Schirach. Oliver Rathkolb

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Название Schirach
Автор произведения Oliver Rathkolb
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783990405987



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erscheinen.«31 Schirach war dieser Verein zu international und noch dazu waren überdies, einige vorgeschlagene Vorstandsmitglieder jüdischer Herkunft. Der »Kampfbund für deutsche Kultur« verfolgte hingegen klar antisemitisch-rassistische Ziele.

      »Lieb Vaterland erwache neu, auf dass Gott wieder mit uns sei!«: Die völkische Antimoderne mobilisierte die Jugend gegen die Weimarer Republik. Werbe-Ansichtskarte des Jungdeutschen Ordens, gestaltet von »Bruder Zickerow«.

       2. PRÄGUNGEN UND BRÜCHE

       Der Kampf gegen Kommunismus und Demokratie und die Suche nach dem »starken Mann«

      Für ihren zweitgeborenen Sohn Baldur wählte das Ehepaar Schirach einen Ausbildungsweg, der als besonders modern und fortschrittlich galt: Sie schickten den Jungen, der von Ostern 1916 bis März 1917 das renommierte Wilhelm-Ernst-Gymnasium in seiner Heimatstadt32 besucht hatte, in das »Waldpädagogium« auf dem Hexenberg bei Bad Berka, etwa zehn Kilometer südlich von Weimar – für den Sohn aus adeliger Familie, der bisher liebevoll umsorgt worden war, tat sich eine neue Welt auf: ein spartanisch einfaches Leben, verbunden mit dem Erlebnis von Kameradschaft, Verantwortung, Pflichterfüllung und Unternehmungsgeist. Die Schultracht sah für die Buben »kurze Lederhosen, blaue Leinenjacken und scharlachrote Baskenmützen« vor, auf die die Dorfjugend von Bad Berka reagierte wie »der Stier auf das rote Tuch«: Bei Einkäufen im Dorf werden die Schüler regelmäßig mit einem Steinhagel empfangen – für Baldur ein »herrliches Abenteuer«.33

      Eine Kurzbeschreibung des Waldpädagogiums am Hexenberg findet sich im Militär-Wochenblatt. Unabhängige Zeitschrift für die deutsche Wehrmacht, in dem 1917 eine Annonce geschaltet wurde, die insbesondere auf Kinder aus Offiziersfamilien abzielte: »Mit Einjährigenberechtigung, Realschule, Gymnasium, Realgymnasium, Erziehungsschule nach Godesberger Art: Lehrer und Hauseltern, Arzt und Erzieher arbeiten Hand in Hand zu allseitig tüchtiger Ausbildung der Jugend zur Förderung der Zurückgebliebenen, zur Pflege und Erstarkung der Starken. Eigene Landwirtschaft und Viehzucht sichern ausreichende Verpflegung.«34 Seinen Namen hatte der »Hexenberg« im Übrigen nach einer Frau erhalten, die hier 1673 als »Hexe« am Scheiterhaufen hingerichtet worden war.

      Das Waldpädagogium Bad Berka, gegründet 1911 durch den Lehrer Dr. Emil Endemann, bestand aus mehreren Blockhäusern und existierte bis 1922. Es orientierte sich an den Ideen von Hermann Lietz zum Familienprinzip des Evangelischen Pädagogiums in Bad Godesberg.35 Das bedeutete, dass die Lehrer als »Hauseltern« mit den Schülern in eigenen Häusern untergebracht wurden. Durch das Einsetzen von »Präfekten«, d. h. älteren Schülern, die auch Strafen austeilen konnten, sollte ein letztlich streng autoritäres Unterrichtsregime umgesetzt werden. Lietz beschrieb 1910 das System folgendermaßen: »Wir führten streng die Einrichtung der Präfekten durch, welche uns Erzieher in unserer Arbeit zu unterstützen haben, so zur Selbständigkeit und Selbstbeherrschung heranwachsen und in der Pflichterfüllung und Sorge für Kleinere ernst und gewissenhaft werden; sie haben für Ordnung und Ruhe in den Schlaf-, den Arbeits-, Fahrrad-, Turngeräteräumen, der Werkstätte zu sorgen und sind für Befolgung der in Betracht kommenden Regeln verantwortlich. Durch letztere wird alles bis ins Kleinste bestimmt und Gewöhnung an feste, gut geordnete Lebensweise ermöglicht.«36

      Hermann Lietz selbst scheute nicht vor Schlägen zurück, obwohl offiziell Körperstrafen als erzieherisches Mittel nicht vorgesehen waren. Lietz, ein deutscher Nationalist, der jeden Frieden im Ersten Weltkrieg ablehnte, vermeldete 1917 stolz, dass alle seine wehrfähigen Schüler der im September 1917 neu gegründeten Deutschen Vaterlandspartei (DVLP) beigetreten wären und einen militärisch kontrollierten Führerstaat anstreben würden. Im Konzept von Lietz zeigten sich durch die Einführung des »Arierprinzips« ab 1903 bereits früh klare Tendenzen zu einer rassistischen, deutsch-völkischen Eliteausbildung. Seine Schüler rekrutierten sich vor allem aus Kindern der Oberschicht, häufig waren Schüler dabei, die Probleme an anderen Schulen hatten und dort den Abschluss nicht schafften. Im Falle von Baldur von Schirach gibt es jedoch dazu keine Hinweise. In seiner Autobiografie verschweigt er konkrete Details zu seiner Schulbildung bzw. zu den Schulerfolgen.

      Lehrer (»Hauseltern«) und Schüler leben zusammen in einer autoritär geordneten Gemeinschaft: Das Waldpädagogium Bad Berka, gegründet 1911, versuchte die Ideen des Reformpädagogen Hermann Lietz (oben) in die Tat umzusetzen.

      Die Jugend soll für einen möglichen Krieg gerüstet sein: Generalfeldmarschall Wilhelm Leopold Colmar Freiherr von der Goltz gründete 1911 den Jungdeutschlandbund.

      »Arbeitslager« des Kultur- und Rundfunkamtes der HJ in der Stadt Goethes und Schillers im Juni 1938: Der »alte Kämpfer« Hans Severus Ziegler spricht in der Weimarhalle zu den Teilnehmern.

      Zwar fehlen Unterlagen oder Erinnerungen zur Situation im Waldpädagogium Bad Berka, die völkisch-nationalistische, antidemokratische und antisemitische Linie, die Lietz vorgab, ist jedoch bestens dokumentiert. Diese wurde aber von Schirach nie kritisch reflektiert, sondern höchst positiv dargestellt. Die Strategie von Hermann Lietz richtete sich gegen die drillartige Paukerschule in den Großstädten, seine Vorstellung blieb aber letztlich stark von einem evangelisch-christlichen, strengen und spartanischen Weltbild geprägt, das sowohl das wilhelminische Kaiserreich als auch den deutschen Nationalismus verherrlichte und von antisemitischen, antikapitalistischen und darwinistischen Vorstellungen beherrscht wurde.37

      Ein kurzer Blick in seine Broschüre Des Vaterlandes Not und Hoffnung. Gedanken und Vorschläge zur Sozialpolitik und Volkserziehung, 1919 im Verlag des Waisenheims an der Ilse erschienen, reicht, um zu erkennen, dass Lietz bereits die »Rassenfrage« und den Antisemitismus vor dem Hintergrund einer Stärkung der deutschen Nation auch durch Maßnahmen im Bereich von »Rassenhygiene« thematisierte. Es ist daher kein Zufall, dass er auch in der NS-Zeit immer wieder zitiert wurde.

      Alfred Andreesen, sein Nachfolger als Leiter der Lietz-Schulen, proklamierte 1934 etwas vollmundig, »daß alles, was Lietz in jahrelangem Kampfe anstrebte, im Nationalsozialismus zu einem großen politischen Wollen zusammengefasst« worden wäre.38 1935 schloss sich Baldur von Schirach im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Lebenserinnerungen von Lietz, die Alfred Andreesen neu herausgegeben39 und durch Briefe und Berichte ergänzt hatte, dieser Meinung an: »Ich sehe in Lietz die reinste und fruchtbarste Erziehungsgestalt unseres Volkes.«40

      Schirach selbst erwähnt diese ideologischen Hintergründe und Untiefen von Lietz zwar nicht in seiner Autobiografie, dokumentiert aber ganz offen das antidemokratische kaisertreue Umfeld im Waldpädagogium Bad Berka. Als er als Elfjähriger eine rasch von Näherinnen des Heimes gebastelte schwarz-rot-goldene Fahne, die eigentlich an die 1848er-Revolution erinnerte und die Fahne der Weimarer Republik werden sollte, am Dach eines der Holzhäuser hisste, wurde er von Direktor Emil Endemann gerügt, da ja auch Schirachs Vater von den »Roten« davongejagt worden sei. Schnell holte der junge Schirach dieses »revolutionäre« Fahnenstück wieder vom Dach, denn vorerst galten in diesem Umfeld noch die kaiserlichen Farben Schwarz-Weiß-Rot.41

      Baldur von Schirach passte sich rasch an und bewarf mit Internatskollegen berittene Soldaten der vorläufigen Reichswehr mit Schneebällen. 6.000 Mann sollten die Weimarer Nationalversammlung schützen, d. h. die 423 Deputierten (darunter erstmals 37 Frauen), welche die neue Verfassung ausarbeiteten.42

      Die Zeit im Bubeninternat auf dem Hexenberg wurde für Schirach zur zentralen Erzählung seiner Jugend. Das gilt sowohl für seine Autobiografie aus dem Jahr 1967 als auch für sein langes Eingangsstatement bei der Hauptverhandlung der Nürnberger Prozesse 1946. Geschickt wusste er die Prinzipien des Reformpädagogen