33 Tage. Marko Rostek

Читать онлайн.
Название 33 Tage
Автор произведения Marko Rostek
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783990402542



Скачать книгу

Heuschober sind in der Ferne auszumachen und im Hintergrund ist bereits die Silhouette der Pfarrkirche von Artstetten zu sehen. Abgesehen vom Klappern der Hufe und den schlurfenden Schritten ist es totenstill. Mühsam gehen Mensch und Tier die letzten Schritte des Weges neben den Särgen einher. Jetzt zeigen sich bereits die ersten Häuser des Dorfes, deren Dächer rot durch die Nebelschwaden und das Laub leuchten. Ein paar Schritte weiter sehen sie das Schloss Artstetten, das Ziel der Mühen.

      Kurze Zeit darauf kommt der Trauerzug in den frühen Morgenstunden völlig erschöpft in Artstetten an. Die Särge werden von der kleinen Dorfgemeinschaft bereits erwartet und für die in wenigen Stunden angesetzte Trauerzeremonie in die Kirche gebracht. Männer des Dorfes spannen die Pferde aus und entlassen sie auf die nächstgelegene Weide, während die Begleitmannschaft sich im einzigen Gasthof des Ortes wärmen und die Kleider trocknen kann. Auch für eine heiße Mahlzeit ist gesorgt. Für ausgiebige Ruhe ist jedoch keine Zeit. Zum letzten Mal werden nun für das ermordete Thronfolgerpaar Trauerfeierlichkeiten abgehalten. Nur die engsten Familienangehörigen sowie Erzherzog Karl und seine Gemahlin Zita kommen nach Artstetten, wo die Särge nach der Messe von der Dorfkirche in die vorbereitete Familiengruft unter dem Schloss gebracht werden. Begleitet werden die Särge dahin nur von jenen, die genau wissen, was sie an Erzherzog Franz Ferdinand verloren haben.

      ***

      „Bitte einsteigen und Türen schließen. Der Zug fährt ab“, hallt es metallisch und nur schwer verständlich aus den Lautsprechern. Im hinteren Zugteil, wo sich die Schlafwagen befinden, besteigt ein korpulenter Mann einen Waggon. Suchend blickt er auf jedes Türschild, an dem er vorbeikommt, und vergleicht es mit den Daten in seinem Gedächtnis. In der Mitte des Waggons wird er fündig. Den Koffer und die ungewöhnlich umfangreiche Aktentasche vor sich in das Abteil schiebend, drückt er sich hinterher. Sorgfältig verschließt er die Tür, und als der Zug mit einer ruckenden Bewegung langsam abfährt, hebt der Mann gerade den Koffer in das Gepäcksnetz über der Salonliege. Er bleibt noch eine Weile stehen, zieht die Taschenuhr an der silbernen Kette aus der Jacketttasche und blickt lange darauf. „Ausgesprochen pünktlich …“, denkt er und beobachtet, wie der Sekundenzeiger das Ziffernblatt umrundet. Das Signalhorn, das durch energisches Tuten die Ausfahrt aus dem Bahnhofsgelände und damit einhergehend eine höhere Fahrgeschwindigkeit ankündigt, reißt ihn aus seinen Gedanken. Der 55-jährige Diplomat setzt sich in Fahrtrichtung auf einen Platz und sieht die Vororte Wiens vorbeiziehen. Die umliegenden Hügel sind bereits von der untergehenden Sonne in rötliches Licht getaucht und kündigen eine angenehme, warme Nacht an.

      Zu Mittag hat ihn der Minister des Äußeren zum wiederholten Male in sein Büro zitiert, um mit ihm die Wichtigkeit der bevorstehenden Mission zu besprechen. Er hat Instruktionen für sein Verhalten, Informationen zu seinen Gesprächspartnern und sogar Leitfäden für mögliche Gesprächsinhalte bekommen. Man hat ihn mehrmals mit Situationen und Personen konfrontiert und seine Reaktionen und Antworten geschult. Nichts soll dem Zufall überlassen werden, das Ergebnis seiner Mission ist unzweifelhaft von entscheidender Bedeutung für die Monarchie. „Nicht nur für die Monarchie, auch für den Minister!“ Er weiß, dass mit seiner Mission auch die berufliche Zukunft von Graf Berchtold auf dem Spiel steht. Viel hängt von der Nachricht ab, die er nach den Unterredungen in Berlin nach Wien überbringen kann.

      Kurz vor der Abreise hat man ihm noch jene beiden Dokumente übergeben, die im Rahmen seiner Kontakte in Berlin an den deutschen Kaiser auszuhändigen sind. Zuerst hat es geheißen, dass nicht er, sondern der k. u. k. Botschafter in Berlin, Ladislaus Szögyény-Marich, den Besuch beim Kaiser wahrnehmen wird. Dann hat Berchtold aber anders entschieden. Zum einen, weil Szögyény schon sehr alt ist und unmittelbar vor der Ablöse steht, und zum anderen, weil Berchtold davon ausgehen muss, dass der österreichische Botschafter in Berlin als Ungar bestimmt von Tisza bereits Instruktionen erhalten hat. Berchtold ist jedoch bestrebt, in Berlin ein Signal für die allgemeine Stimmungslage in Wien zu setzen, die nun auf Entschlossenheit zur Lösung des serbischen Problems hinzielt.

      Jetzt im Zug nach Berlin erinnert sich der Gesandte wieder daran, dass man ihn mit einem herzlichen Händedruck verabschiedet und nochmals angewiesen hat, ehebaldigst über Ergebnisse der Unterredungen zu telegrafieren. Danach ist er nach Hause gegangen, hat seinen Koffer gepackt und ist zum Bahnhof aufgebrochen. Gerade noch rechtzeitig hat er den Zug nach Berlin um 18:30 Uhr erreicht. Das Abteil ist sehr geräumig und überraschend sauber. Alexander Hoyos nimmt diese beiden Annehmlichkeiten freudig zur Kenntnis, während er das Bett herunterklappt und dieses für die Nacht zurechtmacht. Fein säuberlich faltet er seine Kleidung und legt sie auf einen freien Sitzplatz. In seinem Schlafanzug spiegelt er sich im Fenster des Abteils vor der rasend vorbeiziehenden Landschaft. Mühsam klettert er die Sprossenleiter nach oben und rollt sich auf das Bett, das kräftig zu knarren beginnt. Er legt sich umständlich zurecht, zieht die Decke bis zum Hals und versucht noch einmal, mit angestrengtem Blick aus dem Fenster zu erraten, wo sich der Zug gerade befindet. Bevor er noch Klarheit über die Position des Zuges hat, lässt jedoch das monotone Fahrtgeräusch seine Augen zufallen. Minuten später, Alexander Hoyos schläft bereits tief und fest, passiert der Zug den Bahnhof von Pöchlarn.

      Die Nacht im Zug ist ruhig verlaufen, nur einmal hat der Schaffner seinen Schlaf gestört und einen außerplanmäßigen Halt bei Dresden angekündigt. Man müsse bei einem Aggregat der Lokomotive ein Ventil tauschen, was jedoch innerhalb von Minuten erledigt sein würde. Noch schlaftrunken seinen Zeitplan im Kopf durchgehend, hat er sich, mit einem für den Schaffner wohl unverständlichen „Danke für die Information“-Gebrummel wieder umgedreht und ist alsbald durch das charakteristische Tocktock, Tock-tock der Eisenbahn wieder eingeschlafen. Eine halbe Stunde vor Berlin wird er, wie vereinbart, geweckt, kleidet sich an und lässt sich das Frühstück in das Abteil bringen.

      Als er schließlich in Berlin aus dem Zug steigt, fühlt er sich bestens vorbereitet und zuversichtlich, die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen zu können. Vor dem Bahnhof ist er fasziniert von dem Getümmel, dem geschäftigen Treiben in den Straßen, den unglaublich vielen Automobilen und den allerorts erkennbaren Anzeichen einer prosperierenden, modernen europäischen Metropole. Einige Minuten bleibt er so stehen und erliegt ganz der Anziehungskraft des pulsierenden Treibens. „So stelle ich mir die Moderne des 20. Jahrhunderts vor“, denkt er bei sich. Kurz darauf wird er vom Mitarbeiter der österreichischen Botschaft entdeckt, der ihn im Automobil zum Botschaftsgebäude bringt. Nachdem er kurz beim österreichischen Botschafter vorstellig geworden ist, um diesen noch mündlich in die bevorstehenden Gespräche einzuweihen, der durchgeführte schriftliche Telegrammwechsel wird in Zeiten der unausgesetzten Spionagegefahr nur auf die nötigsten Formalismen beschränkt, deckt er sich mit den notwendigen und neuesten Informationen über seine Kontaktpersonen, die er in den nächsten Tagen treffen wird, ein.

      Hoyos hat es eilig, denn er wird bereits zum Mittagessen vom deutschen Kaiser erwartet. Der Botschaftsangehörige, der ihn vom Bahnhof abholt, begleitet ihn zum neuen Palais in Berlin und setzt ihn pünktlich vor den Toren des Amtssitzes von Kaiser Wilhelm ab. Während Alexander Hoyos mit großen Augen das imposante Stadtschloss bewundert, erinnert er sich beruhigt daran, dass er seine Unterredungen für den heutigen Tag wieder und wieder im Geiste durchgegangen ist.

      Hoyos blickt dem Mitarbeiter der Botschaft nach und wartet, bis dieser einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe gefunden hat, dann wendet er sich dem monumentalen Eingangstor des Stadtschlosses zu. Hoch aufragende, beeindruckende Steinsäulen umrahmen ein prächtig glänzendes schwarzes Gittertor, das an seinem oberen Ende mit dem prunkvollen Wappen der Hohenzollern gekrönt wird. Das große Tor, das nur dann geöffnet wird, wenn für Automobile und Lastkraftfahrzeuge die Einfahrt frei gemacht wird, gestattet einen eindrucksvollen Blick auf das Anwesen des deutschen Kaisers. Eine breite und mit strengen, geradlinigen Mustern gepflasterte Straße führt vom Tor geradewegs zum Haupteingang des Schlosses. Links und rechts der Straße sind üppige Blumenrabatten und Beete angelegt, die von kurz geschnittenen Buchsbaumspalieren eingesäumt sind. Im Hintergrund erkennt Alexander Hoyos die ausgedehnten Parkanlagen.

      Für jene Gäste, die zu Fuß zum Palast kommen, gibt es an beiden Seiten des großen Tores kleinere Eingangstüren. Zielsicher und ein wenig ehrfurchtsvoll steuert der Österreicher auf den Eingang zu. Nach Aufforderung des Wachhabenden