Auf leisen Sohlen. Horst Bosetzky

Читать онлайн.
Название Auf leisen Sohlen
Автор произведения Horst Bosetzky
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783955520274



Скачать книгу

spannend fanden die fünf den Zoo nicht, aber ihn zu besuchen war ebenso ein Berliner Ritual wie die alljährliche Dampferfahrt.

      Hermann erinnerte sich an einen Zoobesuch mit seinem Sohn Hartmut, als der noch klein gewesen war. Heute war Hartmut mit einem Kontaktverbot belegt, weil er in Ost-Berlin bei der MUK arbeitete, der Morduntersuchungskommission. «Hartmut hat damals gefragt: ‹Papa, kaufst du mir einen Elefanten?› Und als ich nachgefragt habe, wo wir das viele Futter für das Tier hernehmen sollten, hat Hartmut geantwortet: ‹Kein Problem, da steht doch Füttern verboten.›»

      Otto seufzte. «Schade, dass der Journalist vom Telegraf nicht mit ihm sprechen konnte. Das hätte so schön zur Überschrift gepasst: Die Verbrecherjagd liegt den Kappes im Blut

      Siegfried Heideblick verfluchte alle Montage. Der Rhythmuswechsel lag ihm gar nicht. Jeden Sonntag schlief er bis in die Puppen, und dann musste er montags um sechs Uhr aufstehen. Denn seitdem sein Vater Möbel-Heideblick gegründet hatte, hieß es: Der Chef hat als Erster im Geschäft zu sein. Dieses Prinzip hatte zur Folge, dass er sich auch nicht von Olaf Nonnenfürst, seinem Handelsvertreter und Fahrer, abholen lassen konnte. Ute musste noch eher in der Schule sein als er in seiner Firma, und so stand sie schon abmarschbereit im Flur, als er sich an den Frühstückstisch setzen wollte. Er küsste und umarmte sie. «Einen schönen Tag wünsche ich dir!»

      Als Ute gegangen war, schmierte er sich sein Paech-Brot. Er beneidete den Hersteller um die wunderbaren Werbesprüche, von denen er die meisten auswendig kannte. Besonders angetan hatte es ihm dieser:

       Schinken nützt nichts, Wurst und Ei,

       fehlt das Paech-Brot dir dabei.

       Moral: Dem Fleisch verfallen oder nicht

       auf Paech-Brot leiste nie Verzicht.

      Warum nur brachte ihm die Reklame für seine Möbel nicht auch so einen Erfolg ein? Er stellte sich vor, in der Hochbahn zu stehen und dort über den Sitzen statt der Sprüche von Paech die seiner Firma zu lesen. Er brauchte unbedingt einen Werbefachmann! Aber den konnte er nicht bezahlen.

      Heideblick stand auf, knallte die Wohnungstür hinter sich zu, schloss ab und lief zur Hobrechtstraße hinunter. Das Schild mit dem Namen Lenaustraße ärgerte ihn. Das war doch idiotisch, eine Straße in Neukölln, wo niemand Gedichte las, nach einem Dichter zu benennen, dazu noch nach einem österreichischen! Ringsum hießen die Straßen nach Berliner und Rixdorfer Kommunalpolitikern, etwa Hobrecht, Bürkner, Schinke, Pflüger und Sander. Warum dann ausgerechnet Lenau? In Gedanken hörte er Ute rufen: «Worüber du dich alles aufregen kannst!»

      Er überquerte die Sonnenallee und musste einen Straßenbahnzug vorbeilassen. Die 95 fuhr noch, während die 3, die in der Hobrechtstraße zwischen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee einen Halt gehabt hatte, schon eingestellt worden war. In einer Nische der Karl-Marx-Straße lag die Albert-Schweitzer-Schule, gehalten in den Farben des Grauen Klosters. Wie gern hätte er hier sein Abitur gemacht! Doch sein Vater hatte das nicht zugelassen. «Du wirst Tischler, sonst kannst du Möbel-Heideblick nicht richtig führen!», hatte der bestimmt. Die Karl-Marx-Straße … Dass die Neuköllner ihre gute alte Berliner Straße und die Bergstraße nach diesem Kommunisten benannt hatten, empörte Siegfried Heideblick Tag für Tag. Ohne Karl Marx keine DDR – und ohne DDR keine Mauer. Also musste sie seiner Meinung nach unbedingt rückbenannt werden.

      Heideblick ging die Karl-Marx-Straße in Richtung Rathaus Neukölln hinauf. Seine Firma lag zwischen der Reuter- und der Weichselstraße. Ein blassgelber Straßenbahnzug der Linie 47 kam ihm entgegen. Er betrat sein Geschäft durch den Eingang im Hausflur und nahm erst einmal hinter seinem Schreibtisch Platz. Wenn seine Angestellten nun nacheinander eintrudelten, sollten sie glauben, er hätte die ganz Nacht hier gesessen und gearbeitet.

      Als Erster erschien Olaf Nonnenfürst, ein rundlicher Typ, der wie ein Krapfen aussah.

      «Guten Morgen, Chef!», rief er beim Eintreten. «Haben Sie heute schon Zeitung gelesen?»

      «Nein. Wieso?»

      «Dann halten Sie sich mal fest!» Nonnenfürst warf ihm eine Morgenpost auf den Schreibtisch. «Ihr Onkel ist gestern in seiner Firma niedergestochen worden.»

      Heideblick war etwas verwirrt. «Welcher Onkel? Ich habe mehrere.»

      «Na, der Pillendreher, dieser Ludwig Wittenbeck.»

      Heideblick sprang auf. «Was?» Er nahm die Zeitung zur Hand, aber den drei Zeilen war nicht viel zu entnehmen. Also griff er nach seinem Telefonbuch, riss den Hörer von der Gabel und rief in Kladow an, dann versuchte er es in der Kaubstraße. «Da hebt keiner ab.»

      «Na, wenn er im Krankenhaus liegt oder vielleicht schon …» Nonnenfürst brach erschrocken ab.

      «… tot ist …», vollendete Heideblick den Halbsatz. «Mein Gott! Wir rufen jetzt mal bei allen Krankenhäusern ringsum an, in Kreuzberg, Schöneberg und Neukölln, und fragen nach ihm.»

      Sie brauchten keine fünf Minuten, dann hatten sie herausgefunden, dass Ludwig Wittenbeck im Urban-Krankenhaus lag.

      «Los, Nonnenfürst, holen Sie den Wagen, und fahren Sie mich hin! Bitte!»

      Über die Sonnenallee und die Urbanstraße waren sie in zehn Minuten am Ziel. Das Krankenhaus Am Urban war in offener Pavillonbauweise errichtet und 1890 eingeweiht worden. Ein zentraler Neubau war schon geplant, aber noch musste sich Heideblick mühsam durchfragen, ehe er seinen Onkel in einem der gelben Backsteinbauten gefunden hatte. «574 Betten ham wa hier, Meesta, und ick kann ma unmöjlich alle merken, die se bei uns einliefan tun.»

      «Gott, du Armer!», rief Heideblick, als er endlich auf dem Bettrand seines Onkels saß. Freie Stühle gab es nicht mehr, denn alle drei Zimmernachbarn Wittenbecks hatten ebenfalls Besuch. «Wo hat dich denn dieser Kerl getroffen?»

      Wittenbeck hob seine Bettdecke ein wenig an. «Zum Glück nur hier an der rechten Seite in den Bauch. Galle und Leber sind aber nicht verletzt. Es sah anfangs schlimmer aus, als es tatsächlich ist. Ich habe wirklich gedacht, dass ich sterben werde.»

      Heideblick strich ihm über die Hand. «Das ist ja schrecklich.»

      «Nein, das ist gar nicht schrecklich. Ich wäre gern gestorben.»

      «Du kannst doch Tante Gisela nicht allein lassen!», rief Heideblick.

      Der Onkel hatte plötzlich Tränen in den Augen. «Die hat mich doch verlassen und ist auf und davon. Darum wäre ich ja am liebsten tot. Die Einsamkeit da draußen in Kladow, und in der Kaubstraße ist es auch noch so leer – das alles ertrage ich nicht. Schade, dass der Kerl mich nicht richtig getroffen hat, dann wäre ich wenigstens von allem erlöst.»

      Uwe Dreetz hatte den Tresor der Pulmo Sanitatem Berlin in den Höfen am Südstern ohne große Mühe und ohne Schneidbrenner knacken können und neben einem Bündel grüner Banknoten auch einige Schmuckstücke erbeutet – Ringe, Armbänder, Broschen. Offenbar hatte dieser Wittenbeck geglaubt, sie seien in seiner Firma sicherer als bei ihm in Kladow oder in seinem neuen Haus in der Kaubstraße.

      Beim ersten Rendezvous war es Dreetz gelungen, Gisela Wittenbeck ein paar Schlüssel zu entwenden, um Nachschlüssel anfertigen zu lassen. Darunter waren die für die Firma ihres Mannes und für die Villen in Kladow und in der Kaubstraße. Wo genau sich diese dort befand, wusste er noch nicht, aber das ließ sich sicher irgendwie herausfinden. Noch würde Wittenbeck ja einige Zeit im Krankenhaus verbringen müssen. Dreetz verfluchte sich, weil er ihn niedergestochen hatte. Das war im reinen Affekt geschehen. Er war in Panik geraten, weil er sich in Gedanken schon wieder im Knast gesehen hatte. Er hatte nicht vorgehabt, Wittenbeck zu attackieren oder gar zu ermorden. Denn er wusste, dass die Aufklärungsquote bei Morden bei nahezu hundert Prozent lag, und er wollte den Rest seines Lebens nicht in der JVA Tegel verbringen.

      Dreetz nahm sich eine Taxe, um zu seinem Hehler zu fahren. Der Schmuck musste verhökert werden. Wahrscheinlich gehörte er Gisela Wittenbeck. Er überlegte, ob es klug war, sie heute Abend wiederzusehen. Oder sollte er besser untertauchen?