Gesang der Lerchen. Otto Sindram

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Название Gesang der Lerchen
Автор произведения Otto Sindram
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783927708464



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bestätigten die Richtigkeit seiner Überzeugung, einer Herrenrasse anzugehören, die eine Mission in Europa zu erfüllen hatte.

      Und dann begann der Krieg mit der Sowjetunion. Oberleutnant Lichtweiß gehörte vom ersten Tage an zu den Truppen des Mittelabschnitts, die weit in das ihm fremde Land eindrangen. Immer wenn ihn die Grausamkeiten des Krieges zweifeln ließen, erinnerte er sich an den Appell Hitlers zu Beginn des Feldzuges, besonders daran, dass der Führer die deutschen Soldaten aufgerufen hatte, nicht nur Deutschland, sondern die ganze europäische Kultur zu schützen.

      Ernste Zweifel kamen ihm, als er mit seiner Kompanie nach einem durch Partisanen verübten Überfall auf ein Verpflegungsdepot der Wehrmacht an einer Vergeltungsaktion beteiligt war. Die Häuser eines ganzen Dorfes wurden angezündet. Als die Menschen die brennenden Häuser verlassen wollten, wurden sie niedergeschossen. Es waren alles Frauen, Kinder und alte Männer.

      Zum Bruch mit seiner Weltanschauung von der Herrenrasse und dem Glauben, in diesem Krieg die europäische Kultur zu schützen, kam es dann, als die Kompanie des Oberleutnants Lichtweiß zu einem Sondereinsatz hinter der Front abkommandiert wurde. Sie hatten den Befehl, bei der Aktion einer Einsatzgruppe der SS für die Absperrung zu sorgen. Die Soldaten mussten großräumig eine Waldlichtung umstellen, auf der mehrere Gräben ausgehoben waren.

      Ein Lastwagen kam angefahren und hielt am Rande der Lichtung. Männer und Frauen stiegen von der Ladefläche des Lastwagen, mussten sich ganz entkleiden und nackt am Rand eines Grabens aufstellen. Soldaten der Einsatzgruppe traten von hinten an die Menschen heran, erschossen sie und stießen sie in den Graben. Weitere Lastwagen kamen und brachten immer mehr Menschen, die alle, ohne zu reden, sich entkleideten, erschossen und in einen Graben gestoßen wurden.

      Lichtweiß machte eine Pause in seinem Bericht, dann sagte er: »Beim nächsten Fronteinsatz bin ich zu den Russen übergelaufen. Jetzt bin ich überzeugter Antifaschist und bin hier. Meine Eltern sind inzwischen alt, mein Vater ist von Rheuma geplagt, arbeitet in einer Großbäckerei und muss immer noch um drei Uhr früh aufstehen.«

      »Bist du ein Christ?«, fragte Sophie Philipp, als sie am nächsten Morgen die Straßenbahn verließen,

      »Warum fragst du?«

      »Weil doch die Christen ihre Feinde lieben sollen.«

      »Blödsinn! Wieso sollte ich meine Feinde lieben?«

      »Warum hast du dich dann gestern so für diese Faschisten eingesetzt?«

      »Ich habe mich nicht für Faschisten eingesetzt. Ich bin nur dagegen, dass applaudiert wird, wenn Menschen getötet werden, besonders, wenn man daran beteiligt war, anderen Menschen das Töten beizubringen. Und am Christentum bewundere ich die Einfachheit des fünften Gebotes: Du sollst nicht töten. Punktum! Bin ich darum Christ? Die Zehn Gebote sind das Alte Testament. Vielleicht bin ich Jude? Oder sollte ich sagen Judist?«

      »Jetzt weiß ich, du bist Pazifist.«

      »Genau das meine ich. Du musst wohl alle Menschen einteilen: Faschisten, Marxisten, Christen, Pazifisten, das sind zu viele ›Isten‹.«

      »Aber die Menschen gehören Klassen an und handeln nach der Ideologie ihrer Klasse. Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen, sagen Marx und Engels.«

      »Das Leben ist ein ewiger Kampf, sagt Hitler«, entgegnete Philipp. »Kennst du übrigens das, was Lenin einmal in einem Gespräch dazu gesagt hat? Es ging um das Hören guter Musik. Lenin hat gesagt, allzu oft könne er solche Musik nicht hören, weil man danach den Menschen die Köpfe streicheln möchte. Man dürfe ihnen aber nicht die Köpfe streicheln, sonst werde einem die Hand abgebissen. Man müsse auf die Köpfe schlagen. Was muss ein Mann, der so etwas sagte, für ein Menschenbild gehabt haben!«

      »Sein älterer Bruder wurde im Zarenreich hingerichtet. Da war Lenin erst siebzehn«, entgegnete Sophie.

      Sie näherten sich der Spreebrücke. Plötzlich sahen sie, wie ein Mensch, im Wasser liegend, unter der Brücke hervorkam.

      »Da, ein Toter, ein Toter im Wasser!«, rief Sophie.

      Ein Mann, der ihnen auf der Brücke entgegenkam, nahm eine am Geländer befestigte Stange mit einem Haken an der Spitze, lief die Böschung hinunter und angelte die Leiche, indem er mit dem Haken der Stange die Kleidung fasste.

      »Polizei, einer muss die Polizei holen!«, rief der Mann.

      Philipp rannte zur nächsten Kreuzung und kam mit einem Polizisten zurück. Inzwischen standen einige Zuschauer auf der Brücke.

      »Was ist es denn?«, fragte der Polizist.

      Der Mann zog an der Stange und hob kurz die Leiche mit dem Oberkörper aus dem Wasser. Es war ein Mann um die dreißig; er hatte noch eine Brille auf der Nase und schien über den Brillenrand hinweg die auf der Böschung Stehenden anzublinzeln.

      »Komisch«, sagte der Polizist, »in letzter Zeit sind es fast nur junge Männer, die in die Spree gehen.«

      »Lass uns weitergehen«, drängte Sophie.

      Der Unterricht hatte längst begonnen. In der ersten Stunde hatten sie Geographie. Köhler bekam immer die erste Stunde, so konnten die anderen Dozenten ausschlafen, die Schüler während dieser Stunde allmählich eintrudeln, um zur folgenden Stunde pünktlich zu sein.

      Als die beiden die Tür öffneten, stand Lehrer Köhler, auf seinem Zeigestock gestützt, vor einer Karte der Sowjetunion. Durch seine Brille mit runden, dicken Brillengläsern sah er sie streng an, nahm wie bei allen Störungen durch Zuspätkommende den Zeigestock wie eine Lanze unter den rechten Arm, zielte auf die Störer, watschelte mit seinen Plattfüßen auf sie zu und blieb kurz vor ihnen stehen.

      »Bumm! Erschossen! Hinsetzen!«

      Sie setzten sich.

      »Na«, fragte Christian, »hat der Lichtweiß dir gestern noch den Marsch geblasen? Warum musstest du dich auch einmischen!«

      »Ich verstehe dich nicht, du hast doch auch nicht geklatscht.«

      »Ja, aber nur, weil es mir egal war.«

      Philipps Vater, Paul Siebert, sollte und wollte als Junge nicht Bergarbeiter werden. Es war der Plan seiner Eltern, dass er als Ältester und einziger Sohn später den Hof übernehmen sollte. Mittelgroß und eher schwächlich ausschauend, mit hellblondem Haar und weichen Gesichtszügen, konnte man in ihm weder den künftigen Landwirt noch den Bergarbeiter erkennen.

      Philipps Großvater, Ferdinand Siebert, war als junger Mann mit seiner Frau Guste aus Ostpreußen in den Westen gekommen. Dort in Ostpreußen gehörten beide zu einem gräflichen Gesinde. Nachdem sie Gefallen aneinander gefunden hatten und den Herrn Grafen um Erlaubnis baten, heiraten zu dürfen, stimmte der nicht nur zu, sondern überließ ihnen auch noch eine kleine Kate und ein wenig Land. Es wurde vereinbart, dass sie als Tagelöhner weiter auf dem gräflichen Gut arbeiten und so die Pacht für Kate und Land aufbringen sollten.

      Bald aber bekam Guste ihr erstes Kind, Paul, und konnte neben der Hausarbeit und der Arbeit auf dem eigenen Feld nur noch selten auf den gräflichen Feldern mitarbeiten. Um die Pacht aufbringen und mit seiner Familie überleben zu können, kaufte Ferdinand Siebert von dem wenigen Ersparten einige Schafe und versuchte sich als Schafzüchter. Er war auch erfolgreich. Aber schon im ersten strengen Winter erkrankten viele der Schafe und verendeten. Ferdinand verkaufte die restlichen Tiere, und die Sieberts zogen in den Westen.

      Ferdinand war ein Mann, der schon in jungen Jahren schütteres Blondhaar hatte. Mit seiner untersetzten Gestalt, seinen buschigen Augenbrauen, seinem leichten Bauchansatz und dem schweren Gang wirkte er leicht behäbig.

      Guste war klein, hatte ein schmales, herbes Gesicht mit einer geraden, großen Nase. Sie ging mit eingezogenen Schultern leicht nach vorn gebeugt. Auffallend war ihre stark nasale Sprechweise.

      Hier im Westen arbeitete Ferdinand zuerst im Bergbau. Guste nahm eine Putzstelle an und bemühte sich, neben