Dem Leben vertrauen. Rachel Naomi Remen

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Название Dem Leben vertrauen
Автор произведения Rachel Naomi Remen
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783867812856



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anwendbar. Die alte Frau blickte weiterhin zum Fenster, hielt ihr Gesicht halb von mir abgewandt und atmete leise. Schließlich gab ich auf und blieb mit dem Korb voller Glasperlen auf dem Schoß eine geschlagene Stunde einfach sitzen. Es war sehr friedlich.

      Die Stille wurde schließlich durch eine kleine Glocke unterbrochen, die das Ende der morgendlichen Beschäftigungsstunde anzeigte. Ich packte meinen Korb und wollte gehen. Aber ich war erst vierzehn, und die Neugier überkam mich. Ich wandte mich an die alte Frau und fragte: „Wohin schauen Sie eigentlich?“ Ich errötete sofort. Es war strikt verboten, die Nase in das Leben der Heimbewohner zu stecken. Vielleicht hatte sie es ja nicht gehört. Anscheinend aber doch. Langsam drehte sie sich zu mir um, und ich sah zum ersten Mal ihr Gesicht. Es strahlte. Mit einer von Freude erfüllten Stimme sagte sie: „Nun, mein Kind, ich schaue zum Licht.“

      Viele Jahre später, als ich bereits Kinderärztin war, bemerkte ich, dass der Blick von Neugeborenen zum Licht denselben entzückten Ausdruck hat, fast so, als würden sie auf etwas lauschen. Zum Glück war mir damals im Altenpflegeheim nichts eingefallen, um die Stille zu unterbrechen.

      Eine 96-jährige Frau hört möglicherweise zu sprechen auf, weil Arteriosklerose ihr Gehirn zerstört hat oder weil sie an einer Psychose leidet und nicht mehr fähig ist, sich zu artikulieren. Es kann aber auch sein, dass sie sich in einen Raum zwischen der inneren und der äußeren Welt zurückzieht, um zu sinnieren, was als Nächstes kommt, und geduldig darauf zu warten, dass es ihr gelingt, das Licht einzufangen.

      Der Zufall hatte mich zu ihr geführt oder vielleicht die Gnade. Ich habe mich oft gefragt, was geschehen wäre, wenn ich als technisch hoch qualifizierte Ärztin, die ich in Kürze sein würde, an ihre Tür geklopft hätte. Sicher hätte ich dann nicht den Weg zu ihr gefunden, hätte nicht einfach mit ihr zusammensitzen können und hätte nichts über die absolute Stille und das Vertrauen ins Leben von ihr gelernt. Jetzt, viele Jahre später, hoffe ich, es zu können.

      Zwischen den Zeilen lesen

      Sara ist eine Frau, die genau wie ich seit vielen Jahren an der Crohn-Krankheit leidet. Im Laufe von dreißig Jahren hat sie über vierzehn Unterleibs- und Gelenkoperationen hinter sich gebracht. Das Ergebnis dieser Erfahrungen: Sie sah sich als Opfer. Als sie zum ersten Mal in meine Sprechstunde kam, war sie vor lauter Selbstmitleid chronisch depressiv und arbeitsunfähig. Aber das änderte sich mit der Zeit. Inzwischen arbeitet sie dreimal die Woche und nimmt wieder aktiv an dem turbulenten Leben ihrer Familie teil. Als sie ihre Sitzungen bei mir abschloss, kommentierte dies ihr Ehemann mit der Bemerkung, er habe das Gefühl, mit einer anderen Frau verheiratet zu sein.

      Ein Jahr, nachdem ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, bekam sie Schmerzen im Kiefer und suchte ihren Zahnarzt auf. Er stellte einen kleinen Abszess am Knochen fest und erklärte ihr, er müsse, um ihn zu entfernen, eine Wurzelkanaloperation durchführen. Als er ihr den Vorgang schildern wollte, stand sie abrupt auf und verließ seine Praxis. Einige Stunden später rief mich ihr Mann bestürzt an und sagte mir, er habe sie, als er von der Arbeit nach Hause kam, tief depressiv in ihrem Bademantel im Wohnzimmer sitzend vorgefunden. Er habe keine Ahnung, was los sei, und sie sei nicht bereit, mit ihm darüber zu reden. „Kommt vorbei“, sagte ich.

      Ich erschrak zutiefst über die Veränderung, die mit Sara passiert war; sie sah etwa so aus wie damals vor drei Jahren, als wir uns zum ersten Mal getroffen hatten: leblose Augen, ungekämmt, die Kleidungsstücke nicht zusammenpassend, als hätte sie das Erstbeste angezogen, was sie im Schrank gefunden hatte. In sich zusammengesunken, saß sie mir gegenüber. Mit matter Stimme berichtete sie, was sich am Nachmittag beim Zahnarzt ereignet hatte. „Es ist einfach zu viel. Ich kann das nicht machen“, sagte sie. „Diese Operation ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“

      „Was ist los mit Ihnen, Sara?“, fragte ich. Sie begann zu weinen. „Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Ich fühle mich genauso wie damals, als ich zum ersten Mal hierherkam, irgendwie überfordert, einfach niedergeschlagen.“ Ich schlug vor, es mit mentalen Bildern zu versuchen, die ihr schon einmal geholfen hatten. Vielleicht würden sie den Grund für ihren Kummer offenbaren. Tränenüberströmt stimmte sie zu.

      Ich redete ihr gut zu, und sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, um sich zu entspannen. Es dauerte einige Zeit, bis sie in der Lage war, dem vertrauten Muster zu folgen. Als ihr Atem langsamer und etwas tiefer wurde, schlug ich ihr vor, sie solle sich vorstellen, vor einer geschlossenen Tür zu stehen. „Wenn du bereit bist, streck die Hand aus und öffne die Tür“, sagte ich. „Auf der anderen Seite wirst du etwas sehen, was dir bei der Bewältigung deiner Gefühle helfen wird.“

      Nach dem Öffnen der imaginären Tür stellte Sara überrascht fest, dass sie sich in einem Krankenzimmer befand. Die Patientin im Bett war sie selbst. Sie lag im Koma, wie zu Beginn ihrer Krankheit vor dreißig Jahren.

      In den nächsten fünfzehn Minuten besuchte sie in ihrer Fantasie ein Krankenzimmer nach dem anderen. Langsam enthüllten sich ihr die Ereignisse ihrer langen Krankheit, sie sah Jahr um Jahr, Operation um Operation, Rückfall um Rückfall, Genesung um Genesung an sich vorbeiziehen. Während ich sie auf ihrem Weg begleitete, begann mein Sinn für Logik zu protestieren. Insgeheim fragte ich mich, ob dies der richtige Weg war, ihr zu helfen. Würde sie sich, wenn sie all dieses Leid noch einmal durchlebte, letztlich nicht noch mehr als hilfloses Opfer fühlen? Doch je weiter sie voranschritt, um so kräftiger wurde ihre Stimme, und sie begann, sich auf ihrem Stuhl aufzurichten. Als sie im Jahr 1988 angelangt und dabei war, sich ihre zwölfte Operation, bei der ihre gesamte rechte Hüfte ausgetauscht worden war, noch einmal zu vergegenwärtigen, öffnete sie plötzlich die Augen und brach in schallendes Gelächter aus. „Wurz-Kanal, Schnurz-Kanal“, wieherte sie und musste Tränen lachen. „Diese läppische Operation schaffe ich mit links.“

      Durch eine Rückschau auf ihre Leidensgeschichte gelang es Sara, die Geschichte hinter der Geschichte zu entdecken und den Sinn, der in den vertrauten Fakten und Ereignissen verborgen war, zu entdecken. Indem sie sich ihren Verletzungen stellte, wurde es ihr möglich, zu ihrer Kraft zurückzufinden, ihren unbezähmbaren Lebenswillen zu erfahren, ihren Mut und ihre Fälligkeit, sich selbst zu heilen. Vielleicht ist jedes „Opfer“ in Wirklichkeit ein Überlebender, der noch nichts von seinem Überleben weiß.

      Ein aufgestauter Fluss

      Anfangs reagierte ich auf körperliches Leiden und die damit verbundenen Einschränkungen mit Wut. Als ich mit fünfzehn sehr krank wurde, musste ich bei den einfachsten Handlungen zunächst meine Krankheit bedenken. Würde sie mir gestatten, ein Stück Käse zu essen? Würde ich die Kraft haben, diese Treppe hinaufzusteigen? Würde ich den Film bis zum Ende anschauen können, ohne wegen quälender Bauchschmerzen hinausgehen zu müssen? Diese Krankheit herrschte so autoritär über mich, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Sie ist noch immer die gestaltende Kraft in meinem Leben, formt es jedoch mit weitaus leichterer Hand.

      Vielleicht kann man nur als junger Mensch eine solche Wut, wie ich sie verspürte, empfinden. Ich hasste all die gesunden Menschen, hasste diejenigen in meiner Familie, die mir diese Gene vererbt hatten. Ich hasste meinen Körper. In diesem Zustand befand ich mich fast zehn Jahre lang.

      Kurz bevor das letzte Jahr meines Medizinstudiums begann, änderten sich die Dinge. Man hatte mir in einem guten Lehrkrankenhaus eine Stelle als Assistenzärztin angeboten. Doch meine Kraft reichte gerade noch zur Erledigung meiner Aufgaben. Wieder sah ich mich um einen Traum gebracht. An jenem Nachmittag begab ich mich zu dem alten Strandhaus, das zu unserer Klinik gehörte und sowohl von den Studenten als auch vom Personal benutzt wurde. Innerlich aufgewühlt, ging ich verdrossen am Ufer entlang, verglich mich selbst mit anderen meines Alters, mit Leuten von anscheinend grenzenloser Vitalität. So wollte ich auch sein. Ich erinnere mich daran, dass ich dachte, diese Krankheit hätte mir meine Jugend geraubt. Ich wusste noch nicht, was sie mir dafür gegeben hatte.

      Mein Inneres reagierte auf diese quälenden Gedanken mit einer Welle intensiver Wut, jenem Gefühl, das ich schon früher viele Male erlebt hatte. Aber aus irgendeinem Grund ertrank ich diesmal nicht darin. Stattdessen bemerkte ich, dass die Welle verebbte und etwas in mir sagte: „Du hast keine Vitalität? Hier ist deine Vitalität.“

      Erschüttert erkannte ich die Verbindung zwischen meinem Zorn und meinem