Im Schatten der Depression. Dirk Biermann

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Название Im Schatten der Depression
Автор произведения Dirk Biermann
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783867813327



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eine Dynamik, die wenig lässt, wie es ist, die den Wandel und die Aufforderung zum persönlichen Wachstum in sich trägt. Depression berührt die Persönlichkeit aller Beteiligten. Bewusst oder unbewusst. Ob man sich dafür öffnen mag oder nicht.

      TEIL 1

      Sehen, wie es ist

      ALLES, WAS ICH MACHE, IST FALSCH:

      Angehörige und die Ohnmacht der Gefühle

      Woran erkennt man eine Depression? Warum entsteht sie? Was hält sie aufrecht? Und wie kriegt man sie wieder weg? Fragen wie diese erhalten in einem durchschnittlich gesunden Leben meist wenig Raum. Warum auch? Das Thema „Depression“ ist dunkel und geheimnisvoll und entzieht sich damit den Alltagswünschen nach leichten, nicht zu tief reichenden Gesprächen. Wenn die Depression an die eigene Haustür klopft oder an die eines nahestehenden Menschen, ändert sich die Situation jedoch grundlegend. Dann führt dieses fehlende Wissen zu einer Menge Leid. Und das oft für lange Zeit. Denn wenn die vielfältigen körperlichen Beeinträchtigungen, die sich meist am Anfang einer depressiven Episode melden, nicht mit den Veränderungen des inneren Erlebens in Zusammenhang gebracht werden, wird die Depression falsch oder gar nicht behandelt. Dies verzögert den Behandlungsbeginn und damit den Heilungsprozess.

      Manchmal werden die depressiven Symptome zwar erkannt, aber verschleiert und verheimlicht – aus Sorge, damit persönlich nicht klarzukommen, oder aus Angst vor den Reaktionen der Umwelt. Aus Unkenntnis werden depressive Symptome auch mit Charaktereigenschaften gleichgesetzt. Das macht das zwischenmenschliche Miteinander so kompliziert und anstrengend. Du bist immer so erschöpft, so negativ und gereizt, immer hast du was, ich komme gar nicht mehr an dich heran, monieren Angehörige und wenden sich ab. Dabei sind es die typischen Symptome einer bislang unerkannten Depression, die diesen irreführenden Eindruck bewirken können.

      Informationen, wie die Symptome einer Depression das tägliche Miteinander beeinflussen, sind für Angehörige oft entscheidend, um das veränderte Verhalten des depressiv leidenden Partners korrekt einordnen zu können. Das kann verhindern, dass sie Schlüsse ziehen, die sie so nicht gezogen hätten, wenn sie um die Grundregeln des depressiven Erlebens gewusst hätten.

      Aufseiten der direkt betroffenen Menschen kann die weitverbreitete Unwissenheit zum Wesen depressiven Erlebens zu einer jahrelangen Odyssee durch Allgemein- und Facharztpraxen führen. Irgendwie müssen die körperlichen Symptome doch erklärbar sein. Der nächste Arzt wird die Antwort kennen. Dass es etwas Psychisches sein könnte, wird häufig nicht erkannt und darüber hinaus nicht gern gehört. Die gesellschaftlichen und auch die eigenen Vorurteile gegenüber einer psychischen Erkrankung sind noch immer enorm.

      Anfangs ist das Verständnis groß

      Ist eine Depression erst diagnostiziert, sind die Unterstützungsangebote aus der Familie, von Freunden und Kollegen oft verständnisvoll und einfallsreich. Und dabei teils von Selbstüberschätzung geprägt. Wenn mein Partner von allein keine Lebensfreude mehr spürt, dann sorge ich eben dafür. Ein Strauß Blumen, der Sauna-Gutschein oder ein Wochenende in einem Romantik-Hotel auf dem Land haben doch immer geholfen. Mit einem Dicke-Freundinnen-Paket im Wellness-Hotel ist einer Depression aber nicht beizukommen. Eine Urlaubsreise verschärft die Symptome, statt sie zu lindern. Mitleid kommt auf. Und das im wahrsten Sinn des Wortes: Angehörige leiden mit den Betroffenen mit.

      Da Angehörige als sogenannte Gesunde über genügend Antrieb und Lebenskraft verfügen – und meist ohnehin nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen –, stürzen sie sich in Aktionen und unterstützen ihre kraft- und antriebslosen Partner auf allen Ebenen. Sie meinen es gut und übernehmen immer mehr Aufgaben. Lass mich machen, komm du erst mal wieder zu Kräften. Gleichzeitig engagieren sie sich emotional und machen ihren Partnern immer wieder Hoffnung.

      In dieser Phase leben Angehörige und Freunde permanent in einer Zwickmühle. Ärzte und Psychologen warnen zwar ausdauernd davor, eine therapeutische Rolle einzunehmen, doch als direkte Bezugspersonen sind sie meist derart intensiv an der Dynamik der Depression beteiligt, dass sie unversehens in diese Position hineinrutschen. Dabei nimmt die Unterstützung oft schleichend einen destruktiv gefärbten Charakter an, meist im Sinn eines Ich weiß besser, was gut für dich ist.

      Konkrete Hilfe wird vom depressiv leidenden Partner zwar gewünscht, zugleich aber abgelehnt und manchmal sogar geblockt. Das irritiert, und oft wissen sich die Angehörigen nicht anders zu helfen, als das Kontrollnetz immer enger zu knüpfen. Hält sie sich an meine Tipps? Nimmt er seine Medikamente? Und schon verstricken sie sich in der unübersichtlichen Dynamik der Depression mit ihren typischen Nähe-Distanz-Problemen.

      Zwei Faktoren machen es so schwierig:

      1. Angehörige möchten ihren Partnern, Freunden oder Kollegen gern helfen und gleichzeitig der depressiven Stimmung am liebsten entfliehen.

      2. Depressiv leidende Menschen suchen und fordern die Unterstützung ihrer Mitmenschen, hauptsächlich die der direkten Partner; sie scheinen jedoch alle Vorschläge abzulehnen.

      Auf dem Boden der Hilflosigkeit gedeihen die ersten Zweifel

      Der Verlauf einer beginnenden Depression kann dazu führen, dass sich die helfenden Angehörigen zunehmend hilfloser fühlen. Der eigene Anspruch an ein allgegenwärtiges Verständnis kann immer weniger aufrechterhalten werden, und irgendwann flüstern die ersten Zweifel: Kann er nicht, oder will er nicht? Spielt sie mir was vor? Hat er sich im Nichtstun eingerichtet und fühlt sich damit im Grunde ganz wohl? Will sie nur mein Mitleid und genießt es, dass ich für sie springe?

      Anfangs finden diese Fragen in einem inneren Monolog statt und diskreditieren schleichend die Glaubwürdigkeit des Partners. Dann ist es oft nur noch ein kleiner Schritt, bis konkrete Vorwürfe auf den Tisch kommen: Reiß dich endlich zusammen! Mach mir nichts vor, das ist doch alles Theater! Raff dich doch wenigstens dieses eine Mal auf! Du könntest, wenn du nur wolltest. Denk doch mal an die Kinder!

      Vorwürfe dieser Art sind unfair und werden der Realität der Depression mit ihrer grundlegenden biologischen und psychischen Verankerung nicht gerecht. Aber fast jeder Angehörige wird bestätigen, dass Gedanken wie diese irgendwann gedacht oder ähnliche Vorwürfe geäußert wurden. Nicht aus Bosheit, sondern weil die Situation so unübersichtlich und anstrengend ist. Vorwürfe wie diese sind Zeichen der inneren Not.

      Hier zum Verständnis einige weitere ungeschminkte Zitate von Angehörigen:

      • Er ist mir so fremd geworden.

      • Diese wortlosen Stimmungswechsel sind furchtbar.

      • Manchmal fing die Klagerei schon frühmorgens an, und ich war den ganzen Tag auf Trab, um ihn zu umsorgen. Dann wieder der totale Rückzug. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.

      • Ich muss alles dafür tun, dass es keinen Rückfall gibt. Noch eine Episode halte ich nicht aus.

      • Es war so anstrengend, immer so zu tun, als hätte ich alles im Griff und wäre gut gelaunt. Das war ich aber nicht. Doch was sollte ich tun? Einer musste doch die Stimmung aufrecht halten.

      • Ich habe Angst, dass er sich was antut.

      • Und immer wieder musste ich Termine absagen, weil es ihr plötzlich nicht gutging. Irgendwann hatte ich gar keine Lust mehr, mich überhaupt noch zu verabreden.

      • Ich weiß nicht, woher ich noch die Kraft für Verständnis nehmen soll.

      • Mit der Zeit habe ich gelernt, dass seine Reaktionen und die ständige Ablehnung nichts mit mir zu tun haben, aber es ist so anstrengend, nichts auf sich zu beziehen. Und stimmt das überhaupt? Oder mache ich mir damit etwas vor?

      • Und das Schlimmste ist: Alles, was ich mache, ist falsch.

      Deutlich wird in diesen Aussagen die subjektiv erlebte Lebensrealität und wie vielschichtig die Themen, Gefühle und Gedanken sein können. Zusammenfassend kann man sagen, Angehörige haben in Zeiten der Depression viel zu tun, viel zu geben und viel auszuhalten:

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