Lindenstadt und sächsischer Kleinkram. Jens Rübner

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Название Lindenstadt und sächsischer Kleinkram
Автор произведения Jens Rübner
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954889914



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Täter bei den ersten beiden Morden noch m i n d e r j ä h r i g gewesen war. Erst 2011 strahlte der MDR eine rekonstruierte Fassung des 1974 entstandenen „Polizeirufs 110“ aus.

      Zurück zum wahren deutschen Sexualstraftäter und mehrfachen Kindermörder Hans Erwin Hagedorn (* 30. Januar 1952 in Eberswalde; † 15. September 1972 in Leipzig). Das Absurde, Paranoide, Schizophrene, was dem Ganzen noch die Krone aufsetzt ist, dass die Staatssicherheit/Kriminalpolizei irgendwann doch tatsächlich auf die Idee kommt, die Ermordung der Kinder für einen Lehrfilm nachstellen zu lassen – mit Kindern von Ministeriumskollegen und dem echten Hagedorn, den zum Tode verurteilten Strafgefangenen in der „Hauptrolle“. In einem Protokoll-Vermerk heißt es: „Hagedorn ist mit vollem Eifer bei der Sache. Er steht (endlich mal) im Mittelpunkt und genießt es.“

      Der sehr aufwändig gedrehte Rekonstruktionsfilm aus dem Jahre 1972 von der Kriminalpolizei der DDR in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit verschwand kurze Zeit später sang- und klanglos im Archiv. Hagedorns Hinrichtung 1972 war zwar die letzte zivile Exekution in der DDR-Geschichte, aber das letzte Todesurteil wurde 1981 in der Leipziger Hinrichtungsstätte an dem MfS-Offizier Dr. Werner Teske vollstreckt. Danach fanden nach bisherigen Erkenntnissen keine Hinrichtungen mehr statt, wenngleich die Todesstrafe offiziell erst 1987 abgeschafft wurde. Dies stand im Zusammenhang mit Erich Honeckers Kurzbesuch in Bonn bei Helmut Kohl im September gleichen Jahres. Honecker wollte dieses erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen nutzen, um die internationale Anerkennung der DDR als eigenständigem Staat weiter auszubauen und hätte schlechte Karten gehabt, wenn er als Oberhaupt eines sich als demokratisch-sozialistisch bezeichneten Staates hätte zugeben müssen, dass in diesem/seinem Staat die Todesstrafe nach wie vor gesetzlich verankert ist.

      Das wohl beliebteste Spiel einer ganzen Generation. Ob meine Mutter es gespielt hat, vermag ich mich nicht zu erinnern, ganz sicher aber wäre es niemals von meiner Großmutter gespielt worden, die häufig zu sagen pflegte: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr“, und dabei Wert darauf legte, dass der ironische, ja oft vorwurfsvolle Unterton, den sie vor allem uns Kindern gegenüber anschlug, nicht zu überhören war.

      Mir hätte sie diesen Spruch am liebsten ins Poesie-Album geschrieben. Sie meinte nämlich, unter uns vier Geschwistern sei ich der einzige, der sich immer das größte Stück Fleisch oder das dickste Kuchenstück zu angeln versuchte.

      Daran wurde ich erinnert, als ich jüngst die Kolumne einer Kinderärztin in einer Fernseh-Programmzeitschrift las, worin sie unter Verweis auf dieses „grammatikalisch provokante und inhaltlich höchst zweideutige“ Sprichwort darauf hinweist, dass schließlich „in jedem von uns ein kleiner Egoist stecke“ und „Verzicht auf die eigenen Bedürfnisse“ keinesfalls immer die bessere Verhaltensweise sei. Natürlich seien Bescheidenheit und Rücksichtnahme „hohe Ziele“ und „für das Zusammenleben unverzichtbar“, aber wer sich immer „als letzter in der Schlange“ erlebt und dann meist leer ausgeht, läuft Gefahr, „zum notorischen Miesepeter“ zu werden und würde damit der Gemeinschaft letztendlich gar keinen Gefallen tun.

      Den „Egoisten in uns einmal ‚rauslassen‘ dürften wir gern“, meint die Kinderärztin in ihrer Kolumne, „Hauptsache wir behalten ihn an der Leine“.

      Genau in diesem Spannungsverhältnis zwischen „unseren Egoismus an der Leine halten“ und „den eigenen Hals nicht voll bekommen“, also zwischen einer gesunden Portion Eigennutz und einem „unsolidarischen“ Verhalten der Gemeinschaft gegenüber fanden sich in den 1970er Jahren im Raum Leipzig die „Spielernaturen“, auch „Zocker“ genannt, wieder.

      Alle Welt wusste damals: „Im Sozialismus reich werden, das kannst du vergessen!“ Dennoch mag es heute manch einen verwundern, dass es durchaus möglich war, im Sozialismus reich zu werden. Und dies völlig legal. Hier sei nur an das Spiel „Tele-Lotto“ erinnert, das jeden Sonntag um 19 Uhr Millionen Menschen vor den Bildschirm versammelte, erwartungsvoll der Ziehung der Zahlen folgend, immer hoffend, bei den 5 Richtigen einmal selbst dabei zu sein.

      Nicht weniger waren Pferdewetten beliebt. Besonders reizvoll und wirklich große Gewinne verheißend waren Wetten, die schon vor dem Start, zum Beispiel eines Pferderennens, abgeschlossen wurden. Diese etwas am Rande der Legalität sich bewegende Art von „Glücksspiel“, wie auch rein privat organisierte Würfelspiele, waren zwar anfänglich im Arbeiter- und Bauernstaat DDR nicht erwünscht, aber keineswegs explizit verboten.

      Diese „Lücke im Gesetz“ sprach sich schnell herum, und ganz Gescheite nutzten sie – für sich. Was als harmloses Spiel zur Aufbesserung der eigenen finanziellen Möglichkeiten begann, entwickelte sich zu einer böse endenden Gepflogenheit – „Zocker“ hatten die Bühne des Glücksspiels für sich entdeckt und wussten, wie dort zu agieren war. Damit nahm anfangs der 1970er Jahre in erst einmal recht harmloser Weise eine fast unglaubliche, aber doch wahre Geschichte ihren Lauf.

      Es begann an der Galopprennbahn Scheibenholz in Leipzig. Dort, wo also Geschäfte mit schnellen Pferden gemacht wurden. Da, wo sich die Reichen und die Habenichtse begegneten, allesamt mehr oder weniger große Zocker, die der Traum vom großen Glück vereinte. Dabei sollte man folgende Tatsachen nicht aus den Augen verlieren. In der DDR wurden sämtliche Rennveranstalter in Volkseigentum überführt. Trainer waren Angestellte, der Anteil privater Pferdebesitzer war sehr, sehr gering. Der Galopprennsport führte ein Nischendasein. Trotz alledem war Leipzig während dieser Zeit zeitweise die umsatzstärkste Rennbahn in Ostdeutschland, es standen bis zu hundert Pferde in den Ställen, und jährlich fanden bis zu dreißig Renntage statt.

      Am Ende eines Renntages auf dem Platz vor dem Leipziger Scheibenholz standen wenigstens 20 Campingtische, umringt von einer Menschentraube. Dort waren Leute zugange mit einem Packen Geld in der Hand und Würfelbecher.

      Das kann doch nicht wahr sein - verbotenes Glücksspiel in der DDR, in Sachsen, in Leipzig, direkt vor meiner Haustür? Heute, weiß ich, dass ab Dezember 1968 privates Glücksspiel in der DDR nicht mehr explizit verboten war. Fortan entwickelte sich eine Leipziger Spielerszene. Und bald wurde nicht nur an den Pferderennwochenenden gezockt. Ja, bis – bis dann am 29. Mai 1976 die Staatsmacht zum großen Schlag ausholte. Es begann eine großangelegte Razzia um die Galopprennbahn Leipzig. Über ein Dutzend Festnahmen und hohe Verwarnungsgelder wegen einer Ordnungswidrigkeit wurden verhängt – weitere Durchsuchungen folgten. „Diese Aktionen haben nur bewirkt, dass sich die Spieler in Gaststätten und Wohnungen zurückgezogen haben“, so die Aussage eines damaligen DDR-Volkspolizisten, im Rahmen für eine Dokumentation um das Glücksspiel in der DDR.

      Die Partien fanden abends und nachts überwiegend an den Wochenenden bis in die frühen Morgenstunden statt. Am beliebtesten war das Kartenspiel „Meine Tante – Deine Tante“, aber auch Würfelspiele, wie „Die Goldene Sechs“ sowie „Grüne Wiese“ wurden gespielt. Später kam Roulette hinzu. Ich glaube mich zu erinnern, dass es zu DDR-Zeiten ein Roulette-Spiel mit gut und leicht laufendem Roulette-Kessel aus Kunststoff gab. Mit dreifarbig bedrucktem Spielplan, sowie einem aus drei Teilen bestehenden Roulette-Rechen. In erster Linie als Familienspiel gedacht.

      Leipzig – Waldplatz. Freitagabend, Mitte der 70er Jahre. Ein streng geheimer Ort. Nur Eingeweihte wussten, was hier in einer Altbauwohnung hinter vorgezogenen Gardinen gespielt wurde. Hier ging es nicht um Jetons, um Plastikspielgeld, sondern um echtes Geld, viel Geld. 19 Uhr, die ‚Schlacht‘ begann. Von Mal zu Mal wurde es besser, was die Organisation und die Absprachen betraf, auch die Teilnehmerzahl wurde ausgedehnt. Zwischen Leipzig, Berlin und Dresden wurden regelrechte Städtewettkämpfe organisiert, quasi als ‚sozialistischer Wettbewerb‘ unter den besten Zockern. „Das war wie ein kleiner Klassenkampf. Da wurde richtig der letzte Rest ‚Taschengeld‘ herausgeholt", erinnert sich ein Teilnehmer. Mehrere zehntausend Mark wechselten nicht selten an einem Abend den Besitzer.

      Die Stasi begann, die Szene zu observieren und stellte fest, dass sich bei einigen ein für DDR-Verhältnisse immenses Vermögen angehäuft hatte. Glücksspieler fuhren Autos der gehobenen Klasse, Marken wie Lada-Shiguli, Dacia oder der Wartburg Melkus – ein Flügeltür-Sportwagen, der in Dresden gebaut wurde. Auch Motorboot, Wohnwagen