Название | Ich bringe mich um! |
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Автор произведения | Klaus Kamphausen |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783831257126 |
Nichts steht dem im Wege, der sich seiner Umgebung entziehen will. Die Natur hält uns in ihrer Obhut, lässt uns aber reichliche Freiheit. Wem seine bedrängte Lage es noch erlaubt, der suche einen leicht erträglichen Ausgang; wem mehrere Mittel zur Hand sind, sich in Freiheit zu setzen, der treffe eine Auswahl und erwäge, welches das beste ist, um zur Freiheit zu gelange; für wen sich aber nur schwer eine Gelegenheit finden will, der greife zu dem ersten besten, mag es auch ungewöhnlich, mag es auch unerhört sein. Wem zum Tode der Mut nicht fehlt, der wird dazu auch Erfindungsgabe genug haben: Siehst du doch, wie auch die Sklaven niederster Sorte, wenn ihre traurige Lage sie zu dem Äußersten anstachelt, sich ermannen und die strengsten Wächter täuschen. Der ist ein großer Mann, der den Tod nicht nur über sich verhängt, sondern auch die Art desselben zu finden weiß. Ich habe dir aus dem gleichen Berufskreis mehrere Beispiele versprochen. Bei der zweiten Aufführung der Seeschlacht stieß sich einer der Barbaren die Lanze, die er zum Kampfe wider die Gegner empfangen hatte, tief in die Kehle. Er sagte sich: ,Warum, warum entziehe ich mich nicht schon längst jeder Macht, jedem Hohn? Jetzt habe ich eine Waffe, warum warte ich auf den Tod?‘ Dieses Schauspiel war umso großartiger, je ehrenvoller es für den Menschen ist, sterben als töten zu lernen. Wie steht es also? Einen Mut, den die Vertreter der niedrigsten und gefährlichsten Menschenschicht besitzen, sollen diejenigen nicht haben, die sich für solche Fälle durch anhaltendes Nachdenken unter Führung der Vernunft, dieser Lehrerin aller Dinge, gerüstet haben? Sie, die Vernunft, lehrt uns, dass das Schicksal mancherlei Eintrittsweisen in das Leben gestattet, dass das Ziel aber das gleiche ist und dass es nichts ausmache, welches der Ausgangspunkt dessen sei, was da kommt. Eben diese Vernunft rät uns, wenn es angeht, nach unserer Wahl zu sterben, aber im anderen Falle nach Maßgabe dessen, was in unserer Macht steht, und jedes sich bietende Mittel zu benutzen, um uns Gewalt anzutun. Es ist unrecht, vom Raube zu leben, aber nicht schöner als zu sterben durch das, was man durch Raub in seine Gewalt gebracht hat.“23
Dieser Text lässt sich nur in seiner Gesamtheit wiedergeben, weil eine Verkürzung auch eine Verfälschung des Sinns bedeuten würde. Aber selbst die vollständige Widergabe des Textes verhindert nicht, dass dieser Text falsch verstanden wird.
Seneca nimmt in diesem Text kein Blatt vor den Mund. Sprache und Inhalt sind extrem. Auch wenn Seneca hier ungeschminkt über Selbsttötung spricht, seine Philosophie, seine Lehren erzählen von den Mitteln und Wegen des Weisen, sein Leben durch die Vernunft in Gelassenheit und mit Seelenfrieden zu meistern. Aus seinen Lehren spricht eine große Liebe zu einem tugendhaften
Leben.
Weder Seneca noch die Philosophie der Stoa stellen dem Menschen einen Freibrief auf ein allgemeines Recht zur Selbsttötung aus. Nur unter ganz bestimmten Bedingungen und in bestimmten Situationen räumen sie dem Menschen die Freiheit ein, sich zu töten. Diese Bedingungen beziehen sich vor allem auf den Verlust der Freiheit (Leben in der Tyrannei) oder auf den Verlust des freien und vernünftigen Bewusstseins aufgrund von Krankheit, Qualen und Schmerz.
Aber ob die Stoa dem Menschen das Recht einräumt, sich ohne äußeren Druck und Zwang zu töten, bleibt zu bezweifeln.
Auch Seneca selbst handelte auf Befehl (Zwang) von Nero, so wie Sokrates nach dem Todesurteil der Geschworenen. Beide begingen Selbsttötung auf Zwang, aber sie handelten bewusst, töteten sich selbst, um der Hand des Henkers zu entkommen.
Von der Scham zur Sünde
Die Philosophie der Stoiker hatte zahlreiche Anhänger im antiken Rom. Die Liste der Menschen, die sich selbst getötet haben und sich dabei auf die Stoa beriefen, war dementsprechend lang.
Der Verlust oder drohende Verlust von Ehre, Macht oder Freiheit waren häufige Motive in der politischen Oberschicht:
Cassius, einer der Hauptverschwörer gegen Caesar, ließ sich von seinem Sklaven umbringen.
Cato der Jüngere tötete sich mit dem Schwert, nachdem Caesar im Bürgerkrieg den Sieg davongetragen hatte.
Porcia, Gattin des Brutus und Tochter von Cato, beendete ihr Leben durch Selbsttötung, nachdem sie vom Tod ihres Gatten erfahren hatte.
Es könnte der Eindruck entstehen, dass im antiken Rom die Selbsttötung gesellschaftlich geduldet wurde, dass sie fast an der Tagesordnung war und in Einzelfällen gar ehrenhaft.
Aber wie häufig war die Selbsttötung in der Antike wirklich? Manche Wissenschaftler wie Anton van Hooff haben für die Antike eine Selbstmordquote von 0,02 pro 100.000 Menschen errechnet.24 Im Vergleich dazu lag die Selbstmordrate in Deutschland 2009 mit 11,7 pro 100.000 Einwohnern um ein Vielfaches höher.
Wirklich exakt beschreiben – weder Zahlen noch ein konkretes Bild – lässt sich die Selbsttötung in der Antike nur schwer. Die meisten Quellen zum Thema sind literarischer Natur: Schriften von Philosophen, Geschichtsschreibern oder Dichtern. Sie vermitteln eine Wertvorstellung, eine Ethik und Moral der Menschen im alten Griechenland und Rom und lassen nur indirekte Schlüsse auf das Bild der Gesellschaft zu.
Richtig ist, es gab im antiken Rom weder Gesetze noch religiöse Vorschriften, die die Selbsttötung ausdrücklich untersagten. Das römische Recht billigte allerdings keine Selbsttötung oder den Versuch der Selbsttötung, wenn diese mutwillig oder aus niedrigen Motiven passierten.
So konnte zum Beispiel ein Soldat, der versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, mit dem Tod bestraft werden. Bürger, die für schuldig befunden wurden, dass sie aus niederen Motiven und von eigener Hand aus dem Leben geschieden waren, wurden selbst nach erfolgreicher Selbsttötung enteignet. Sie verloren Ehren, Hab und Gut. Sklaven oder Bedienstete, die nicht versucht hatten, den Selbstmord ihres Herren zu verhindern, wurden ebenfalls mit dem Tod bestraft.
Ein Beispiel für letzteren Fall ist der Leibarzt von Kaiser Hadrian: Um der drohenden Todesstrafe zu entkommen und um seinen heiligen Eid nicht zu brechen, beging der Leibarzt von Kaiser Hadrian Selbstmord. Der Kaiser, der sich selbst töten wollte, hatte seinen Arzt zuvor um Hilfe für seine beabsichtigte Selbsttötung gebeten.
Wie ist diese Tat aus Sicht der heutigen Zeit zu verstehen?
Wie verdutzt wäre der Patient, der seinen Arzt um Sterbehilfe bittet, und dieser dann, weil er der Bitte seines Patienten nicht nachkommen kann, Selbstmord begeht?
Dieser Vergleich, diese Frage klingt am Anfang fast lächerlich. Aber sie soll zeigen, wie schwer es ist, die Antike mit dem Heute zu vergleichen, und natürlich umgekehrt, wie schwer es ist, aus dem Heute heraus das Denken und Handeln der Menschen in der Antike wirklich zu verstehen.
Vor der altrömischen Rechtsprechung und in den Augen der Gesellschaft entschuldbare Gründe für eine Selbsttötung waren:
Rache des Schwachen (exsecratio).
Demonstrative Selbsttötung (iactatio).
Selbsttötung unter Zwang (necessitas).
Lebensüberdruss (taedium vitae).
Plötzliche Geistesverwirrung (furor).
Nichtertragen eines körperlichen Leidens (impatientia dolores).
Ergebenheit (devotio).
Treue (des Untergebenen) (fides).
Trauer (dolor).
Verzweiflung (desperatio).
Schuldbewusstsein (mala conscientia).
Scham (pudor).
Eine genauere Beschreibung dieser Motive findet sich wiederum bei Anton van Hooff.25 Er hat diese Motive auch in akribischer Kleinstarbeit nach der Häufigkeit ihres Vorkommens unterteilt und kommt zu dem Schluss:
„Es ist wohl kein Zufall, dass der Kategorie des ,shame‘ (Scham) der größte Anteil zukommt, während ,guilt‘ (Schuldbewusstsein) in der Form der mala conscientia die kleinste Motivkategorie darstellt. Es lassen sich leicht