Wirtschaft im Kontext. Oliver Schlaudt

Читать онлайн.
Название Wirtschaft im Kontext
Автор произведения Oliver Schlaudt
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783465242642



Скачать книгу

Entscheidungen auch dann noch unsere aktuellen Handlungsspielräume beeinflussen, wenn sie unter Umständen getroffen werden, die heute nicht mehr relevant sind.47

      2.3.3 Unendlichkeit

      Ein rein mechanischer Prozess, in welchem der Energieinhalt zwischen den Formen potentieller und kinetischer Energie frei hin- und her flutet, kennt keine innere Grenze, an welcher er zum Erliegen kommen könnte, und gleiches gilt für den ökonomischen Prozess in der neoklassischen Vorstellung. Im Grunde ist dies eine direkte Folge der Autonomie und der Reversibilität. Aber es lohnt sich gleichwohl, die Unendlichkeit gesondert hervorzuheben, weil sie im Hintergrund von enormer Wirkmacht im ökonomischen Ideenkosmos ist: Die Wirtschaft ist ein sich selbst erhaltender Prozess im geschichtslosen Gleichgewicht, der sich immerdar erhalten wird. Die Bedeutung dieser Idee kann man daran ablesen, dass sie selbst dann, wenn mit dem Wachstum eine zeitlich gerichtete Größe eine zentrale Stellung einnimmt, in ihrer Macht ungebrochen ist, obgleich doch selbst die geringste konstante Wachstumsrate zu einem exponentiellen Wachstum führt, wie die Wachstumskritiker beständig unterstreichen. Die Natur wird als eine beständig fließende Quelle betrachtet, die den Wirtschaftsprozess alimentieren kann, ohne selbst eine Änderung zu erleiden. Und wo die Endlichkeit der Ressourcen sich doch drängend geltend macht, setzen die Ökonomen auf technischen Fortschritt, Erhöhung der Energieeffizienz, und Ersetzbarkeit (Substituierbarkeit) der knappen Ressource durch andere Stoffe.

      2.3.4 Das ›System‹ Wirtschaft

      Wenn wir hier somit behaupten, die Neoklassik verstehe den Wirtschaftsprozess als einen autonomen, reversiblen und unbegrenzten Vorgang, so soll damit freilich nicht gesagt sein, dass die Ökonomen dies nicht besser wissen. Der springende Punkt aber ist, dass, selbst wenn sie als Personen durchaus die Abhängigkeit der Wirtschaft von der Biosphäre anerkennen, sie als Ökonomen keine Sprache haben, um dies auszudrücken. Das System Wirtschaft erscheint als autonom, reversibel und unbegrenzt, aber unter »System« ist kein Gebilde von kausaler, räumlicher oder funktionaler Einheit zu verstehen. »System« bezeichnet hier vielmehr die Gesamtheit dessen, was sich durch eine bestimmte Sprache beschreiben lässt. Neoklassische Ökonomie spricht nur über Werte und Preise. Wir können mit Luhmann sagen, dass durch das Medium des Geldes und den entsprechenden binären Code »to pay or not to pay« das geschlossene, zirkuläre und selbstbezügliche Universum der Ökonomie konstituiert wird.48 Wenn wir also sagen, die Wirtschaftswissenschaftler stellen sich die Wirtschaft als autonomen, reversiblen und unbegrenzten Prozess vor, so beschreiben wir damit kein psychologisches Phänomen, sondern ein epistemologisches. Wir benennen das Bild, welches ihren Begriffen eingeschrieben ist. Wir benennen nicht, was sie glauben, sondern was sie sagen können.

      2.4.1 Die ›Astronomie der Warenbewegungen‹

      Es zeichnet sich damit schon eine Diagnose ab, die sich noch weiter erhärten wird und die wir in der Feststellung zusammenfassen können, dass die Wirtschaftswissenschaften den merkwürdigen Status einer Sozialwissenschaft wider Willen innehaben. Sie sind einerseits fraglos eine Sozialwissenschaft, da ihr Gegenstand ein gesellschaftlicher ist, sogar der wesentlichste im materiellen Lebensprozess der Gesellschaften. Zugleich aber konzeptualisieren sie den Wirtschaftsprozess als ein mechanisches System, eine Art »Astronomie der Warenbewegungen«49, in welcher soziale Phänomene keinen Platz mehr haben. Dies geht so weit, dass im Grunde in der Gleichgewichtstheorie der Neoklassik eigentlich auch der Markt und das Privateigentum keine Rolle spielen. Sie kennt in ihrer Reinform (ohne die implementierte Spieltheorie) weder Wettbewerb noch strategisches Verhalten, da die Akteure sich niemals treffen und sich auch nicht füreinander interessieren, sondern stumm den Trajektorien ihrer Nutzenmaximierung im Schwerefeld der Güterverteilung folgen. Dies führte zu der verblüffenden Situation, dass diese Theorie, die, wie wir sahen, auch an den Freihandel geknüpft war und diesem eine wissenschaftliche Rechtfertigung beibringen sollte, in den 1930er Jahren problemlos als eine Theorie der Allokation in einer Planwirtschaft gelesen werden konnte.50

      2.4.2 Ökonomische Gesetze

      Den merkwürdigen Status der Wirtschaftswissenschaften überhaupt und der Neoklassik im besonderen kann man sich gut am Begriff des Gesetzes verdeutlichen. Ob es überhaupt andere als Naturgesetze geben kann, nämlich historische und soziale Gesetze, ist eine eigene, kontroverse Frage, auf die wir uns erst am Schluss dieses Buches einlassen werden (↓ 6.3.2, S. 178). Die Wirtschaftswissenschaften unterstellen zumindest Regelmäßigkeiten, über welche sich in verallgemeinernden Aussagen sprechen lässt. Akzeptieren wir dies für den Augenblick und untersuchen den Status dieser Gesetze. Es ist dabei hilfreich, sich den historischen Ursprung der Naturgesetze, die hier Pate stehen, zu vergegenwärtigen.51 Die Rede von Gesetzen der Natur haben wir heute zwar vollkommen verinnerlicht und betrachten sie als selbstverständlich, aber es genügt eine kleine Anstrengung, um zu sehen, dass diese Rede metaphorischen Ursprungs ist. Der Begriff des Gesetzes entstammt ja offenkundig dem Rechtswesen. Ein Gesetz im ursprünglichen Sinne ist eine staatlich erlassene Regel, deren Bruch sanktioniert wird. Ein wesentlicher Unterschied zum Naturgesetz springt in die Augen: gegen Naturgesetze kann man nicht verstoßen. Im historischen Entstehenskontext der Rede von Naturgesetzen, dem 17. Jahrhundert, stellte dieser Unterschied aber keine Fehlstelle dar. Die Vorstellung von Naturgesetzen entsprang der Identifizierung der Natur mit einem idealen Staatswesen mit Gott an der Spitze. Naturgesetze waren ursprünglich also göttlich erlassene Gesetze, sie zu übertreten lässt Gottes Allmacht nicht zu. Die theologische Einfassung geriet mit der Zeit in Vergessenheit, aber die Vorstellung der Notwendigkeit und Unverletzlichkeit blieb im Begriff des Naturgesetzes enthalten.

      Wie verhält es sich nun mit den Gesetzen des Wirtschaftens? Zumindest lässt sich sofort festhalten, dass sich die Art, wie die Menschen ihren materiellen Lebensprozess bewältigen, in der Menschheitsgeschichte mehrfach tiefgreifend verändert hat. Allein die europäische Geschichte hat zahlreiche Wirtschaftssysteme gesehen. Und auch der jüngere Kapitalismus hat nicht nur in seiner Geschichte etliche verschiedene Erscheinungsformen gesehen (›Manchesterkapitalismus‹, Kriegsökonomie, soziale Marktwirtschaft, Neoliberalismus …), sondern stellt sich auch in der Gegenwart als ein heterogenes System dar, dessen Brüche und innere Spannungen zu übersehen ziemlich naiv wäre. Am Phänomen der Monopolbildung beispielsweise zeigt sich ja deutlich, dass ausgerechnet die erfolgreichsten kapitalistischen Akteure die Tendenz haben, sich den kapitalistischen Marktgesetzen zu entziehen und gesellschaftliche Institutionen dem entgegenwirken müssen.

      Kann man nun aus dem historischen Wandel schließen, dass es uns im Prinzip freisteht, die Gesetze des Wirtschaftens frei zu wählen? Eine solche Frage führt schnell auf metaphysisches Glatteis. Aber wir müssen sie auch nicht beantworten. Es reicht, zwei Dinge festzuhalten, die für die Sozialwissenschaften wesentlich sind: Erstens gibt es einen historischen Wandel in den Wirtschaftsystemen und ihren charakteristischen Gesetzmäßigkeiten, welcher einen Unterschied zu den Naturgesetzen markiert. Die Geltung von Gesetzen des Wirtschaftens muss offenbar auf historisch bestehende Systeme eingegrenzt werden. Und zweitens nimmt der Mensch im Studium dieser Systeme eine andere Stellung ein, als in der Beschäftigung mit der Natur. Zwar ist er in beiden Fällen Teil des Systems, welches er von Innen heraus untersuchen muss. Aber die gesellschaftlichen Systeme scheint er doch in einem ganz anderen Sinne zugleich mitzutragen. Sein Untersuchungsobjekt hängt in einem ganz anderen Sinne von ihm ab. Dies nannten wir eingangs den ›schmutzigen‹ Charakter der Sozialwissenschaften (↑ S. 8).

      Betrachten wir nun noch einmal die Neoklassik, wie wir sie in diesem Kapitel kennengelernt haben, so können wir ihren merkwürdigen Charakter besser erfassen. Sie untersucht fraglos einen sozialen Prozess, aber sie stellt ihn sich als einen Naturprozess vor. Sie kann daher insbesondere nicht die Geltung ihrer Gesetze auf lokale Systeme beschränken. Man kann sich die Konsequenzen dieser Tatsache leicht vor Augen führen, wenn man sich ausmalt, was aus streng neoklassischer Perspektive beispielsweise zu einer Subsistenzwirtschaft in lokalen Kollektiven mit einem bestimmten internen,