Gesang der Lerchen. Otto Sindram

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Название Gesang der Lerchen
Автор произведения Otto Sindram
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783927708464



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Hauke

      Christian nahm die Anzeige vom Tode seiner Großmutter mit dem 21. 12. als Bestattungstag und ging zu Reitmann. Seine Verwarnung wurde zurückgezogen.

      Der Winter verging, das Frühjahr kam und damit die Vorbereitung auf die Abiturprüfungen. Wenn auch das Lernen mehr Zeit erforderte als bisher, so blieb doch weiterhin Zeit für die abendlichen Gesprächskreise und Treffen im Heim. Es gab laufend Neuigkeiten, die in den abendlichen Runden diskutiert werden wollten.

      Die Provisorische Volkskammer hatte das Ministerium für Staatssicherheit gebildet und das »Gesetz der Arbeit« verabschiedet, nach dem die Erhöhung der Arbeitsproduktivität angestrebt und gleichzeitig Lohnabzüge von den Arbeitern bei Ausschussproduktion beschlossen wurde.

      Im Gesprächskreis der Heimstudenten war man sich schnell einig, dass der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden wachsam sein musste und dass die Arbeiter nur ein Recht auf guten Lohn hatten, wenn sie qualitätsvolle Arbeit leisteten. Philipp dachte an die Geschichte mit dem »Wagen-Nullen« im Bergbau, von der sein Großvater ihm erzählt hatte, und er dachte an die Holzfäller am Rennsteig – sein erster Kontakt mit Arbeitern in Ostdeutschland.

      Auch die Kultur kam nicht zu kurz. Die Musikstudentinnen brachten verbilligte bis kostenlose Theaterkarten mit, und so gab es zwar »saure Wochen«, aber eben auch weiterhin »frohe Feste«.

      Nach dem Besuch einer Aufführung von Brechts Mutter Courage im Deutschen Theater und dem Gespräch am Abend darüber kam jemand mit der Idee, den Dramatiker ins Studentenheim einzuladen. Brecht kam, brachte seine Frau Helene Weigel mit und einige Schauspieler. Der Saal im Heim war gefüllt mit Menschen. Christian war nicht erschienen.

      Der »die Stange« genannte Student war auserwählt, einige Begrüßungsworte an die Gäste zu richten. Er hielt eine lange Rede. Vom Aufbau des Sozialismus in einem Teil Deutschlands sprach er und davon, dass die Menschen das seltene Glück hätten, in einer so außergewöhnlichen Zeit und in diesem fortschrittlichen Land zu leben. Der größte Dramatiker dieser Zeit aber brächte Themen aus längst vergangenen Tagen auf die Bühne, statt sich dem Heute zuzuwenden und freudig die neue Zeit zu begrüßen.

      Brecht, der bis dahin nur zugehört hatte, sagte ruhig, dass es notwendig sei, Abstand zu der Zeit zu haben, wolle man ihre Eigenarten und Gesetzlichkeiten erkennen und mit den Mitteln der Kunst über sie urteilen. Werner Peitz bemerkte, dass mit dem Marxismus eine wissenschaftliche Methode zur Verfügung stände, mit der man eben auch die Gegenwart erfassen und über sie urteilen könne.

      Brecht stand auf und sagte mit leiser Stimme, er empfehle den jungen Leuten, das Leben kennen zu lernen und so lange nicht über Dinge zu reden, von denen sie nichts verständen. Jetzt aber seien sie dumme Jungen und noch nicht trocken hinter den Ohren. Danach verließ er den Raum, seine Frau, die Schauspieler und einen Saal mit einem Teil empörter, einem geringeren Teil verwirrter und mit wenigen beschämten Studenten zurücklassend.

      Das folgende Schweigen war nur von kurzer Dauer, dann redeten alle wild durcheinander, standen auf, gestikulierten und liefen umher. In der Saalmitte stand Helene Weigel, und um sie herum bildete sich ein Kreis junger Leute.

      »Er hatte sich so auf diesen Abend gefreut«, sagte sie. »Sonst geht er ja nirgendwohin, außer zum Theater. Er nimmt keine Einladungen an, aber zu den Arbeiterstudenten, da wollte er gerne gehen. Und jetzt das!«

      »Wenn er mit Arbeiterstudenten reden wollte«, sagte Philipp, »dann hätte er das sagen sollen. Das wäre sicher ein ganz kleiner Kreis geworden, denn die Arbeiterkinder kann man hier an einer Hand abzählen.«

      Am nächsten Abend war durch die nach Westen gehenden Fenster des Heimes eine ungewöhnliche Erscheinung zu beobachten. Leuchtschrift huschte über die Trümmerlandschaft der Reichskanzlei und verbreitete die neuesten Nachrichten in Schlagzeilen.

      Auf dem Westteil des Potsdamer Platzes, gleich hinter dem Schild mit der Aufschrift »Sektor der Freiheit« war eine am Tage unscheinbar wirkende Metallkonstruktion aufgestellt worden, bestehend aus zwei Ständern und einer diese Ständer verbindende Brücke. Diese Brücke war seitlich mit unzähligen Glühbirnen bestückt, welche am Abend nacheinander und Buchstabenmuster bildend kurz aufleuchteten, wieder erloschen, in anderer Anordnung erneut aufleuchteten und so den Eindruck fortlaufender und zu ganzen Sätzen gefügter Wörter ergaben. Die staunenden Studenten erhielten ihre erste Lektion in kapitalistischer Information, nachdem sie am Tage im Studium, im Neuen Deutschland oder im DDR-Radio die sozialistische Sicht des Weltgeschehens erfahren hatten.

      Gleich am folgenden Tage wurde eine Parteiversammlung der Genossen Heimbewohner einberufen, welche die Panne mit der Brecht-Einladung diskutieren und im zweiten Teil Schritte gegen die westliche Provokation und Vergiftung unschuldiger junger Menschen beschließen sollte.

      Zum Verhalten des Herrn Brecht war man sich bald einig. Die Studenten traf keine Schuld, aber dem Dramatiker fehlte es ganz eindeutig an sozialistischer Bildung. Zu der Leuchtschrift machte der Genosse Heimleiter den Vorschlag, er könne den Genossen Hausmeister beauftragen, die Fenster der Vorderfront innen bis zur Kopfhöhe mit Decken zu bespannen. Andere äußerten dagegen Bedenken, weil man die Zweierzimmer nicht ständig kontrollieren könne und weil durch eine solche Maßnahme erst recht das Interesse für die Leuchtschrift geweckt würde. Schließlich einigte man sich auf eine Resolution, in der diese Provokation auf das Schärfste verurteilt und an alle Heimbewohner appelliert wurde, diesen kapitalistischen Verdummungsversuch mit Nichtbeachtung zu strafen. Man war sich einig, dass es völlig unnötig und gefährlich sei, neben den von der Partei und ihren Organen verbreiteten Informationen auch noch andere zu empfangen, denn die Partei, und nur die Partei, die habe immer Recht.

      Auch Christian und Philipp stimmten der Resolution zu. Dann gingen sie zu Lena und Isa ins Zimmer, schauten sich gemeinsam mit den Frauen das Wunderwerk an und lasen die Schlagzeilen aus dem Westen.

      Wenn man sich an den folgenden Abenden im großen Saal traf, so waren alle redlich bemüht, nicht aus den Fenstern zu schauen. Zwangsläufig galt nun das Interesse mehr den Auslagen auf den Tischen. Und so kam es, dass Werner ein Sexheft aus westlicher Produktion mit voll- und nacktbusigen Frauen entdeckte, das Philipp dort vergessen hatte. Es war im Hause üblich, dass, wer ein solches Heft sein Eigen nannte, es nach dem Studieren an andere Interessenten weitergab Dieses Heft gehörte Christian. Philipp sollte es nach dem Lesen weitergeben an einen Slawistikstudenten. Der aber war an diesem Abend nicht erschienen, und so hatte Philipp das Heft liegen gelassen. Werner beantragte eine Parteiversammlung, auf der Philipp sich verantworten sollte. Die Versammlung wurde wegen der Dringlichkeit kurzfristig einberufen.

      Zuerst hielt Werner eine Rede, in der er gegen den Einfluss westlicher Dekadenz im Allgemeinen wetterte und vor der Demoralisierung der Partei durch Agenten aus Westdeutschland warnte. Typisch für solche Leute sei, dass sie es nicht nötig fänden, an Geburtstagsfeiern zu Ehren des großen Stalin teilzunehmen. Er beantragte den Parteiausschluss des Genossen Philipp, seinen Verweis von der ABF und als eine einjährige Bewährung in der Produktion seine Beschäftigung im Uranbergbau Wismut-Aue.

      Philipp wehrte sich dagegen und meinte, dass er keine Demoralisierung der Partei darin sehe, wenn zwei Menschen sich privat ein Vergnügen teilten. Das aber brachte Werner erst recht auf.

      »Für Genossen gibt es nichts und nirgendwo Privates. Wo zwei Genossen zusammen sind, da ist die Partei!«

      »Gut«, sagte Philipp, »das habe ich jetzt begriffen. Wo auch immer zwei sich treffen, da ist die Partei, und sei es vor einer Wechselstube in Westberlin.«

      Christian sprang auf.

      »Es ist auf jeden Fall zu verurteilen, westliche Unmoral zu verbreiten. Aber der neue Mensch im Sozialismus, der kann doch nur durch Änderung des heutigen Menschen geschaffen werden, und das braucht Zeit, Genossen, dazu muss man Geduld haben. Philipp kommt aus der Arbeiterklasse, aus dem Westen zwar, aber aus der Arbeiterklasse, und die westlichen Arbeiter sind eben noch nicht so weit wie die Arbeiter bei uns, besonders wie du, Genosse Werner. Und wenn wir beschließen, dass Philipp von der ABF gehen muss, dann können wir auch gleich eine Namensänderung für die ABF beschließen: Fakultät