Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast

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Название Wie frei wir sind, ist unsere Sache
Автор произведения Ulrich Pothast
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783465242734



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wir »bestimmen« unseren Willen unmittelbar selbst. Als Beispiel haben wir Immanuel Kant zitiert mit der These, die praktische Vernunft des Menschen bestimme den Willen unmittelbar. Viele Philosophen sprechen sinngemäß auch heute noch so, vor allem, wenn es um die These der Willensbestimmung durch vernünftige Gründe geht. Die zugeordneten Theorien sind im Detail recht verschieden. Einzelne Auffassungen dieser Art, die in der Gegenwart besonders wirkungsmächtig sind, werden wir noch kennenlernen.

      Gegen den Gedanken der unmittelbaren Bestimmung des eigenen Willens ist in der Sache zu betonen: Unser Wählen eigener Handlungen einerseits und unser Einfluss auf eigenes Wollen bzw. den eigenen Willen auf der anderen Seite sind ihrer Struktur nach radikal verschieden. Darauf, dass diese elementare Verschiedenheit übersehen wird, gehen zahllose Wirrnisse philosophischen Nachdenkens, aber auch populärer Willensvorstellungen zurück. Das reicht bis zu folgenreichen Mängeln in der Weise, wie Recht und Gesetz unseren Einfluss auf eigenes Wollen dargestellt haben oder noch darstellen.

      Das Hervorrufen unserer Handlungen erleben wir bei vorhandenem Wollen wie einen direkten Zugriff auf relevante Teile unserer Muskulatur mit dem Effekt, dass bestimmte Körperbewegungen eintreten, ggf. auch Bewegungen der Sprechorgane. Damit kommt die gewollte Handlung in der Welt zustande. Wie unser wollender Zugriff auf bestimmte Muskeln über das Zentralnervensystem erfolgt, stellt sich uns im Bewusstsein nicht dar. Gewöhnlich könnten wir auch die Muskeln gar nicht benennen, auf die wir zugreifen. Wir wollen eine bestimmte Körperbewegung, und wenn wir sie jetzt und hier wollen und keine Hindernisse, Lähmungen oder dergleichen bestehen, tritt die Bewegung ein. Entscheidend für den Unterschied zum stets nur indirekten Einfluss auf unser Wollen ist, dass wir das gewollte Auslösen einer Handlung als umweglosen Zugriff auf eigene Muskeln mit danach erfolgender Körperbewegung (auch Bewegung der Sprechorgane) erfahren.

      Besonders deutlich lassen sich weitere Eigentümlichkeiten dieses direkten Übergangs vom Wollen zum Tun bei Handlungen erleben, die eine zeitliche Erstreckung haben, selbst wenn diese Erstreckung nur eine kurze Zeit währt. Eine vom Wollen in Gang gesetzte Handlung, z. B. die Bewegung einer Hand beim Zeichnen oder beim Führen eines Werkzeugs, können wir dank unserer kontinuierlichen Beobachtung in ihrem Verlauf Punkt für Punkt verfolgen. Wir können Fehler, die im Bewegungsablauf auftreten, durch Beobachtung oft schnell erkennen und oft auch noch in der Bewegung korrigieren. Sehr auffällig ist das bei Fehlern der Sprechorgane: Versprecher registrieren wir oft sofort und versuchen, uns zu verbessern. Wir wissen normalerweise auch in jedem Augenblick eines zeitlichen Verlaufs, wie weit die Bewegung, die wir ausführen wollen, gediehen ist. Das heißt, wir haben die kontinuierliche Kontrolle unseres willentlichen Tuns in seiner zeitlichen Erstreckung. Wenn die Gefahr droht, dass wir eine willentlich angefangene Handlung nicht zu dem gewollten Ende bringen können, wenn z. B. das ergriffene Werkzeug zu schwergängig ist, können wir die Handlung abbrechen und mit veränderter Handhaltung (oder anderen Veränderungen) neu ansetzen. Diese uns typischerweise gegebene, kontinuierliche Verlaufskontrolle beim willentlichen Handeln ist ein großer Vorzug des direkten Verhältnisses von Wollen zu Tun. Dieses direkte Verhältnis erlaubt es uns normalerweise, unser Tun in jeder Phase Schritt für Schritt, Punkt für Punkt wahrnehmend zu verfolgen – und gegebenenfalls zu korrigieren.

      Vollkommen anders ist unser Verhältnis zum eigenen Wollen. Wir können unser Wollen nicht wie mit einem inneren Werkzeug dahin oder dorthin richten oder sonstwie geradewegs steuern. Auf unser Wollen können wir nicht zugreifen wie auf unsere Hand, unseren Zeigefinger, unsere Sprechorgane. Unser Wollen stellt sich dar mit Meinigkeit, Aktivitätsfärbung und Zentralität, aber auch, wenn es einmal ausgebildet ist, mit einer typischen Widerständigkeit gegenüber dem Versuch, es durch direkten Zugriff zu ändern. Wenn wir unser Wollen beeinflussen möchten, müssen wir zu Verfahren des indirekten Selbsteinflusses greifen, eines Einflusses, der vom willentlichen Auslösen eigener Körperbewegungen erkennbar verschieden ist. Dies ist eine wichtige und folgenreiche Erkenntnis: Unsere Handlungen wählen wir direkt, unser Wollen können wir nur indirekt beeinflussen.

      Wenn Sie sich den Unterschied zwischen unserem Auslösen einer Handlung und unserem Verhältnis zu eigenem Wollen durch ein Probe-Erleben verdeutlichen möchten: Machen sie einen Selbstversuch. Machen Sie sich zunächst klar, welche Körperhaltung Sie gerade haben, wählen Sie eine andere Ihnen mögliche Körperhaltung, und führen Sie die Bewegung aus, die Sie in diese andere Körperhaltung bringt. Beachten sie im Rückblick: Wenn Sie eine Haltung gewählt haben, die für Sie im Bereich des Ausführbaren lag und keine Bedenken oder Sonstiges Sie zurückhielten, haben Sie die gewählte Bewegung ausgeführt. Ihre Wahl führte bei Abwesenheit hinderlicher Faktoren ohne weiteren Umweg zu dieser Bewegung. Sie konnten die gewählte Bewegung in ihrem Verlauf mit Ihrer Aufmerksamkeit Punkt für Punkt begleiten. Sie konnten gegebenenfalls sagen, wie weit Sie jetzt und hier mit dem Ausführen Ihrer Absicht gekommen sind, und Sie konnten Fehler, die Sie im Fall einer komplizierten Bewegung vielleicht gemacht haben, rasch erkennen und korrigieren, d. h. den Prozess nachsteuern.

      Nun fragen Sie sich, was Sie in der näheren Zukunft (Tage, Wochen, Monate) ganz gewiss tun wollen, wozu Sie also, wie man im Alltag sagt, »fest entschlossen sind«. Wenn Sie eine Antwort auf diese Frage geben können, kommt der eigentliche Versuch: Versuchen Sie, ohne Einsatz weiterer Hilfsmittel (Argumente, neue Informationen, Reize und andere Wollens-Anreger bzw. -Störer), also unmittelbar, dieses Ihr fest ausgebildetes Wollen zu ändern. Lenken Sie es um auf ein Ziel, das mit Ihrem eben erkundeten Ziel unvereinbar ist, z. B. auf ein Gegenteil dieses Ihres Ziels. Sie werden bemerken, dass Sie Ihr klar ausgebildetes Wollen nicht nach Belieben umlenken können. Ein fest und klar ausgebildetes Wollen gehört jetzt und hier zu Ihrer Persönlichkeit, und Sie können auch nicht jetzt und hier, durch unmittelbaren Eingriff, eine andere Persönlichkeit werden.

      Mit der Illusion, wir könnten auf unser Wollen direkt zugreifen und es bestimmen, wie wir auf die Muskeln zugreifen können, die eine Handlung auslösen, haben sich Philosophen schon früh auseinandergesetzt. So schreibt Gottfried Wilhelm Leibniz: »Was das Wollen selbst betrifft, so ist es unrichtig, zu sagen, dass es ein Gegenstand des freien Willens sei. Wir wollen handeln, sagen wir zu Recht, aber wir wollen keineswegs wollen, denn sonst könnte man weiterhin sagen, wir wollen den Willen haben zu wollen, und das würde ins Unendliche fortgehen. Wir folgen auch nicht immer dem letzten Urteil des praktischen Verstandes, indem wir uns bestimmen zu wollen – aber wir folgen immer, indem wir wollen, dem Ergebnis aller Neigungen, die kommen, sei es von Seiten der Gründe, sei es von Seiten der Leidenschaften, was oft ohne ein ausdrückliches Urteil des Verstandes geschieht.«1.

      Die drastischsten Worte gegen die Idee, wir könnten unseren Willen willentlich unmittelbar bestimmen, finden sich wohl bei Schopenhauer. Der Leser sei auf seine Darstellung verwiesen: Über die Freiheit des Willens, Kap. III.2 Dort wird auch die eben angesprochene, enge Verbindung eines klar ausgebildeten Wollens mit der eigenen Persönlichkeit, wie sie jetzt und hier ist, hervorgehoben. Rufen wir uns noch einmal unsere junge Frau, die Tänzerin, aber keineswegs Lehrerin werden will, ins Gedächtnis. Es ist möglich, dass wir sie in der Diskussion mit ihren Eltern sagen hören »Ja, ich könnte Lehrerin werden, wenn ich wollte, aber das Problem ist, dass ich nicht will. Und mein Wollen kann ich nicht einfach so ändern, ich will eben Tänzerin werden, so bin ich nun einmal und nicht anders.« Das klar und intensiv erlebte Wollen gehört in so zentraler Rolle zur Person, dass der betreffende Mensch den Eindruck haben kann, sich als ganze Person ändern zu müssen, wenn er ein anderes Wollen ausbilden sollte.

      So dramatisch muss es sich nicht immer darstellen. Aber ein Weiteres, worauf schon Leibniz hinweist, zeigt sich hier als zielführend. Er sagt, indem wir wollen, »folgen« wir dem Ergebnis aller Neigungen, die kommen, von Seiten der Leidenschaften wie auch der Gründe (»raisons«). Wenn wir das Wort »Neigungen, die kommen« durch etwas Umfassenderes ersetzen, z. B. »Faktoren, die bei unserer Willensbildung zusammenwirken«, gelangen wir auf eine aussichtsreiche Spur. Es kann sehr wohl geschehen, dass sich das Wollen der jungen Frau ändert – aber nicht durch direkten Zugriff wie auf die Muskeln ihrer Arme oder Beine, sondern durch das Auftreten mittelbar wirkender Faktoren. In unserem Beispiel kann es sich um das eigene