Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug

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Название Hightech-Kapitalismus in der großen Krise
Автор произведения Wolfgang Fritz Haug
Жанр Зарубежная публицистика
Серия
Издательство Зарубежная публицистика
Год выпуска 0
isbn 9783867549301



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Abständen um in Kapitalvernichtung.

      Das wird deutlich, wenn man folgende Bewandtnisse der Kapitalverwertung vor Augen führt: Da Geld nur quantitativ zählt, kennt Geldvermehrung keine qualitative Grenze. Kapitalanhäufung heißt Akkumulation, und Marx bringt die Kapitaldynamik auf die Formel »Akkumulation um der Akkumulation willen« oder, als abgeleitete Notwendigkeit, »Produktion um der Produktion willen« (23/621). Man kann den Kapitalprozess daher »produktivistisch« nennen. Damit will man sagen, dass er an keiner Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse zur Ruhe kommt. Dieses dem Kapital wesensfremde Zur-Ruhe-Kommen könnte unter anderen Verhältnissen etwa so aussehen, dass Produktivkraftentwicklung in proportionale Arbeitszeitverkürzung umgesetzt wird, die den derart partiell Freigesetzten ermöglicht, sich im Sinne dessen, was Frigga Haug (2008) die »Vier-in-einem-Perspektive« genannt hat, als gesellschaftliche Individuen weiterzuentwickeln. Der kapitalistische Produktivismus dagegen mündet in ein stets wachsendes Mehrprodukt, und die kapitalspezifische Natur dieses Reichtums zeigt sich darin, dass er sich auch nur kapitalistisch, das heißt, als sich verwertender Wert oder Einsatz zwecks weiterer Reichtumsvermehrung realisieren lässt. Die gesellschaftliche Reproduktion ist vom Standpunkt des reinen Verwertungsprozesses nie Zweck, allenfalls Medium und Effekt der Selbstvermehrung des Kapitals. Sie dem Markt zu überantworten und Staat und Zivilgesellschaft aus der Verantwortung zu entlassen, stürzt sie daher unweigerlich in die Krise.

      Die Selbstvermehrung des Kapitals muss nun eine Hürde überwinden, die ihr selbst entspringt. Bereits der Wert der Waren und damit der in ihm enthaltene Mehrwert bedarf seiner Realisation als Verkaufserlös – ein immer riskanter Vorgang, den Marx mit einem Salto Mortale in die Geldform vergleicht. Und nun verlangt der so realisierte Mehrwert nach einer zweiten Realisation, die seine dominante Bestimmung erfüllt, sich aus Geld wiederum in Kapital zu verwandeln. In neues Kapital verwandelt es sich, indem es sich in seine sachlichen und persönlichen Produktionsmittel umtauscht und in den Verwertungsprozess eintaucht. Der Produktionsdurchgang stößt wiederum in Waren gebundenen Wert (einschließlich Mehrwert) aus, dessen Realisation ihn aufs Neue als Geld erscheinen lässt. Doch bei jedem Durchgang erhebt sich auf wachsender Stufenleiter erneut die Frage, woher die zahlungsfähige Nachfrage nach jenem Mehr an Produkten kommt. Diese Frage hat Rosa Luxemburg aufgegriffen und ihrem ökonomietheoretischen Hauptwerk über die Akkumulation des Kapitals zugrundegelegt: »Wie ist es aber mit der Realisierbarkeit der Früchte jener Ausbeutung, mit den Absatzmöglichkeiten?« (RL 5, 418)

      Eine Menge finanztechnischer und wirtschaftspolitischer Instrumente sind erfunden worden, um zu verhindern, dass dieser Widerspruch explodiert. Im Zweifelsfall dient »Militarismus als Vollstrecker der Kapitalakkumulation« (RL 5, 385), wobei »die durch das Steuer-System in der Hand des Staates konzentrierten Mittel zur Produktion von Kriegsmitteln verwendet werden« (400f). Unter den Methoden zur Schaffung von Akkumulationsfeldern führt Luxemburg u.a. das »internationale Anleihesystem« auf (397).

      Als Luxemburgs Akkumulationsbuch erschien (1913), war Papiergeld noch durch Gold gedeckt. Indem dieses für die Wertsubstanz des Geldes einstand, war dieses System letztlich auf von Banken gebündelte Ersparnisse angewiesen. Die Aufhebung der Golddeckung zunächst vorübergehend im Ersten Weltkrieg und schließlich, nach weiteren Wechselfällen, definitiv zu Beginn der 1970er Jahre emanzipierte mit dem Geld den Kredit von der Wertsubstanz. Die seither erfolgte Explosion der Kreditinstrumente und –derivate aller Art konnte die Grenzen der Kapitalakkumulation immer wieder hinausschieben. Doch den schließlichen Ausbruch der Krise konnte sie nur verzögern, und die Nebenwirkungen dieser Medikamente bilden ebenso viele neue Krisenpotenziale. Im Manifest beschreibt Marx, noch ohne schon die Feinanalyse des Krisenmechanismus geleistet zu haben und erst recht ohne Kenntnis der neuen Finanzinstrumente, die Folgen dieses Widerspruchs zweiter Ordnung: »Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.« (4/468)

      Im Kapital geht es dann vollends zur Sache. Hier wird der Boden, auf dem die Finanzkrise erwächst, begrifflich ausgemessen: Überproduktion von Kapital treibt immer mehr Geldkapital zur Anlage in Papiere, die handelbare »Ansprüche des Eigentums auf die Arbeit« (25/493), genauer gesagt: Rechtsansprüche auf künftiges Mehrarbeitsprodukt darstellen. Wenn ein periodischer Zahlungsanspruch (Miete oder andere Zinsen) gehandelt wird, errechnet sich sein Preis durch »Kapitalisierung«. Damit ist gemeint, dass berechnet wird, wie groß ein Kapital bei gegebener durchschnittlicher Ertragslage sein müsste, um genau diesen Ertrag abzuwerfen. Im Unterschied zum Einsatz von Realkapital in Gestalt sachlicher und persönlicher Produktionsfaktoren handelt es sich hier um fiktives Kapital. Fiktiv ist es, weil es nur einen selber produktionslosen Anspruch auf eine regelmäßige Zahlung ist, die ihrerseits ebensowenig der Produktion entspringt. In seiner Verknüpfung von Geld und mehr Geld über ein zeitliches Intervall hinweg bildet es nur ein Kapital-Analogon. Wird der Kurs solcher Aneignungsansprüche durch die Vermehrung anlagesuchenden Geldes nach oben getrieben, was, weil Kursgewinne winken, wiederum den Antrieb zur Anlage steigert, bläht das fiktive Kapital sich auf. Vervielfacht durch den Kredit, den es auf seine spekulativen Objekte zieht, beschäftigt anlagesuchendes Geldkapital sich gleichsam so lange mit sich selbst – bis die Kapitalfiktion platzt.

      Der Kurs oder Anlagepreis in Relation zu antizipierter Veränderung ist das eigentliche Objekt der Spekulation. Über Kurse entscheiden, aufgrund bestimmter Erwartungen, die Fluktuationen von Angebot und Nachfrage. Die Subjekte ›spielen‹ dabei eine entscheidende Rolle, aber nicht individuell, sondern als Feld, auch nicht intersubjektiv, interaktiv, sondern interdependent. Sie verhandeln nicht darüber, sondern belauern einander. Das gilt auch und erst recht, wenn das Feld entscheidend von aggregierten Kapitalanlegern in Gestalt der Fonds bestimmt ist.

      Handelt das Feld aufgrund einer Situationsbewertung so oder so, vernichtet es auch schon den bestimmten Ausgangswert, und zwar immer in der unterstellten Richtung. Die Spekulation ist unablässig dabei, die Differenz, von der sie sich nährt, aufzuzehren. Wird aufgrund der entgegengesetzten Erwartung mehrheitlich gekauft, ist der Preis immer schon gestiegen. Will das Feld mehrheitlich verkaufen, weil der Preis im Vergleich zum erwarteten Einbruch für noch günstig gehalten wird, ist der Preis auch schon gefallen. Die vorpreschenden Einzelfälle, bei denen die ursprüngliche Rechnung noch aufgeht, sind Teil des Anstoßes, der die massenhafte Wiederholung des Glückens durch andere entsprechend reduziert.

      Ausschlaggebend