Aufwachsen in Geborgenheit. Bert Powell

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Название Aufwachsen in Geborgenheit
Автор произведения Bert Powell
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783867813570



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und unseren Wunsch, „die Welt zu verändern“, in die von uns gewünschten Bahnen zu lenken – und Emotionsregulation ist auch für Beziehungen super. Und das nicht nur, weil wir unserem tobenden Kleinkind nicht tatsächlich „den Hals umdrehen“ oder uns permanent über die „Unsensibilität“ unserer Freunde beschweren, wenn wir unsere Gefühle regulieren können, sondern auch, weil die Fähigkeit zur Co-Regulation von Gefühlen ein wichtiger Bestandteil von Intimität ist. Sie haben einen Arzttermin, vor dem Sie sich fürchten? Wenn Sie Ihren Partner oder einen engen Freund an Ihrer Seite haben, kann Ihnen das helfen, Ihre Angst (und das Cortisol) auf einem erträglichen Niveau zu halten. Haben Sie schon einmal an der Seite eines vertrauten Menschen einen Verlust betrauert und festgestellt, dass Ihr Kummer sich schneller verflüchtigte, als Sie es für möglich gehalten hätten? Falls ja, was fühlen Sie jetzt, während Sie sich an diesen Moment erinnern, in Bezug auf diesen Menschen?

      Ein warnender Hinweis: Verwechseln Sie „Emotionsregulation“ nicht mit dem Abwehren oder Unterdrücken von Gefühlen. In der Wiege einer sicheren Bindung lernen Babys und Kinder, dass Gefühle etwas Normales, Akzeptables und Nützliches sind. Allein die Akzeptanz eines Gefühls ist schon sehr wirksam, um zu verhindern, dass es außer Kontrolle gerät oder über seine Nützlichkeit hinaus weiter bestehen bleibt. Wir helfen unseren Babys, diese wertvollen Fertigkeiten zu lernen, indem wir während ihrer gesamten Erfahrung „mit ihnen sind“. Diesem Thema ist Kapitel 4 gewidmet.

      Achten Sie jedoch auch darauf, den Gefühlen Ihres Kindes nicht zu viel Priorität einzuräumen. In dem Versuch, für die emotionalen Bedürfnisse unsere Kinder sensibel zu sein, bringen wir ihnen manchmal unabsichtlich bei, dass jedes Gefühl, das sie haben, von überragender Wichtigkeit ist und „jetzt sofort“ beachtet werden muss – was aber in Wirklichkeit der Entwicklung von Resilienz entgegenwirkt.

      Ein Individuum werden – ohne allein zu sein

      Die kleinen Hände eines sechsjährigen Mädchens fingern an dem dünnen Docht herum, den ihr Vater an einen Kleiderbügel gebunden hat. Vor ihr steht der vertraute Einmachtopf der Familie, der jetzt warmes Wasser und einen Behälter mit flüssigem Wachs enthält. Vorsichtig und mit der nervösen Präzision einer Erstklässlerin taucht das Mädchen den Docht langsam in das leicht sprudelnde Wachs. Die erste Schicht ist kaum sichtbar, als sie ihn hochzieht und ihren Eltern zeigt. Der Vater spürt ihre Verunsicherung und vergewissert ihr, dass die Kerze nach und nach entsteht, wenn sie sie immer wieder eintaucht. Auch die zweite und die dritte Runde bringen noch kaum sichtbare Ergebnisse. Dann sieht das Mädchen plötzlich freudig überrascht, wie das Wachs an dem vor ihr baumelnden Docht haftet. Immer wieder taucht sie ihn ein. Und Immer wieder schaut sie hinüber, um das Lächeln in den Augen ihrer Mutter zu sehen, während die Kerze größer wird. Die Vergewisserung, die sie wenige Minuten zuvor noch zu brauchen schien, ist jetzt in ihr eigenes Wissen übergegangen, während sie den Prozess der Kerzenherstellung fortsetzt. Noch Monate, sogar Jahre später, wenn diese eine Kerze angezündet wird, kann sie die Vergewisserung, das Vertrauen, das Vergnügen und die Freude, die sie bei ihrer Herstellung erlebt hat, wieder spüren.

      Früh gelerntes Vertrauen wirkt sich sehr langfristig aus. Dieses sechsjährige Kind durfte sozusagen in der fürsorglichen Reaktion ihrer Eltern baden, eine Ressource, die sie seit dem Moment ihrer Geburt kennt. In ihren frühesten Jahren hat sie eine Einstimmung und eine Feinfühligkeit erfahren, die ihr erlauben, sich in ihrer Umgebung niederzulassen und darauf zu vertrauen, dass gut für sie gesorgt wird. Kleine Kinder brauchen die Sicherheit, dass jemand da ist, der sich verlässlich um ihre körperlichen und emotionalen Bedürfnisse kümmert. Vertrauen in sich selbst und Vertrauen in andere beruht stets auf der frühen Erfahrung, sich auf die Feinfühligkeit und die Zugänglichkeit mindestens einer ansprechbaren Bezugsperson verlassen zu können – mit anderen Worten, es beruht auf durch Bindung vermittelte Sicherheit. In der Entwicklungspsychologie wird die Entwicklung eines kohärenten Selbstgefühls – also die Entwicklung der Persönlichkeit, der Identität und so weiter – natürlich als ein wichtiges Ziel betrachtet. Wenn ein Elternteil feinfühlig und warmherzig auf die frühesten Bedürfnisse eines Kindes reagiert, wird das Selbst mit jeder Interaktion geformt, ähnlich wie der Docht, der so oft in das Wachs getaucht wird, bis die Kerze entstanden ist. Die Betonung liegt hierbei auf Interaktion, denn in dieser ersten Beziehung beginnt die Individuation des Babys, und durch alle weiteren Beziehungen in unserem Leben entwickeln wir uns weiter. Wenn die Bindung sicher ist, werden alle psychischen Fähigkeiten des heranwachsenden Kindes so gefördert, dass sie schließlich ein kohärentes Selbst bilden – eines, in dem die Erinnerungen und das Selbstbild eines Menschen in einem verständlichen Zusammenhang stehen mit der Geschichte, die ihn geprägt hat.

      Es mag paradox erscheinen, dass wir nur im Kontext anderer Menschen ein starkes Selbstgefühl entwickeln. Aber womöglich ist das ganz und gar nicht paradox: Ein Baby erkennt, dass es ein Individuum ist, wenn es sich dessen bewusst wird, dass es in diesem „Wir“ ein „Ich“ und ein „Du“ gibt. Eine sichere Bindung zu einem fürsorglichen Erwachsenen unterstützt das Baby, ein eigenständiges Individuum zu werden, und erspart ihm die Verwirrung und den Stress, allein und hilflos zu sein. Um die oft schwierigen und verwirrenden Erfahrungen, die mit dem Entstehen des Selbstgefühls einhergehen, zu bewältigen, braucht das Baby einen „anderen“, der für es da ist, der es versteht und einfühlsam reguliert. Wenn ein Kind viele Male die Erfahrung macht, getröstet und auf feinfühlige Weise angeregt und beruhigt zu werden, ist das ungefähr so, wie wenn der Docht des sich entwickelnden Selbst immer wieder in die Qualität der Beziehung zu den Menschen um es herum eingetaucht wird.

      Der Geist muss frei sein, damit er lernen kann

      Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass bei Kindern, die sich sicher und unterstützt fühlen, das Lernen fast von allein vonstattengeht. Wir Menschen sind von Natur aus neugierig, das muss uns nicht erst eingeredet werden. Man muss uns nicht abfragen, um unsere Wahrnehmung zu aktivieren („Welche Farbe ist das?“). Man muss die Kinder nur in ihrem eigenen, naturgegebenen Wunsch danach, etwas zu können, unterstützen. Dieser Wunsch wird ganz natürlich seinen eigenen Fokus und seine eigene Geschwindigkeit finden. Für den vierjährigen Jakob ist es derzeit ein über den ganzen Wohnzimmerboden verteilter Zoo voller Plastiktiere. Im Alter von sieben Jahren wird es dann möglicherweise das Spiel Minecraft auf dem iPad sein. Für einen anderen Siebenjährigen könnte es Malen und Zeichnen sein, oder ein Online-Spiel. Für die dreijährige Lei ist es, wenn sie nicht gerade auf dem Spielplatz ist, alles, was sie in kleine Menschen verwandeln kann, die das ausleben können, was auch immer ihr in den Sinn kommt. In zehn Jahren mag es dann die Konstruktionsweise der höchsten Gebäude der Welt sein, oder höhere Mathematik, von der ihre Eltern noch nie gehört haben.

      In der Minnesota-Studie wurde festgestellt, dass sicher gebundene Kinder offener und flexibler Probleme lösen, neue Situationen begrüßen und schwierigen Lernaufgaben mit weniger Frustration und Angst begegnen. Das ist wenig überraschend für uns. Zentral dafür, die Bedürfnisse eines Kindes zu erfüllen, ist die Haltung „Wir kriegen das zusammen hin“ – dass emotionale Schwierigkeiten innerhalb des „Und“