Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1). Claire Legrand

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Название Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1)
Автор произведения Claire Legrand
Жанр Книги для детей: прочее
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Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783038801207



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zu den Arbeitslagern des Imperiums verschifft noch in den Jungferntrakt des Palastes des Lords von Orline verschleppt worden. Darüber wäre geredet worden, das hätte irgendwelche Spuren hinterlassen.

      Diese kürzlich verschwundenen Mädchen waren einfach geholt worden. In einem Moment waren sie noch da gewesen und im nächsten verschwunden.

      Anfangs war Eliana das gleichgültig gewesen. Aus ihrem Stadtviertel war noch niemand weggeholt worden, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass das Imperium seine bevorzugten Bürger jemals entführen würde. Ihre Familie war in Sicherheit. Und deshalb war das alles nicht ihr Problem.

      Aber je mehr Mädchen verschwanden und je mehr Geschichten sie über Frauen hörte, die sich scheinbar in Luft auflösten, desto schwerer fiel es ihr, die Lage zu ignorieren. So viele Schwestern waren fort, so viele Mütter – ihren Angehörigen entrissen, im Schlaf geraubt. Keine Verbrecher, keine Rebellen der Roten Krone.

      Und dann gab es diese Gerüchte, die sich in manchen Kreisen hartnäckig hielten, obwohl sie völliger Unsinn waren, über ein Loch im Himmel auf der anderen Seite der Welt. Vielleicht in Celdaria. Vielleicht in den Sunderlands. Jedes Gerücht erzählte etwas anderes. Und manche Leute glaubten, dass alles miteinander zusammenhing – das Loch im Himmel, die verschwundenen Mädchen.

      Eliana nicht. Ein Loch im Himmel? Das klang eher nach einer Befürchtung, die sich selbstständig gemacht hatte. Die Leute wurden tatsächlich so hysterisch, dass sie in uralten Legenden nach irgendwelchen Hinweisen und nach Trost suchten.

      Eliana weigerte sich, da mitzumachen.

      Dann hörte sie es wieder: ein zweiter Schrei. Näher diesmal.

      Eliana überkam ein ungutes Gefühl, ihr jagten heftige Schauer über den Rücken. Die Welt kippte, erstarrte und richtete sich wieder auf. Der süße Duft, den die weißen Blüten des Gemmabaums über ihrem Kopf verströmten, roch auf einmal ranzig.

      Harkan verlagerte leicht sein Gewicht. »Alles in Ordnung?«

      »Spürst du das nicht?«

      »Was soll ich spüren? Was ist heute Abend mit dir los?«

      »Da ist …« Die Ränder ihres Gesichtsfeldes flirrten wie bei einer Luftspiegelung. »Ich weiß auch nicht, was da ist. Als wäre ein Adatrox in der Nähe, nur noch schlimmer.«

      Als sie die Soldaten des Imperiums erwähnte, verlor Harkan seine Gelassenheit. »Ich sehe keine Adatrox. Bist du dir sicher?«

      Ein dritter Schrei – noch verzweifelter diesmal, und er wurde sofort erstickt.

      »Egal, wer das ist«, murmelte Eliana nervös und wütend, »sie sind in der Nähe.«

      »Was? Wer?«

      »Arabeths nächste Mahlzeit.«

      Eliana grinste Harkan kurz an, dann zog sie Arabeth aus der Scheide – einen langen Dolch mit gezackter Klinge, den sie an der Hüfte trug. »Zeit zum Spielen.«

      Nachdem sie einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild geworfen hatte, flitzte sie aus dem Verborgenen in die engen, schmutzigen Gassen der Unterstadt von Orline. Harkan rief ihr nach, doch sie ignorierte ihn. Wenn er sie aufhalten wollte, sollte er das ruhig versuchen, allerdings würde er dann in zwei Sekunden flach auf dem Rücken liegen.

      Eliana grinste. Das letzte Mal, als sie ihn so festgenagelt hatte, war auf seinem Bett gewesen.

      Sie konnte sich wirklich nicht entscheiden, welches Umfeld ihr besser gefiel.

      Jetzt wollte sie aber keinen Streit vom Zaun brechen. Nicht wenn sie einen Mädchenfänger jagen musste.

      Sie betrat die Brachen und schlüpfte zwischen geflickten Zelten und windschiefen Bretterbuden hindurch, hier und da glomm schwach eine Feuerstelle. Hinter dem Gelände schob sich der weite Fluss vorüber, Berge von schwärendem weißem Moos verstopften die Ufer.

      Als sie mit zehn Jahren zum ersten Mal in diesem Elendsviertel gewesen war, hätte sie sich beinahe übergeben, so schlimm war der Gestank. Das hatte ihr einen strengen Blick ihrer Mutter eingebracht.

      Heute, acht Jahre später, fiel ihr der Gestank kaum noch auf.

      Sie spähte in die Nacht. Ein Bettler leerte die Taschen eines ohnmächtigen Betrunkenen. Ein hagerer junger Mann, fein frisiert und gepudert, lockte eine Frau durch eine bemalte Tür.

      Wieder ein Schrei. Leiser. Sie waren auf dem Weg zum Fluss.

      Das Gefühl, das Eliana über den Rücken kroch, wurde klarer. Es war – anders ließ es sich nicht beschreiben –, als hätte es einen eigenen Willen.

      Sie stand vornübergebeugt, stützte sich auf den Knien ab und presste die Augen zusammen. Hinter ihren Lidern tanzten farbige Punkte. Neben ihr hatte jemand eine alberne Zeichnung von einer schwarz gekleideten, maskierten Frau auf einen ramponierten Stützbalken gekritzelt, die mit einem Messer in jeder Hand durch die Luft sprang.

      Obwohl dieses üble Gefühl ihre Sehkraft beeinflusste, musste Eliana grinsen.

      »Bei aller Liebe zu den Heiligen, was machst du da, El?« Harkan trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Was ist los? Bist du verletzt?«

      »Ich? Verletzt?« Sie musste stark gegen den Brechreiz ankämpfen. »Liebster Harkan.« Großspurig zeigte sie auf die Zeichnung. »Wie kannst du so etwas nur vom Fluch von Orline denken?«

      Und schon rannte sie los und sprang vom höchsten Stockwerk der Hafenanlage zu einem etwa dreißig Meter tiefer liegenden. Den Aufprall nahm sie nur als leichten Ruck wahr. Im Nu stand sie wieder auf den Beinen und rannte weiter. Bei einem solchen Sprung würde Harkan sich beide Beine brechen, er musste den langen Weg nach unten nehmen.

      Wenn Remy jetzt hier wäre, würde er sagen, dass sie sich nicht so auffällig verhalten sollte.

      »Die Leute bekommen das allmählich mit«, hatte er erst kürzlich zu ihr gesagt. »Ich habe sie in der Bäckerei reden hören.«

      Eliana hatte ausgestreckt auf dem Boden ihres Schlafzimmers gelegen und unschuldig »Was reden sie denn?« gefragt.

      »Wenn ein Mädchen mitten auf dem Gartenplatz drei Stockwerke tief herunterfällt und sofort wieder auf den Beinen ist, bemerken das die Leute normalerweise. Besonders wenn es einen Umhang trägt.«

      Beim Gedanken an ihre großen Augen und ehrfurchtsvollen Mienen hatte Eliana lächeln müssen. »Und was, wenn ich will, dass sie mich bemerken?«

      Remy hatte eine ganze Weile geschwiegen. Dann sagte er: »Willst du etwa, dass der Invictus kommt und dich mir einfach wegnimmt?«

      Daraufhin war sie verstummt. Sie hatte in das blasse, schmale Gesicht ihres kleinen Bruders geschaut und ihr war anders geworden.

      »Tut mir leid«, hatte sie leise gesagt. »Ich bin so ein Esel.«

      »Es ist mir egal, ob du ein Esel bist«, hatte er geantwortet. »Gib einfach nicht so an.«

      Sie wusste, dass er recht hatte. Das Problem war nur, dass sie gern angab. Wenn sie schon ein Sonderling mit wunderbarem Körper war, dem kein Sturz etwas anhaben konnte, wollte sie wenigstens ein bisschen Spaß damit haben. Dann blieb ihr auch keine Zeit, sich zu fragen, warum ihr Körper das alles konnte.

      Oder was das Ganze zu bedeuten hatte.

      Während sie durch die Hafenanlage rannte, folgte sie der Spur der Ungerechtigkeit wie dem Geruch einer Beute. Im untersten Stock des Gebäudes war es ruhig, die Sommerluft hing reglos und schwer zwischen den Mauern. Sie rannte um eine Ecke und um eine zweite – und hielt inne. Am Rand dieses wackeligen Piers wurde der Geruch, das Gefühl aufgewirbelt. Sie zwang sich weiterzugehen, obwohl ihr Magen rebellierte und ihr das Blut in den Ohren rauschte. Ihr ganzer Körper schrie geradezu, nicht näher hinzugehen.

      Dort am Rand des Stegs warteten zwei Gestalten – maskiert und in dunklen Reisekleidern – in einem langen eleganten Boot. Vermutlich Männer, ihrem großen, kräftigen Körperbau nach zu schließen. Eine dritte Person trug ein kleines