Название | Das edle Herz |
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Автор произведения | Karmapa Dorje Ogyen Trinley |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783942085403 |
Die meisten Menschen empfinden eine besondere Zuneigung zu ihren Eltern. Warum ist das so? Das Gefühl von Nähe und Liebe entsteht gewöhnlich einfacher zu ihnen als zu anderen Personen, weil sie sich um uns gekümmert haben, zu unserem Wohlergehen beitrugen und uns halfen, zu wachsen.
Meines Erachtens sind alle Menschen wie Eltern zu uns. Wenn wir genau hinschauen, stellen wir fest, dass alle Menschen, denen wir begegnen, auf unterschiedlichste Weise, direkt und indirekt, zu unserem Wohlergehen beitragen. Viele, ganz unterschiedliche Menschen kochen unsere Mahlzeiten, sorgen für ein Dach über unserem Kopf und nähen die Kleidung, die uns schützt. Sie bringen uns von A nach B, erfinden Medizin, die uns heilt, lehren und helfen uns, auf eigenen Füßen zu stehen und zu wachsen und zu gedeihen. Zahllose Menschen sind auf diese Weise unser ganzes Leben hindurch wie Eltern zu uns. Doch normalerweise betrachten wir sie nicht so, vielleicht auch deshalb, weil wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf ihre elterlichen Qualitäten richten. Keiner von ihnen tritt hervor und sagt: »Hallo, ich bin eigentlich wie eine Mutter zu dir.« Und auch wir schütteln niemandem die Hand und sagen: »Hallo, Sie sind wie ein Vater zu mir.«
Aber wenn wir uns all dessen bewusst sind, was wir von anderen erhalten, erkennen wir die vielen Beziehungen, in denen andere Menschen wie Eltern zu uns sind. Dann können wir ihnen mit mehr Güte begegnen, und wir können ihnen mit der gleichen Liebe begegnen, die zwischen Mutter und Kind herrscht. So werden wir imstande sein, unsere wechselseitige Abhängigkeit zu umarmen und uns das Bedürfnis anderer Menschen nach Glück zu Herzen zu nehmen. Weil jeder Mensch Liebe braucht, steht es in unserer eigenen Macht, das Leben anderer zu verbessern, indem wir ihnen geben, wonach sie sich sehnen: Liebe.
Eine grenzenlose Sicht
Ich glaube, dass diese erweiterte Perspektive essentiell für die Gestaltung eines sinnvollen Lebens ist. Was macht ein sinnvolles Leben aus? Eine große Frage, deren Beantwortung einen weiten Horizont, einen Blick weit über unsere eigene begrenzte Existenz hinaus erfordert. Eine Beschränkung auf unseren persönlichen Bereich und unsere individuellen Sorgen wäre hierfür viel zu kurzsichtig.
In meinem eigenen Leben gab es schon viele unerfüllte Wünsche und ich könnte viele Gründe für meine Unzufriedenheit aufzählen. Im Unterschied zu anderen Menschen meines Alters wurden einige der wichtigsten Entscheidungen, mein Leben betreffend, von anderen getroffen. Dies begann damit, dass ich im Alter von sieben Jahren als Karmapa erkannt wurde. Schon früh lastete eine große Verantwortung auf mir und in der Erfüllung meiner Pflichten begegneten mir manche großen Herausforderungen und Hindernisse. Natürlich ist es frustrierend, nicht alles tun zu können, was man will bzw. was von einem erwartet wird. Doch dies macht mein Leben nicht sinn- oder hoffnungslos. Es ist meine Entscheidung, wie ich mit diesen Herausforderungen und Hindernissen umgehe.
Die Vorstellung, das Leben sei sinnlos, wenn die eigenen Wünsche nicht in Erfüllung gehen, ist recht engstirnig. Ein solches Denken offenbart ein bloßes Kreisen um sich selbst und eine sehr begrenzte Sicht auf sich selbst. Selbst wenn uns unser Leben sinnlos erscheint, weil unsere individuellen Wünsche nicht erfüllt werden, verfügen wir immer noch über unendlich viele Möglichkeiten. Das ist so, weil unser Leben weit über unser individuelles Erleben in einem bestimmten Moment hinausreicht.
Unser Leben ist groß und umfassend. Es hat seine Grenzen nicht in unserer persönlichen Erfahrung. Es ist nichts Greifbares oder Begrenztes. Ich denke nicht, dass es sinnvoll ist, unser Leben als etwas zu betrachten, das nur auf uns begrenzt ist – als würde menschliches Leben nur so weit wie der menschliche Körper reichen. Nein, was wir sehen können, ist, dass das Leben sich in alle Richtungen ausbreitet wie ein Netz, das sich ausdehnt. Auf diese Weise erstreckt sich auch unser Leben und berührt und durchdringt viele andere Leben. Unser Leben kann ein allgegenwärtiger Teil jedes anderen Lebens werden.
Ich glaube, dass uns das Leben nur dann sinnlos erscheint, wenn wir es als auf uns persönlich begrenzt wahrnehmen. Blickte ich so auf mein eigenes Leben, könnte es mir recht bedeutungslos erscheinen. Diesen großen Namen zu tragen, aus Tibet zu flüchten und all die Anstrengungen seither – all dies wäre bedeutungslos, ginge es nur um eine Person: um mich! Doch wenn ich mein Leben als etwas Umfassenderes betrachte und erkenne, dass ich in der Lage bin, Glück und Freude, und sei es nur in das Leben einer einzigen anderen Person zu bringen, weiß ich, dass mein Leben sinnvoll ist.
Wenn Sie anderen Glück und Freude schenken, wird das auch auf Ihr eigenes Leben zurückstrahlen. Die Sinnhaftigkeit Ihres Lebens ergibt sich nicht aus Ihnen als abgetrenntem Individuum. Sie kommt von Ihnen, aber nur durch Ihre Verbundenheit mit anderen. Von daher verleiht wechselseitige Abhängigkeit Ihrem Leben Sinn.
Die Kunst besteht darin, das richtige Gleichgewicht zwischen den eigenen Bedürfnissen und dem, was Sie anderen wünschen, herzustellen. Dafür ist es notwendig, die eigenen Bedürfnisse zu reflektieren. Wenn Ihre Bedürfnisse und Wünsche stark selbstbezogen sind, kann sich kein Gleichgewicht einstellen, denn Sie selbst sind immer nur ein Teil Ihres eigenen Lebens. Erst wenn es Ihnen gelingt, dem Wohlergehen anderer den gleichen Rang einzuräumen, kann ein Gleichgewicht entstehen. Jedes heilsame Projekt schließt den Wunsch ein, anderen zu nutzen. Ist ein Projekt egozentrisch und nur am eigenen Wohl orientiert, kann ein Gleichgewicht nur schwerlich erreicht bzw. gehalten werden. Natürlich müssen Sie auch für sich sorgen, doch nicht um den Preis der völligen Missachtung anderer. Was immer Sie erreichen, sollte nicht auf Kosten anderer geschehen.
Drei Ziele
Wenn wir uns genauer ansehen, was im Allgemeinen unsere Bestrebungen lenkt, so sind dies entweder Ziele, die vollkommen egoistisch oder vollkommen auf andere gerichtet sind bzw. eine Mischung aus beiden darstellen. Unsere Erfahrungen unterscheiden sich fundamental, je nachdem, ob wir egoistische, altruistische oder solche Ziele anstreben, die beides enthalten.
Wenn wir ausschließlich unsere eigenen Interessen verfolgen, vernachlässigen wir andere Menschen und begegnen ihnen mit Geringschätzung. Diese Einstellung drückt sich in der Haltung aus: »Ob es anderen nun gut geht oder nicht – solange ich zurechtkomme, ist alles in Ordnung.« Doch das ist nicht nur bedauerlich, sondern realitätsfremd. Diese Haltung führt zu nichts, denn unsere wechselseitige Abhängigkeit bedeutet, dass das Verfolgen selbst der egoistischsten Ziele andere Menschen involviert und Konsequenzen für sie hat. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass totaler Egoismus selbstzerstörerisch ist.
Verfolgen wir Ziele, die sowohl unseren eigenen Interessen als auch denen anderer Menschen entsprechen, erkennen wir unsere wechselseitige Abhängigkeit an. Darin drückt sich die Haltung aus: »Ich möchte meine Ziele erreichen, doch das sollte andere nicht am Erreichen ihrer Ziele hindern. Ich hoffe, ihr Streben ist ebenso erfolgreich wie meins.« Wenn wir uns um uns selbst kümmern, sollten wir respektieren, dass andere das auch tun.
Bei der dritten Art von Ziel haben wir ausschließlich die Interessen anderer im Blick. Wenn wir nur die Wünsche und Ziele anderer wertschätzen, opfern wir willentlich unsere eigenen Ziele, falls wir sehen, dass dies anderen nutzen mag. Es ist schwer, eine altruistische Haltung zu entwickeln, und noch schwerer, sie zu praktizieren. Doch wir sollten Altruismus nicht damit verwechseln, unser eigenes Leben vollständig aufzugeben und unsere eigenen Interessen stets außer Acht zu lassen. Es geht vielmehr um eine geistige Einstellung, bei der wir bewusst auf unsere eigenen Wünsche verzichten. So wird Altruismus zu einer edlen Haltung, indem wir unser Leben vollständig dem Dienst an anderen widmen. Es mag schwierig für uns sein, dies unmittelbar in Handlungen auszudrücken. Es geht eher um eine Einstellung, die wir anstreben können.
Für sich und andere sorgen
Die folgenden zwei Geschichten, die ich erzählen möchte, dienen als Beispiele dafür, was es mit dem Verfolgen eigener Ziele in der Konsequenz auf sich haben kann. Die erste handelt von einem zweiköpfigen Adler, nennen wir ihn einen amerikanischen Seeadler. Wie wir aus