Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Название Dichtung und Wahrheit
Автор произведения Johann Wolfgang von Goethe
Жанр Языкознание
Серия Klassiker bei Null Papier
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962818869



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Zu­sam­men­künf­te, die man seit meh­rern Jah­ren Sonn­tags un­un­ter­bro­chen fort­ge­setzt hat­te, ge­stört. Die un­ter Ver­schwä­ger­ten ge­wöhn­li­chen Miss­hel­lig­kei­ten fan­den nun erst eine Form, in der sie sich aus­spre­chen konn­ten. Man stritt, man über­warf sich, man schwieg, man brach los. Der Groß­va­ter, sonst ein heit­rer, ru­hi­ger und be­que­mer Mann, ward un­ge­dul­dig. Die Frau­en such­ten ver­ge­bens das Feu­er zu tü­schen, und nach ei­ni­gen un­an­ge­neh­men Sze­nen blieb mein Va­ter zu­erst aus der Ge­sell­schaft. Nun freu­ten wir uns un­ge­stört zu Hau­se der preu­ßi­schen Sie­ge, wel­che ge­wöhn­lich durch jene lei­den­schaft­li­che Tan­te mit großem Ju­bel ver­kün­digt wur­den. Al­les an­de­re In­ter­es­se muss­te die­sem wei­chen, und wir brach­ten den Über­rest des Jah­res in be­stän­di­ger Agi­ta­ti­on zu. Die Be­sitz­nah­me von Dres­den, die an­fäng­li­che Mä­ßi­gung des Kö­nigs, die zwar lang­sa­men, aber si­che­ren Fort­schrit­te, der Sieg bei Lo­wo­sitz, die Ge­fan­gen­neh­mung der Sach­sen wa­ren für un­se­re Par­tei eben so vie­le Tri­um­phe. Al­les, was zum Vor­teil der Geg­ner an­ge­führt wer­den konn­te, wur­de ge­leug­net oder ver­fei­nert, und da die ent­ge­gen­ge­setz­ten Fa­mi­li­en­glie­der das Glei­che ta­ten, so konn­ten sie ein­an­der nicht auf der Stra­ße be­geg­nen, ohne dass es Hän­del setz­te, wie in »Ro­meo und Ju­lie«.

      Und so war ich denn auch preu­ßisch oder, um rich­ti­ger zu re­den, Frit­zisch ge­sinnt: denn was ging uns Preu­ßen an? Es war die Per­sön­lich­keit des großen Kö­nigs, die auf alle Ge­mü­ter wirk­te. Ich freu­te mich mit dem Va­ter un­se­rer Sie­ge, schrieb sehr gern die Sie­ges­lie­der ab und fast noch lie­ber die Spott­lie­der auf die Ge­gen­par­tei, so platt die Rei­me auch sein moch­ten.

      Als äl­tes­ter En­kel und Pate hat­te ich seit mei­ner Kind­heit je­den Sonn­tag bei den Gro­ß­el­tern ge­speist: es wa­ren mei­ne ver­gnüg­tes­ten Stun­den der gan­zen Wo­che. Aber nun woll­te mir kein Bis­sen mehr schme­cken: denn ich muss­te mei­nen Hel­den aufs gräu­lichs­te ver­leum­den hö­ren. Hier weh­te ein an­de­rer Wind, hier klang ein an­de­rer Ton als zu Hau­se. Die Nei­gung, ja die Ver­eh­rung für mei­ne Gro­ß­el­tern nahm ab. Bei den El­tern durf­te ich nichts da­von er­wäh­nen; ich un­ter­ließ es aus ei­ge­nem Ge­fühl und auch, weil die Mut­ter mich ge­warnt hat­te. Da­durch war ich auf mich selbst zu­rück­ge­wie­sen, und wie mir in mei­nem sechs­ten Jah­re, nach dem Erd­be­ben von Lissa­bon, die Güte Got­tes ei­ni­ger­ma­ßen ver­däch­tig ge­wor­den war, so fing ich nun, we­gen Fried­richs Zwei­ten, die Ge­rech­tig­keit des Pub­li­kums zu be­zwei­feln an. Mein Ge­müt war von Na­tur zur Ehr­er­bie­tung ge­neigt, und es ge­hör­te eine große Er­schüt­te­rung dazu, um mei­nen Glau­ben an ir­gend ein Ehr­wür­di­ges wan­ken zu ma­chen. Lei­der hat­te man uns die gu­ten Sit­ten, ein an­stän­di­ges Be­tra­gen, nicht um ih­rer selbst, son­dern um der Leu­te wil­len an­emp­foh­len; was die Leu­te sa­gen wür­den, hieß es im­mer, und ich dach­te, die Leu­te müss­ten auch rech­te Leu­te sein, wür­den auch al­les und je­des zu schät­zen wis­sen. Nun aber er­fuhr ich das Ge­gen­teil. Die größ­ten und au­gen­fäl­ligs­ten Ver­diens­te wur­den ge­schmäht und an­ge­fein­det, die höchs­ten Ta­ten, wo nicht ge­leug­net, doch we­nigs­tens ent­stellt und ver­klei­nert; und so schnö­des An­recht ge­sch­ah dem ein­zi­gen, of­fen­bar über alle sei­ne Zeit­ge­nos­sen er­ha­be­nen Man­ne, der täg­lich be­wies und dar­tat, was er ver­mö­ge; und dies nicht etwa vom Pö­bel, son­dern von vor­züg­li­chen Män­nern, wo­für ich doch mei­nen Groß­va­ter und mei­ne Ohei­me zu hal­ten hat­te. Dass es Par­tei­en ge­ben kön­ne, ja dass er selbst zu ei­ner Par­tei ge­hör­te, da­von hat­te der Kna­be kei­nen Be­griff. Er glaub­te umso viel mehr Recht zu ha­ben und sei­ne Ge­sin­nung für die bes­se­re er­klä­ren zu dür­fen, da er und die Gleich­ge­sinn­ten Ma­ri­en The­re­si­en, ihre Schön­heit und üb­ri­gen gu­ten Ei­gen­schaf­ten ja gel­ten lie­ßen und dem Kai­ser Franz sei­ne Ju­we­len- und Geld­lieb­ha­be­rei wei­ter auch nicht ver­arg­ten; dass Graf Daun manch­mal eine Schlaf­müt­ze ge­hei­ßen wur­de, glaub­ten sie ver­ant­wor­ten zu kön­nen.

      Be­den­ke ich es aber jetzt ge­nau­er, so fin­de ich hier den Keim der Nicht­ach­tung, ja der Ver­ach­tung des Pub­li­kums, die mir eine gan­ze Zeit mei­nes Le­bens an­hing und nur spät durch Ein­sicht und Bil­dung ins Glei­che ge­bracht wer­den konn­te. Ge­nug, schon da­mals war das Ge­wahr­wer­den par­tei­ischer Un­ge­rech­tig­keit dem Kna­ben sehr un­an­ge­nehm, ja schäd­lich, in­dem es ihn ge­wöhn­te, sich von ge­lieb­ten und ge­schätz­ten Per­so­nen zu ent­fer­nen. Die im­mer auf ein­an­der fol­gen­den Kriegs­taten und Be­ge­ben­hei­ten lie­ßen den Par­tei­en we­der Ruhe noch Rast. Wir fan­den ein ver­drieß­li­ches Be­ha­gen, jene ein­ge­bil­de­ten Übel und will­kür­li­chen Hän­del im­mer von fri­schem wie­der zu er­re­gen und zu schär­fen, und so fuh­ren wir fort, uns un­ter ein­an­der zu quä­len, bis ei­ni­ge Jah­re dar­auf die Fran­zo­sen Frank­furt be­setz­ten und uns wah­re Un­be­quem­lich­keit in die Häu­ser brach­ten.

      Ob nun gleich die meis­ten sich die­ser wich­ti­gen, in der Fer­ne vor­ge­hen­den Er­eig­nis­se nur zu ei­ner lei­den­schaft­li­chen Un­ter­hal­tung be­dien­ten, so wa­ren doch auch an­de­re, wel­che den Ernst die­ser Zei­ten wohl ein­sa­hen und be­fürch­te­ten, dass bei ei­ner Teil­nah­me Frank­reichs der Kriegs­schau­platz sich auch in un­sern Ge­gen­den auf­tun kön­ne. Man hielt uns Kin­der mehr als bis­her zu Hau­se und such­te uns auf man­cher­lei Wei­se zu be­schäf­ti­gen und zu un­ter­hal­ten. Zu sol­chem Ende hat­te man das von der Groß­mut­ter hin­ter­las­se­ne Pup­pen­spiel wie­der auf­ge­stellt, und zwar der­ge­stalt ein­ge­rich­tet, dass die Zuschau­er in mei­nem Gie­bel­zim­mer sit­zen, die spie­len­den und di­ri­gie­ren­den Per­so­nen aber, so­wie das Thea­ter selbst vom Pro­sze­ni­um an, in ei­nem Ne­ben­zim­mer Platz und Raum fan­den. Durch die be­son­de­re Ver­güns­ti­gung, bald die­sen bald je­nen Kna­ben als Zuschau­er ein­zu­las­sen, er­warb ich mir an­fangs vie­le Freun­de; al­lein die Un­ru­he, die in den Kin­dern steckt, ließ sie nicht lan­ge ge­dul­di­ge Zuschau­er blei­ben. Sie stör­ten das Spiel, und wir muss­ten uns ein jün­ge­res Pub­li­kum aus­su­chen, das noch al­len­falls durch Am­men und Mäg­de in der Ord­nung ge­hal­ten wer­den konn­te. Wir hat­ten das ur­sprüng­li­che Haupt­dra­ma, wor­auf die Pup­pen­ge­sell­schaft ei­gent­lich ein­ge­rich­tet war, aus­wen­dig ge­lernt und führ­ten es an­fangs auch aus­schließ­lich auf; al­lein dies er­mü­de­te uns bald, wir ver­än­der­ten die Gar­de­ro­be, die De­ko­ra­tio­nen und wag­ten uns an ver­schie­de­ne Stücke, die frei­lich für einen so klei­nen Schau­platz zu weit­läuf­tig wa­ren. Ob wir uns nun gleich durch die­se An­ma­ßun­gen das­je­ni­ge, was wir wirk­lich hät­ten leis­ten kön­nen, ver­küm­mer­ten und zu­letzt gar zer­stör­ten, so hat doch die­se kind­li­che Un­ter­hal­tung und Be­schäf­ti­gung auf sehr man­nig­fal­ti­ge Wei­se bei mir das Er­fin­dungs- und Dar­stel­lungs­ver­mö­gen, die Ein­bil­dungs­kraft und eine ge­wis­se Tech­nik ge­übt und be­för­dert, wie es viel­leicht auf kei­nem an­de­ren Wege, in so kur­z­er Zeit, in ei­nem so en­gen Rau­me, mit so we­ni­gem Auf­wand hät­te ge­sche­hen kön­nen.

      Ich hat­te früh ge­lernt, mit Zir­kel und Li­ne­al um­zu­ge­hen, in­dem ich den gan­zen Un­ter­richt, den man uns in der Geo­me­trie er­teil­te, so­gleich in das Tä­ti­ge ver­wand­te, und Pap­pen­ar­bei­ten konn­ten mich höch­lich be­schäf­ti­gen. Doch blieb ich nicht bei geo­me­tri­schen Kör­pern, bei