Sie packen aus. Mathilde Schwabeneder

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Автор произведения Mathilde Schwabeneder
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783990405925



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Borsellino wird vor dem Haus seiner Mutter in die Luft gesprengt. Eine in einem Auto versteckte Bombe reißt weitere fünf Menschen in den Tod. Unter ihnen ist auch Emanuela Loi, die erste und bisher einzige Leibwächterin, die einem Mafiaanschlag zum Opfer gefallen ist.

      Der Tod der beiden Juristen bedeutet einen schweren Schlag für den Kampf gegen die Mafia, aber auch für Piera und Rita persönlich. Ihre wichtigste Bezugsperson, die einzige, der sie wirklich vertrauten und die sie schützte, ist tot. Rita fällt in eine tiefe Depression. Nur eine Woche nach der Ermordung von Zio Paolo springt die junge Frau, die gerade aus Sicherheitsgründen in Rom eine neue Wohnung bezogen hat, in den Tod. Sie wirft sich vom siebten Stock eines Gebäudes in die Tiefe. Wenige Tage später wäre Rita 18 Jahre alt geworden.

      Die Nachricht von ihrem Tod wird von den Insassen im Gefängnis von Trapani mit einem langen Applaus aufgenommen. Nach dem Begräbnis wird Ritas Mutter mit einem Hammer das Foto auf dem Grabstein ihrer Tochter zerschlagen und dafür verurteilt werden. Das Band der Mafia erweist sich einmal mehr als stärker als das der Liebe zur eigenen Familie.

      Piera selbst kann nicht am Begräbnis teilnehmen. »Aus Sicherheitsgründen«, wie man ihr erklärt. Für sie beginnen nun lange, schwierige und teilweise sehr einsame Jahre, eine Erfahrung, die sie heute in ihre Arbeit als Parlamentarierin einfließen lässt. »Als ich mich zur Zusammenarbeit mit der Justiz entschloss«, sagt sie, »wusste ich gar nicht, was eine Kronzeugin eigentlich ist und worauf ich mich einlassen würde.« Erst später lernt sie, dass es auch Justizkollaborateure gibt, sogenannte reuige Mafiosi, die ebenfalls im Zeugenschutzprogramm und daher mit einer falschen Identität leben.

       Das prekäre Leben als Kronzeugin

      Schon bald beginnt sie sich aus dem Untergrund heraus zu engagieren und wird Teil des Nationalen Verbandes der Kronzeugen. »Mit einer Gruppe von ihnen regte ich zwei Gesetze an, die auch angenommen wurden. Kronzeugen wurde damit endlich die Möglichkeit gegeben, zu arbeiten. Wir waren ja gezwungen, 24 Stunden am Tag zu Hause zu sein. Sich sein Brot ehrlich verdienen zu können, ist aber eine Frage der Würde. Wir hatten ja alles verloren. 2001 konnte ich außerdem dazu beitragen, dass der Gesetzgeber zwischen Kronzeugen und Justizkollaborateuren unterscheidet.« Unterstützt wurde sie bei diesen Bemühungen auch von Paolo Borsellinos Schwester, die ebenfalls Rita heißt.

      Heute ist Piera Aiello Mitglied der Parlamentarischen Anti-Mafia-Kommission sowie der Justizkommission. In dieser Funktion macht sie sich vor allem für die Kinder von Zeugen stark, die ebenfalls im Untergrund leben. »Man muss sich um die Familien kümmern«, fordert sie vehement. »Nicht nur um die Kronzeugen und Justizkollaborateure. Kinder müssen oft auf eine höhere Ausbildung verzichten, da die finanziellen Möglichkeiten während des Schutzprogrammes nicht gegeben sind.« So werden sie ein zweites Mal Opfer ihrer Lebensumstände, auf die sie selbst keinen Einfluss haben.

      Piera Aiello lässt die Jahre Revue passieren. Vieles gehört geändert, ist sie überzeugt. »Man bringt mit seinen Aussagen die Schuldigen hinter Gitter, aber man lebt selbst wie im Gefängnis.« Die ständigen Wohnungswechsel sowie die permanente Gefahr, gefunden zu werden, zermürben. Einmal, erinnert sie sich, wurde ihr Aufenthaltsort durch die Unachtsamkeit eines Sicherheitsbeamten verraten. Die Angst steckt ihr heute noch in den Knochen.

      Dieses prekäre Leben hat auch das Verhältnis zu ihrer Tochter getrübt. Erst seit einigen Jahren hat sich die Beziehung entspannt, sagt sie glücklich. »Seit meine Tochter selbst Mutter ist, kann sie die Schwierigkeiten verstehen, mit denen ich zu kämpfen hatte.«

      Und warum hat sie sich der Fünf-Sterne-Bewegung angeschlossen?, möchte ich von ihr wissen. »Weil es unter ihnen keine Politiker gibt, gegen die ermittelt wird. Anders als oft in anderen Parteien.« Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und soziales Engagement sind ihre Eckpfeiler. Als onorevole, als Frau Abgeordnete, will sie übrigens nicht angesprochen werden. »Ich sehe mich gar nicht als Politikerin«, sagt sie lächelnd, »ich bin einfach nur eine Frau aus dem Volk.«

      Und als solche setzt sie sich intensiv für die Abschaffung der in Italien üblichen Leibrente für Politiker ein. »Warum muss ein Abgeordneter oder ein Senator eine riesige Pension bekommen? Während ein Maurer wie mein Vater, der jahrzehntelang hart geschuftet hat, nur einen Bruchteil erhält?«

      Piera Aiello weiß, wovon sie spricht. Als Kronzeugin hatte sie drei Jahre vergeblich versucht, einen Job zu bekommen. Dann ging sie als Landarbeiterin aufs Feld und hat Tomaten, Orangen und Oliven geerntet. »Das bedeutete, um 3 Uhr aufzustehen und sich Wind und Wetter auszusetzen.« Politiker hätten ein sehr privilegiertes Leben, ist sie daher überzeugt. Dass sie sich damit bei ihren Parlamentskollegen nicht besonders beliebt macht, ist Piera Aiello egal. Der Kampf gegen die Mafia habe sie stark gemacht.

      Von der BBC ist Piera Aiello 2019 in die Liste der 100 einflussreichsten Frauen der Welt aufgenommen worden.

      LETIZIA BATTAGLIA

      Der Name war ihr gleichsam schicksalhaft in die Wiege gelegt. Darauf hatte sie keinen Einfluss. Doch dann hat sie ihn bewusst ein ganzes langes Leben leidenschaftlich und überzeugt mit Inhalten ausgefüllt.

      Battaglia heißt Schlacht und Kampf, und gekämpft hat die heute 85-Jährige an vielen Fronten. Der wohl wichtigste Kampf hat ihr den Beinamen »Mafiafotografin« eingebracht. Ihre beeindruckenden und tiefgründigen Aufnahmen aus der Zeit des »Zweiten Mafiakrieges« sind bis heute rare Dokumente, die einen einzigartigen Blick in die blutgetränkte Welt der Cosa Nostra ermöglichen und das Leben in Sizilien aufzeigen. Es sind Fotos, die oft mehr über das organisierte Verbrechen und dessen krakenartige Verbreitung in der Gesellschaft aussagen als manche Gerichtsakten.

      Auf ihre Tätigkeit als »Chronistin der Mafia« will Letizia Battaglia jedoch nicht reduziert werden. »Ich bin keine klassische Mafiaexpertin«, sagt sie mit ihrer charakteristischen rauen Stimme. »Ich habe es mir nicht ausgesucht, diesen Krieg zu fotografieren und zu dokumentieren. Anders als ein Kriegsfotograf, der sich bewusst für einen Schauplatz entscheidet, wollte ich einfach nur meine Arbeit als Fotografin verrichten. Es lag nicht in meiner Absicht, Tragödien zu begleiten. Aber ich befand mich in Palermo.«

      An ihr erstes »Mafiafoto« erinnert sie sich, als wäre es soeben geschossen worden. Es war tiefe Nacht und sie befand sich mitten auf dem Schauplatz. Ein Mann lag leblos unter einem Olivenbaum. Es war Letizia Battaglias erste Leiche, der erste Ermordete einer langen Reihe, die ihre Arbeit als Fotoreporterin prägen würden. »Ich stand dort und redete mir ein: Wenn ich nur ein wenig warte, dann beginnt er sich zu bewegen. Ich hatte ja noch nie jemanden gesehen, der tot vor mir auf der Erde liegt. Ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass es normal sein sollte, Menschen umzubringen. Und heute kann ich nur sagen: An all diese Gewalt gewöhnt man sich nie!«

      Es waren bürgerkriegsähnliche Zustände, die Sizilien in den 1970er und 1980er Jahren im Würgegriff hielten. Der Kampf um die Vorherrschaft zwischen den etablierten Mafiafamilien Palermos und den aufstrebenden Mafiosi aus der Kleinstadt Corleone wurde mit äußerster Brutalität geführt.

      Bis zu eintausend Tote soll dieser Konflikt gefordert haben. Die wirkliche Zahl bleibt auch heute noch im Dunkeln. Menschen wurden auf offener Straße erschossen, in militärische Hinterhalte gelockt oder Opfer der sogenannten lupara bianca, des »weißen Jagdgewehrs«. Dieses ist in Mafiakreisen ein Synonym für den perfekten Mord. Die Logik dahinter ist so pervers wie einfach: Es gibt kein Blut, weil es keine Leiche gibt. Die Mörder lassen ihre Opfer spurlos verschwinden. Sie mauern die Leichname auf einer der vielen Baustellen der Stadt ein oder lösen sie in Säure auf. So verlieren sich die Spuren der Ermordeten und mögliche belastende Indizien tauchen erst gar nicht auf. Die Hinterbliebenen können nicht einmal um ihre Familienmitglieder trauern. Was bleibt, sind nie enden wollende Zweifel über das Schicksal ihrer Angehörigen und eine meist stumme Verzweiflung.

      Letztlich gingen die Corleonesi aus diesem Krieg als Sieger hervor und etablierten ein neues, noch blutrünstigeres