Mit Kindern neue Wege gehen. Lienhard Valentin

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Название Mit Kindern neue Wege gehen
Автор произведения Lienhard Valentin
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783867813129



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wir ständig auf der Suche nach dem, was wir „machen“ können, um unsere Schwierigkeiten zu lösen. Der heutige Mensch ist in seiner Ungeduld ständig versucht, Wachstums- und Reifeprozesse zu beschleunigen und sie möglichst kontrollieren zu wollen, und so liegt es nur nahe, Konzepte und Methoden zu entwickeln, die Eltern dabei helfen sollen, besonders intelligente, fähige oder sogar spirituelle Kinder heranzuziehen. Doch dieses „Machen“, diese Form des Aktivismus, kommt nicht aus einer wirklichen Einsicht, sondern mehr oder weniger vorschnell und pauschal, um eine Schwierigkeit oder eine beunruhigende Situation zu lösen. Aber wie heißt es so schön – unsere genialen Lösungen von heute sind allzu häufig unsere Probleme von morgen. Denn wenn wir in diese Art des Umgangs mit Kindern verfallen, sind wir nicht wirklich mit ihnen in Kontakt. Wir sehen weder sie noch die Situation – wir wenden uns vielmehr ab und suchen woanders nach der Lösung.

      Die vermeintliche Sicherheit, die wir uns erhoffen, wenn wir uns nach bestimmten Methoden oder Grundprinzipien im Umgang mit Kindern richten, ist trügerisch. Wir mögen vielleicht oberflächlich das Gefühl haben, sicheren Boden unter den Füßen zu haben und zu wissen, wo es langgeht, aber in Wahrheit werden wir taub und blind für das, was das Kind uns zeigt – für seine innere Wirklichkeit.

      Aus dieser Perspektive wird deutlich, daß wir uns auf das Elternsein nicht wirklich vorbereiten können. Wir können einfach nie wissen, was uns erwartet und welche Schritte sich auf unserem Weg ergeben. Immer wieder geht es darum, innezuhalten, uns wirklich zuzuwenden, versuchen wahrzunehmen, was sich in einer Situation zeigt, statt das Leben des Kindes nach unseren Vorstellungen zu bestimmen.

      Wenn sich aus einem Ansatz starre Prinzipien ergeben, so kann dies leicht zu unmenschlichem bis hin zu mehr oder weniger subtil gewalttätigem Verhalten führen. Ich möchte für dieses Phänomen ein paar Beispiele nennen, die verdeutlichen sollen, was hier gemeint ist:

      Sowohl im Ansatz von Emmi Pikler als auch in der Arbeit von Rebeca und Mauricio Wild geht es darum, die Autonomie des Kindes zu respektieren. Das heißt, daß wir es nicht überbehüten, daß wir ihm erlauben, seinen Weg selbst zu finden und uns nicht ständig mit unserem Wissen einmischen und zeigen, wie etwas „richtig gemacht“ wird. Wenn ein Kind zum Beispiel ein Spielzeug erkundet, das es noch nicht kennt, und wir sehen, daß es das Spielzeug nicht gleich auf die Art und Weise verwendet, wie es gedacht ist, mischen wir uns nicht ein, sondern halten uns zurück und lassen dem Kind die Möglichkeit, das Problem selbst zu lösen, statt mit unserem besseren Wissen einzugreifen und zu sagen: „Schau mal, so macht man das!“

      Auf diese Weise kann das Kind die Erfahrung machen, daß es seine selbstgestellten Aufgaben und Probleme auch selbst lösen kann. Im anderen Fall hätte es gelernt, daß es sich am besten an einen Erwachsenen wendet, der sowieso immer alles besser weiß. Insofern ist es sehr sinnvoll, daß wir unseren Impuls zu helfen hinterfragen – daß wir innehalten und erst einmal abwarten, was das Kind von sich aus tut. Wir begleiten es, mischen uns aber nur ein, wenn es überfordert ist oder sich selbst oder andere ernsthaft gefährdet.

      Diese innere Haltung zeugt von großem Respekt für die Autonomie des Kindes. Manchmal ergibt sich daraus aber auch ein Prinzip, eine neue Art von „Gebot“ für Eltern, das da heißt: „Du sollst nicht helfen.“ Auch dies kann dann fatale Auswirkungen haben.

      Ein etwa fünfzehnmonatiges Kind wurde von seinem Kindermädchen abgeholt, und es hatte sich schon sehr auf diesen Ausflug gefreut. Zutraulich streckte es den Arm aus und wollte an der Hand genommen werden. Das Kindermädchen folgte lächelnd dieser Aufforderung und wollte gerade aufbrechen, als die Mutter ihr sagte: „Bitte gib ihr nicht die Hand, ich möchte nicht, daß du ihr beim Laufen hilfst.“ Verunsichert ließ sie die Hand los, das Kind weinte und wurde dann auf folgende Weise in seinem Schmerz begleitet: „Ja, ich sehe, du möchtest an der Hand gehen, aber das lasse ich dich nicht!“

      Schließlich beruhigte sich das Kind und machte sich neben dem Kindermädchen „selbständig“ auf den Weg. Die gemeinsame Freude war verschwunden, aber das Prinzip blieb gewahrt. Die Mutter hatte das Gefühl, konsequent nach dem „Ansatz von Rebeca und Mauricio Wild“ gehandelt zu haben. Und eine Bekannte, die die Arbeit der Wilds ebenfalls kennt, war tief beeindruckt von der Konsequenz der Mutter.

      Ein anderes Beispiel: Ein Junge, der noch neu in einem alternativen Kindergarten war, neigte dazu, die Erwachsenen ständig für seine Zwecke einzuspannen, und schien sich sichtlich unsicher in der neuen Situation zu fühlen. Eines Morgens mußte er auf die Toilette und bat um Begleitung. Eine Praktikantin ging dann gemeinsam mit ihm auf die Toilette. Als er sein Geschäft schließlich erledigt hatte, bat er die Praktikantin: „Machst du mir die Hose und den Gürtel zu?“ Diese wollte gerade auf die Bitte eingehen, als eine Erzieherin hinter ihr rief: „Wir helfen hier nicht!“, und selbst den Platz der Praktikantin einnahm. Das Kind weinte, war wütend, aber die Erzieherin blieb einfach ruhig dabei, bis der Junge es schließlich doch noch schaffte, seine Hose selbst zuzumachen. Auch hier war die Praktikantin beeindruckt von der Konsequenz der Erzieherin und wußte zu berichten, daß der Junge ab diesem Zeitpunkt sehr verändert war, nicht mehr manipulierte und sich in die Struktur des Kindergartens einfügte.

      Was hat sich in diesen beiden Fällen nun wirklich abgespielt? Handelt es sich tatsächlich um eine angemessene, konsequente Begleitung, die die Autonomie des Kindes respektiert? Ich glaube das ganz und gar nicht!

      • Beginnen wir mit dem ersten Beispiel: Ging es hier um die autonome Bewegungsentwicklung? Das Kind konnte bereits frei gehen! Das Kindermädchen wollte das Kind also keineswegs aufstellen und ihm das Gehen beibringen oder ihm beim Gehenlernen helfen. Daß es an die Hand genommen werden wollte, war ein Ausdruck der Freude, sich nun gemeinsam auf den Weg machen zu können. Wenn ich mir diese Situation aus Sicht des Kindes ansehe, werde ich sehr traurig und resigniert: Meine Mutter läßt es nicht zu, daß mich das von mir so geliebte Kindermädchen an die Hand nimmt. Sie schimpft nicht, sie ist nicht böse mit mir, aber sie läßt die Freude in mir nicht leben. Ich fühle mich nicht autonom und selbständig, sondern verlassen, hilflos und ohnmächtig.

      • Im zweiten Beispiel ist die Antwort schon schwieriger, denn offensichtlich hat die Maßnahme ja funktioniert. Der Junge verhält sich nicht mehr so fordernd und fügt sich in den Ablauf des Kindergartens ein. Aber ich habe meine Zweifel, daß es sich hier um ein Beispiel erfolgreicher Konsequenz handelt. Daß etwas funktioniert, heißt noch lange nicht, daß es angemessen ist. Für mich ist es sehr viel wahrscheinlicher, daß auch dieser Junge innerlich resigniert hat, daß er aufgehört hat, um das zu kämpfen, was er eigentlich gebraucht hätte – was immer das gewesen sein mag. Ich habe nicht gesehen, wie der innere Zustand des Jungen nach diesem Vorfall wirklich aussah – ob er wirklich an innerer Sicherheit gewonnen hat.

      Anna Tardos sagte einmal: „Es ist grundsätzlich wichtig zu verstehen, daß wir Selbständigkeit vom Kind nicht erwarten oder gar fordern dürfen, sondern daß wir ihm die Möglichkeit geben, so selbständig zu sein, wie es das von sich aus möchte. Sie ist also ein Angebot und keine Forderung, es muß nicht selbständig sein, denn wir können darauf vertrauen, daß es selbständig werden wird, sich von uns lösen wird, seinen Weg gehen wird, wenn es dafür bereit ist – wenn die Zeit reif ist.“

      Bei anderer Gelegenheit erläuterte Anna Tardos in einem Elternseminar: „Wir sind sehr überzeugt von dem, was wir tun und wie wir es tun. Ich bitte Sie trotzdem, nicht einfach alles zu übernehmen, nur weil ich es gesagt habe und es vielleicht überzeugend klingt. Es ist immer besser für ein Kind, wenn seine Eltern etwas mit einem guten inneren Gefühl ‚falsch‘ machen, als sich einer Methode, einem Prinzip unterzuordnen und gegen das eigene Gefühl zu handeln.“

      Kurz gesagt bedeutet dies, das Kinder nicht unter unseren Prizipien leiden sollten. Für Prinzipien wurden Kriege geführt und Menschen getötet. Wenn wir Kindern auf wahrhaft menschliche Weise begegnen wollen, ist es unerläßlich, daß wir die vermeintliche Sicherheit, die uns solche Prinzipien geben, hinter uns lassen und uns den Kindern immer wieder von Neuem wirklich zuwenden.

      Wenn wir uns auf Prinzipien berufen und uns vorrangig an solchen orientieren, werden wir herzlos, so einleuchtend und richtig uns diese Prinzipien auch erscheinen mögen. Dies ist auch der Grund, warum es so wichtig ist, mit jedem Kind und jeder Situation wirklich in Kontakt zu treten, uns einzufühlen und zu lernen,