Название | Pergamente und Papyri |
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Автор произведения | Hans Johan Sagrusten |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783438072429 |
Besonders deutlich ist die freie Nacherzählung in der Apostelgeschichte des Lukas. Dort finden sich so viele Zusätze im Text, dass das Buch an dieser Stelle ungefähr zehn Prozent länger als bei anderen Manuskripten ist. Aber auch hier wurden keine vollkommen neuen Erzählungen hinzugefügt. Es ist der Detailreichtum der Sprache, der das Buch umfangreicher macht.
Einige Forscher diskutieren, ob der eigenartige Text in der Apostelgeschichte eine ganz einfache Erklärung haben kann: Haben von Beginn an zwei verschiedene Versionen dieser Schrift existiert? Hat der Verfasser einen ersten Entwurf an Freunde geschickt, die daraufhin antworteten: »Gut geschrieben, aber es ist viel zu lang. Kürze mindestens zehn Prozent des Textes!«? Hat daraufhin der Verfasser, der traditionell Lukas genannt wird, das Manuskript noch einmal überarbeitet und einige Formulierungen gestrichen? Anschließend wäre die gekürzte Version zu den Schreibern geschickt worden. Parallel dazu kann einer dieser Freunde einige Kopien des langen ersten Entwurfs verbreitet haben, wodurch auch dieser in Umlauf geriet. Kann es sich so zugetragen haben?
Wir wissen es nicht. Jedoch kann nie ausgeschlossen werden, dass Unterschiede zwischen Texten eine so einfache und natürliche Erklärung haben. Wie auch immer: Es ist spannend, sich in die möglichen Geschehnisse der langen und vielfältigen Textgeschichte hineinzudenken.
Der Codex Bezae Cantabrigensis ist in der Tat eines der merkwürdigsten Teile des großen Puzzles der Manuskripte. Er hat einige Ecken und Kanten, durch die er schwerlich ins Bild passt, auch wenn Farbe und Form im Großen und Ganzen mit den anderen Teilen übereinstimmen. Würden alle Manuskripte solche Eigenarten aufweisen, wäre es schwer, festzustellen, wie der ursprüngliche Text des Neuen Testaments gelautet hat. Nun ist es aber vielmehr so, dass dieser Codex eine Art eigensinniger Löwenzahn ist, der sich in ein ordentliches Blumenbeet eingeschlichen hat und dort für Abwechslung sorgt. Das Buch ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt: Die Variationen zwischen den Manuskripten sind meist sehr gering und drehen sich um Details, wobei dieses Manuskript zeigt, wie groß die Unterschiede sein könnten.
Der Codex Bezae Cantabrigensis ist das prächtigste Manuskript dieses eigenartigen Texttyps. Der Wortlaut ist aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch viel älter als das Manuskript. So kann diese freie Form bereits vor dem Jahr 200 entstanden sein. Grund zu dieser Annahme liefern die frühesten Übersetzungen in andere Sprachen, in denen sich ähnliche Textvarianten finden: Dies betrifft die alten lateinischen, syrischen und armenischen Übersetzungen. Diese Textform wird oft als westlich bezeichnet, ohne dass man sie heute mit einem bestimmten geografischen Gebiet verbindet.
Dem unbekannten Theologen als Verfasser dieser freien Textform muss ein altes und sehr genaues Exemplar des Neuen Testaments vorgelegen haben. An vielen Stellen beinhaltet der Codex Bezae Cantabrigensis Varianten, die als sehr alt angesehen werden. An anderen Stellen weist das Buch Varianten auf, die sich in keinem anderen Manuskript finden. Es bietet somit eine ungewöhnliche Mischung aus alten Formen und neuen Varianten.
Ein Beispiel für Änderungen am biblischen Wortlaut ist die Harmonisierung von Details, die in mehreren Evangelien behandelt werden. Denn viele Erzählungen der vier Evangelien ähneln sich. Das gilt unter anderem für die Erzählung, wie Jesus fünftausend Menschen mit zwei Fischen und fünf Broten sättigte. Dieser Text steht in vier verschiedenen Versionen im Neuen Testament. Diese vier Versionen ähneln einander, sind aber nicht vollkommen gleich. Zwischen ihnen gibt es mehrere Unterschiede, ungefähr so wie bei vier Augenzeugen, die mit verschiedenen Worten von ein und demselben Ereignis berichten.
Werden derartige Texte von Hand abgeschrieben, kommt es häufig vor, dass die Schreiber die Unterschiede harmonisieren. Das kann unbewusst geschehen, weil der Schreiber den Markus-Text, wie er ihn in seiner Kirche gehört hat, gewohnt ist und daher einige der Wendungen in ein anderes Evangelium einbaut. Oder es kann bewusst geschehen, indem der Schreiber innehält und denkt: Fehlt in diesem Zitat von Jesus nicht ein Satz? Daraus schließt er, der vorhergehende Schreiber müsse den Satz ausgelassen haben, und schon wird er hinzugefügt. Auf diese Weise gleichen sich Wortlaut und Schreibweise der Evangelien immer mehr an.
Harmonisierungen sind in nahezu allen Manuskripten zu finden. Keines jedoch verfügt über mehr als der Codex Bezae Cantabrigensis. Ganze 1278 Harmonisierungen haben die Forscher in diesem Manuskript entdeckt. Das belegt, dass sich der Schreiber dem Original gegenüber vollkommen frei verhalten hat und den Text an das anpasste, was er im Kopf hatte und was rein sprachlich betrachtet am besten klang.
Dem Textforscher Philip Comfort zufolge muss diese Person »ein Theologe gewesen sein mit einer Vorliebe dafür, historische, biografische und geografische Details hinzuzufügen. Mehr als irgendein anderer war er entschlossen, die Zwischenräume in den Erzählungen zu verdichten, indem er ausfüllende Details hinzufügte«.4 Dieser Umgang mit dem Bibeltext kann schon vor der Entstehung des Codex Bezae Cantabrigensis aufgekommen sein, jedoch ist dieses Manuskript das älteste bewahrte Exemplar dieser Textform.
Besonders zwei Abschnitte machen den Codex für Textforscher zu einem wichtigen Manuskript. Er ist das erste Manuskript, das die beiden längsten Texte beinhaltet, die in den ältesten Manuskripten fehlen: das Ende des Markusevangeliums (Mk 16,9–20) sowie die Erzählung über die Frau, die des Ehebruchs überführt wurde (Joh 7,53–8,11). Das Manuskript ist damit ein Beleg dafür, dass diese beiden Texte zumindest im 5.Jahrhundert ihren Platz gefunden hatten.
Heute erscheint das Manuskript als ein schönes Buch. Wo Seiten fehlten, wurden neue eingesetzt, die Bögen wurden am Rücken zusammengenäht und zwischen zwei Deckel eingebunden. Die Restaurierung erfolgte 1965. Das Buch ist nunmehr fast ebenso prächtig wie einst, als es neu war. In der digitalen Bibliothek der Universität Cambridge kann man durch gute Aufnahmen aller 856 Seiten blättern.
Der Name des Manuskripts ist verzwickt. »Cantabrigensis« verweist auf den Aufbewahrungsort, die Universitätsbibliothek von Cambridge. Dort liegt es schon lange, genauer gesagt seit 1581, als Theodore Beza es als Geschenk übergeben hat. Der erste Teil des Namens weist selbstverständlich auf Beza. Dieser hatte das Manuskript im Laufe der wenigen Monate, in denen die Protestanten 1562/63 die Herrschaft über Lyon innehatten, in seinen Besitz gebracht und es schließlich mit in die Schweiz nach Genf genommen.
Als Theodore Beza das Manuskript an sich nahm, hatte es sich seit vielen Hundert Jahren in der Obhut des Irenäus-Klosters in Lyon befunden. Allerdings behielt Beza das Manuskript nicht sehr lange, lediglich bis 1581, als er es der Universität Cambridge vermachte. Dennoch trägt es seither seinen Namen. Beza selbst scheint es nicht für besonders wichtig gehalten zu haben. Zumindest nutzte er es nicht sonderlich, als er seine eigene Ausgabe des Neuen Testaments auf Griechisch veröffentlichte. Dieses Neue Testament erschien in sechs Ausgaben, wobei die ersten beiden ungefähr zu der Zeit herausgegeben wurden, als sich das Manuskript in Bezas Besitz befand, 1565 und 1582. Befürchtete er, die Menschen würden seine Textausgabe nicht mögen, wenn er all die ungewöhnlichen Varianten des Codex aufgenommen hätte?
Das Manuskript muss sich seit dem 9.Jahrhundert in Lyon befunden haben. Dort wurde es zum ersten Mal restauriert. Beschädigte Bögen wurden durch neues Pergament ersetzt, auf das der betroffene Text geschrieben wurde. Dies ist nachweislich in Lyon erfolgt. Erstens deutet die Handschrift darauf hin: In der Stadt hatte das Fragezeichen zu dieser Zeit einen bestimmten Schwung, gleichzeitig weist die spezielle blaue Tinte nach Lyon. Zweitens ist ganz klar, wer die Restaurierung durchgeführt hat. Im 9.Jahrhundert gab es in Lyon einen tüchtigen Wissenschaftler namens Florus, der für die Restaurierung und Rettung vieler alter Texte und Manuskripte bekannt ist. Er muss auch die feine Arbeit am Codex Bezae Cantabrigensis ausgeführt haben. Florus starb im Jahr 860, wodurch die Restaurierung auf Mitte des 9.Jahrhunderts datiert werden kann.
Aber nicht nur Florus hat Spuren im Manuskript hinterlassen. Vom 6. bis zum 12.Jahrhundert sind zehn verschiedene Schreiber auszumachen, die Berichtigungen an die Ränder, zwischen die Zeilen oder über den alten Text geschrieben haben. Das ist die höchste bekannte Anzahl an Korrektoren bei einem Manuskript. Angesichts der vielen Abweichungen des Manuskripts vom üblichen Bibeltext überrascht es nicht, dass den Menschen daran gelegen war, Korrekturen einzufügen. Denjenigen, die die Berichtigungen einfügten, lagen oftmals andere Manuskripte mit einem »normaleren« Text vor.
Wie alt ist das Manuskript? Heute sind die Forscher aufgrund einer Analyse der