Grenzgänge. Jan Eik

Читать онлайн.
Название Grenzgänge
Автор произведения Jan Eik
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783955520243



Скачать книгу

derlei und manches andere behauptet.

      Charlotte fand einen Fensterplatz. Neugierig starrte sie nach draußen. Alles erschien ihr fremd, bis der Zug am Wedding hielt. Der Bahnhof hatte sich kaum verändert. Am liebsten wäre sie ausgestiegen und ein wenig in der vertrauten Gegend herumgeschlendert. Was hinderte sie eigentlich daran, es zu tun? Ein Verbot zu übertreten hatte sie in ihren jungen Jahren keine Sekunde Nachdenken gekostet.

      Sie war in Friedrichsberg aufgewachsen, einer Vorstadt im Osten, die seit ihrem Geburtsjahr 1908 auf keinem Pharus-Plan mehr auftauchte und heute zu Friedrichshain gehörte. Zu dritt bewohnten sie in der Kreutzigerstraße Stube und Küche im Hinterhof. Das Gewehr, das der Vater in den heißen Januartagen 1919 mit nach Hause gebracht hatte, blieb so lange in ihrer Matratze versteckt, bis das Kinderbett, dem sie ohnehin um einige Zentimeter entwachsen war, eines Nachts unter ihr zusammenbrach und das Geheimnis preisgab. Das magische Wort Partei, das im Zusammenhang mit dieser Waffe fiel, gehörte zum vertrauten Wortschatz in der Familie. Von Beruf war ihr Vater Parteiarbeiter, wie er der Zwölfjährigen geduldig auseinandersetzte, wobei er sie eindringlich ermahnte, die Partei bei eventuellen Befragungen ungenannt zu lassen.

      Als sie sechzehn wurde und die Inflation sich ebenso endgültig verflüchtigt hatte wie die Aussicht auf eine baldige revolutionäre Erhebung der Massen, gehörte sie selbst schon dazu, zum Apparat, in den sie wie selbstverständlich hineinwuchs. Als man den Vater fünf Jahre später zu den sogenannten Versöhnlern zählte und er nur nach harscher Selbstanklage mit einer gelinden Parteistrafe davonkam, verurteilte sie ihn scharf. Gewisser spezieller Aufgaben wegen hatte sie sich weitgehend von den Eltern abgenabelt. In Wahrheit stand sie gänzlich unter dem Einfluss des schwarzlockigen und absolut linientreuen jungen Genossen Jakob Menzel, dessen wahren Namen man ihr erst zehn Jahre später im Verlauf inquisitorischer Vernehmungen und in russischer Sprache vorhielt, so dass sie lange nicht begriff, von wem die Rede war. Ihre einzige Liebe, dieser furchtlose Kämpfer mit dem feurigen Blick aus den so verträumt schimmernden Augen, dem sie mehr vertraute als jedem anderen Genossen, hieß angeblich Isaak Mendel und war der Spionage für die verhassten Faschisten überführt. Diesem unbeirrbar geradlinigen Menschen, der sie nie belogen oder betrogen hatte, war sie blindlings nach Prag und schließlich – welch ein Glücksgefühl empfand sie! – direkt in die Hauptstadt der Welt gefolgt, wo inmitten all der Enge und täglichen Unruhe die gemeinsame Tochter das Licht der Welt erblickte. Mit welchem Stolz versuchte sie, die Urkunde in der noch fremden Schrift zu entziffern! Elka Jakubowna Menzel. Geburtsort: Moskau. Konnte es bessere Voraussetzungen für die Zukunft eines Kindes geben?

      Elka, die eigentlich Elke heißen sollte, war vier, als man Jakob verhaftete und wenige Tage später auch Charlotte vorlud, sie bedrohte, beschimpfte, ihr ins Gesicht schlug und ankündigte, sie ins Lager und Elke in ein Heim zu stecken, würde sie nicht zugeben, von Jakobs verräterischem Treiben gewusst, ja ihn dabei unterstützt zu haben. Halb wahnsinnig vor Angst um die bei der Zimmernachbarin zurückgelassene Tochter, war sie beinahe bereit, alles zu unterschreiben, was man ihr vorlegte, als der hasserfüllte Eifer des Vernehmers unerwartet erlahmte. Drei weitere schreckliche Wochen vergingen, bis man sie plötzlich aus dem düsteren Kerker eher verjagte als entließ. Erst vor wenigen Wochen hatte sie einen möglichen Grund dafür erfahren. Das Schreiben über Jakobs Rehabilitation verzeichnete den Tag ihrer letzten Vernehmung als den seines Todes in der Lubjanka.

      Unter all den fremden Frauen in der stinkenden, überfüllten Zelle hatte sie gelernt, mit der Verzweiflung umzugehen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie ihr blasses und verstörtes Kind wieder in die Arme schloss. Und ein wenig blieb ihr dieses Glück treu. Hielt jemand die Hand schützend über sie, damit sie nicht die Arbeit in der Fabrik und das dürftige Kämmerchen in der drangvollen Gemeinschaftswohnung verlor, in dem sie hausten? Frauen und Angehörige der Volksfeinde verschwanden spurlos in den Lagern, die Kinder in Heimen. Viele wurden nach Deutschland ausgeliefert, sie und Elke jedoch erst nach Kriegsausbruch in eine primitive Siedlung nahe Taschkent deportiert. Dort wären sie gewiss zugrunde gegangen, hätte es nicht den einflussreichen Genossen Max Weidner gegeben, der sich ihrer aus Berlin erinnerte. Ihm gelang es, sie als wichtige Mitarbeiterin nach Ufa mitzunehmen und später sogar zurück nach Moskau kommandieren zu lassen.

      Sie wusste, was sie Max zu verdanken hatte, der ihr in unbeholfenen Worten seine Liebe gestand und schwor, ihr ein treusorgender Ehemann und Elke ein guter Vater zu sein. Ein Wort, das er hielt, solange Elke mitspielte. Sie war dreizehn, als sie mit ihrer Mutter und Max nach Berlin kam und die Mädchen in ihrer Klasse sie als Russki hänselten, weil sie besser Russisch als Deutsch sprach.

      Diese Erinnerungen gingen Charlotte durch den Kopf, während sie aufmerksam ihre Umgebung beobachtete. In einem Anfall von Leichtsinn beschloss sie, erst in Witzleben auszusteigen, der Station nahe dem Funkhaus. Dort hatte sie in der Frauenredaktion gearbeitet und zusammen mit Max die Stellung verloren. Dass sie ihm an seine neue Wirkungsstätte folgte, wie er die Verbannung in Stralsund beschönigend nannte, schien ihr so selbstverständlich, dass Elkes Weigerung, mit ihnen in die Provinz zu ziehen, sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Elkes achtzehnter Geburtstag stand bevor, mit dem sie in der DDR ihre Volljährigkeit erreichen würde. Sie jedoch beharrte darauf, mindestens bis nach dem Abitur in der Charlottenburger Wohnung zu bleiben. Später begann sie zu Max’ und Charlottes Entsetzen an der vom Osten verachteten Spalteruniversität zu studieren.

      Erst da hatte Charlotte begriffen, wie weit ihr die Tochter inzwischen entglitten war, deren heftige Vorwürfe sie fassungslos über sich ergehen ließ. «Du hast mir nie gesagt, wo mein Vater geblieben ist und weshalb du selbst im Gefängnis warst! Weißt du überhaupt, wie ich mich damals in der schrecklichen Wohnung in Moskau gefürchtet habe?»

      Nein, darüber war selbstverständlich nie gesprochen worden. Allenfalls in Andeutungen, von denen Max und Charlotte geglaubt hatten, Elke überhöre sie. Im Übrigen nahm die Partei Elkes Entschluss erstaunlich gelassen zur Kenntnis. Das war für Max das Wichtigste. Ihm fiel es ohnehin schwer genug, sich an seinem neuen Arbeitsplatz Respekt zu verschaffen. Die Museumsleute waren ein reaktionäres Völkchen besonderer Art, die dem Genossen aus Berlin und seinen revolutionären Vorstellungen von der Kunst mit Argwohn, ja mit eindeutiger Ablehnung begegneten. Bei der Untersuchung eines Brandes im Museum stellte sich heraus, wie ungenügend Max über viele Vorgänge informiert war. Vermutlich war der Brand gelegt worden, um einen Einbruchdiebstahl in das nicht ausreichend gesicherte Depot zu verdecken. Max’ Rückberufung nach Berlin kam gerade zur rechten Zeit und ersparte ihm weiteren Ärger.

      Als Charlotte aus dem Bahnhof trat, galt ihr Blick zuerst der vertrauten Silhouette des Funkturms. Sie war niemals dort oben gewesen, nicht einmal im Restaurant. Anfangs hatte sie es sich immer wieder vorgenommen, aber Max riet ab. Später verboten die politischen Umstände solche Absichten. Nur von der anderen Straßenseite aus sah sie die Menschenmassen, darunter viel zu viele aus dem Osten, zur alljährlichen Industrieausstellung in die Messehallen strömen.

      Sie wandte sich nach links und bog wie gewohnt in die Wundtstraße ein, an deren oberem Ende Elke wohnte. Hoffentlich begegnete ihr kein Bekannter von früher. Aber wer erinnerte sich nach sieben Jahren noch an eine unscheinbare ältere Frau, die hier zweimal am Tag vorbeigehastet war? Zu den Nachbarn, die dem Zonenrundfunk und seinen Mitarbeitern ohnehin misstrauten, hatte es kaum Kontakt gegeben. Elke hingegen war von Anfang an akzeptiert worden.

      Bei dem Gedanken, die Tochter gleich in die Arme zu schließen, schlug ihr Herz schneller. Sie blieb stehen, atmete tief ein und schaute hinunter auf den Lietzensee. So idyllisch war ihr die Gegend damals gar nicht vorgekommen. Leute saßen auf den Bänken – Arbeitslose, wie sie vermutete –, Kinder spielten auf dem Rasen. In der wärmenden Maisonne wirkte alles so friedlich, dass sie plötzlich sicher war, alles würde gut ausgehen. Elke hatte sich bestimmt aus reiner Gedankenlosigkeit nicht gemeldet, obwohl das nicht ihrer Art entsprach. Wie die Mutter war sie eine umsichtige und zuverlässige Person, die auf Ordnung hielt. Schon in Moskau, in Taschkent und in Ufa am Ural war das so sorgfältig gekleidete, zierliche Kind mit dem Madonnengesicht jedermann aufgefallen. Immer wieder hatten Frauen versucht, Charlotte zum Tausch oder Verkauf abgelegter Kleidungsstücke zu überreden, nur war da nichts zu tauschen gewesen. Jeder Fetzen Stoff wurde gebraucht, damit ihre Elke nicht abgerissen herumlief wie die anderen Kinder.

      Erst in letzter Zeit war ihr