mit welchem Lebensstil er bei seinen jeweiligen Gastgebern Sympathien sammelte. Allerdings ging es ihm, wenn er sich den jeweiligen Verhältnissen anpasste, ganz und gar nicht darum, den fremden Kulturen Respekt zu bezeugen. So war er nicht gestrickt. Alkibiades interessierte nur Alkibiades. Er war der Typus von Politiker, der bei allem, was er tut, an sich und seinen Vorteil denkt. Die Anpassung an andere Sitten und Gebräuche war ein taktisches Mittel, um seine politischen Ziele zu erreichen. Dabei scheute er gelegentlich auch nicht davor zurück, das Gastrecht grob zu missbrauchen.
Plutarch berichtet von einer Affäre mit Timaia, der Ehefrau des Königs Agis von Sparta (Alkibiades 23). Als der königliche Gemahl einmal außer Landes war, stürzte sie sich in ein amouröses Abenteuer mit Alkibiades, mit der Folge, dass einige Monate später ein Kind zur Welt kam. Agis rechnete nach und kam zu dem Ergebnis, dass er selbst unmöglich der Vater sein konnte:
»Er verließ sich vor allem auf die Berechnung der Zeit. Bei einem Erdbeben sei er voller Schrecken aus der Schlafkammer von der Seite seiner Frau hinaus gerannt und sei dann zehn Monate nicht mehr mit ihr zusammen gewesen.«
Es gibt berechtigte Zweifel an der Echtheit der Geschichte. Wahrscheinlich war sie von Gegnern des Alkibiades in die Welt gesetzt worden. Sie zeigt aber zumindest, was man ihm alles zutraute.
Alkibiades lebte in Sparta als Asylant. Er hatte bei den Spartanern Zuflucht gesucht, weil er in seiner Heimatstadt Athen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Die Spartaner, eigentlich Konkurrenten der Athener, nahmen den prominenten Gast auf und gewährten ihm politisches Asyl.
»Aus Furcht vor seinen Feinden und sich ganz von seinem Vaterland lossagend, schickte er nach Sparta und bat, ihm Sicherheit und Vertrauen zu schenken. Er werde ihnen größere Dienste leisten und ihnen mehr hilfreich sein, als er ihnen als Feind früher geschadet habe.«
Das geschah nicht uneigennützig. Man befand sich im Krieg mit Athen und erhoffte sich von dem prominenten Gast nützliche Ratschläge, die die Spartaner auch prompt erhielten. Auch bei ihnen stellte Alkibiades seine Fähigkeit zur völligen Anpassung unter Beweis und präsentierte sich als vollkommener Spartaner:
»Er gab sich in seiner Lebensweise ganz lakonisch, so dass sie, wenn sie sahen, wie er sich die Haare lang wachsen ließ, kalt badete, dem groben Brot zusprach und die schwarze Suppe aß, nicht denken konnten, dass dieser Mann jemals einen Koch in seinem Haus beschäftigt, einen Parfümeur seines Anblicks gewürdigt oder einen milesischen Mantel an seinem Leib geduldet haben sollte.«
Die Grundidee des Asyls bei den Griechen bestand darin, einen verfolgten Fremden unter göttlichen Schutz zu stellen. Der Begriff ist von dem griechischen Verb sylao abgeleitet, was so viel bedeutet wie »etwas herausnehmen, etwas gewaltsam entfernen«. Die Vorsilbe a negiert den Vorgang, und so bedeutet die asylía den Schutz vor Raub von Freiheit und Eigentum. Asyl zu gewähren, war ebenso eine Verpflichtung wie die körperliche Unversehrtheit des Asylanten zu garantieren. Wer bei einem Gott Schutz suchte, hatte Anteil an der göttlichen Tabuzone. Folgerichtig waren bevorzugte Anlaufstationen für Asylanten Tempel oder der Temenos, wie man das heilige, meist weit dimensionierte Areal eines Tempels in seiner Gesamtheit bezeichnete. Die Aufenthaltsdauer war nicht begrenzt: Im Prinzip konnte ein Asylant »ewig«, bis an sein Lebensende, im Tempel bleiben. Solche Fälle sind allerdings nicht überliefert. Absoluter Rekord waren die 19 Jahre, die der spartanische König Pleistoanax in einem Zeus-Heiligtum im Lykeion-Gebirge in Arkadien zubrachte (Thuk. 5,16), wo er die Hälfte des Tempelareals bewohnte. Anlass war der Vorwurf gewesen, er habe sich, als er mit einem Heer der Spartaner nach Attika gezogen war, von dem athenischen Politiker Perikles bestechen lassen und den Feldzug abgebrochen. Die erbosten Spartaner verurteilten ihn zur Zahlung einer hohen Geldsumme, die der König nicht aufzubringen vermochte, und daraufhin habe er sich in die Obhut des Gottes Zeus begeben. Nach 19 Jahren kehrte er in die Heimat zurück, aufgrund eines göttlichen Spruches der Pythia in Delphi, der sicher nicht ohne tatkräftige Hilfe seiner Anhänger zustande gekommen war.
Das Asylrecht, das aufgrund allgemeiner Konvention befolgt wurde, war den Griechen heilig. Wer es verletzte, galt als Frevler. Um 640 v. Chr. versuchte der Athener Kylon, ein Olympiasieger, in seiner Heimatstadt eine Tyrannen-Herrschaft zu errichten. Er besetzte mit seinen Freunden die Akropolis, wurde dort aber von seinen Gegnern belagert (Thuk. 1,126):
»Sie rückten mit dem ganzen Aufgebot von den Dörfern her gegen sie an und legten sich um die Akropolis, um sie einzuschließen. Auf die Dauer war freilich den meisten diese Belagerung zu aufreibend. Sie zogen ab und gaben den neun Archonten Auftrag und Vollmacht, die Bewachung und alles nach bester Einsicht zu ordnen … Aber Kylon und seine Mitbelagerten waren wegen des Mangels an Nahrung und Wasser übel dran. Er selbst und sein Bruder konnten fliehen, die anderen in ihrer Bedrängnis, und da einige schon an Hunger starben, setzten sich als Schutzflehende an den Altar auf der Akropolis. Als die mit der Wache beauftragten Athener sie im Heiligtum hinsterben sahen, befahlen sie ihnen, aufzustehen, sie würden ihnen nichts tun. Dann führten sie sie ab und töteten sie.«
Plutarch (Solon 12) liefert weitere Details:
»Die