Mai-Schnee. Gertrud Wollschläger

Читать онлайн.
Название Mai-Schnee
Автор произведения Gertrud Wollschläger
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783961456871



Скачать книгу

zu Weihnachten begonnen. Er endete damit, dass der Heilige Abend nur gerettet wurde, weil der Vater das ganze Paket kurzerhand in das elterliche Schlafzimmer verbannte. In den Wochen danach wurde die Spielzeit genau eingeteilt, ein Tag Hannes, ein Tag Ludwig. Aber sie merkten bald, dass auch das nicht in ihrem Sinne lief. An manchen zugeteilten Tagen passte ein Brand einfach nicht zu dem Bauprojekt, das sie gerade in Arbeit hatten. Viel wichtiger war es dann, mit zwei Lastwagen Sand an eine bestimmte Baustelle zu fahren.

      Sie spielten gerne zusammen, die beiden Buben. Kameraden waren sie, vereint in einer schwierigen Situation. Sich selbst überlassen. Eine Situation, die sie aber nicht ändern konnten, die von beiden gelebt werden musste.

      Sie fühlten, wie angenehm es war, die nackten Füße in den warmen Hügel einzubuddeln, wenn die Sonne den Sand aufgeheizt hatte. Sie gruben und tätschelten die feinen Körner, schmissen sie sich in Gesicht und Haare. Ganz spannend war für beide der Tag, an dem Hannes dem Ludwig wichtigtuerisch erklärte: „Du, den Sand kann man auch essen, der schmeckt wie Brei. Trocken halt, aber mit Wasser wie Brei!“ Er wies seinen kleinen Bruder an: „Mach du zuerst!“ „Nein, du!“ „Also komm, miteinander!“ „Also, jetzt!“ Die Zungen wurden in den Sand gesteckt und alles, was daran hängen blieb, mit Todesverachtung hinuntergeschluckt. Das war nicht wenig. Aber abgemacht war abgemacht. Eine Wiederholung des Spiels ‚Sandschlecken‘ fand allerdings unausgesprochen zu keiner Zeit mehr statt.

      In der Küche ist es still geworden. Dieser Moment ist für Mechthild der schwerste des ganzen Tages. Jetzt muss sie Gedanken zulassen, die an die Oberfläche drängen. Wie Gespenster wabern die unausgesprochenen Fragen durch die Küche. Sie macht dann jedes Mal die Fenster auf, als könne dadurch im Austausch wieder ein Gleichgewicht geschaffen werden. Die normale Welt gegen eine Welt von etwas, das nicht hätte geschehen dürfen.

      Sie räumt den Tisch ab und merkt, wie kraftlos ihre Hände geworden sind. Abwaschen, aufräumen, ausfegen, alles geschieht mechanisch. Nichts lenkt ab. Sie ist alleine, die erdrückenden Gedanken sind da, unbezwingbar, sie denken, was sie wollen. Der Spruch ‚Die Gedanken sind frei…‘ stimmt für sie. Ihre Gedanken sind von ihr nicht zu steuern. Die gehen ihre eigenen Wege. Sie sind von ihr nicht beherrschbar.

      Sobald Mechthild fertig ist, setzt sie sich in ihren alten abgewetzten, aber bequemen Sessel im Wohnzimmer und starrt aus dem Fenster. Lässt alles zu, was aus ihrem Kopf zu ihr kommt. Von Zeit zu Zeit drängt ein tiefes Seufzen aus ihr. Sie merkt es nicht einmal. Holt einen Korb mit Flickzeug. Kann zwischendurch die Nadel nicht einfädeln, weil Tränen die Augen trüben. Das kann sie beim Flicken überhaupt nicht gebrauchen. „So komm ich mit dem Stopfen nie voran! Nicht mal das klappt wie früher.“ Der Zorn über das zerstörte Leben, das wie eine böse Heimsuchung über sie hereingebrochen ist, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Ohne darüber nachzudenken, saust plötzlich ihre Faust mit donnernder Kraft auf den Tisch. Die Schere, die vor ihr bei der Wolle liegt, macht einen kleinen Satz und antwortet mit einem metallischen Klicken. Erschrocken über sich selbst blickt Mechthild um sich. Gut, dass keiner ihren Ausbruch gesehen hat. Der Schmerz in der Schulter bringt sie wieder zu sich. „So nicht! Das hilft mir nicht und keinem. Davon wird nichts besser. Zorn und Verbitterung, das kann jetzt keiner von uns gebrauchen. Es wäre das Ende der Familie, wenn das die Oberhand gewinnen würde.“ Energisch geht Mechthild in die Küche, nimmt die Blechkanne mit dem Restkaffee vom Morgen vom Herd und schenkt sich eine große Tasse voll. Nimmt viel Milch und Zucker dazu und trinkt mit langsamen Zügen das ganze Gefäß leer.

      Hinter der Scheune sitzt Jürgen auf dem warmen Holz, das der Onkel am Vormittag aufgeschichtet hat. Er hört mit halbem Ohr, wie die Mutter und Onkel Arthur mit dem Traktor vom Hof fahren. Er bleibt heute draußen. Demonstrativ! Er will sich heute beweisen, dass er keine Angst mehr hat. Er, Jürgen, hat einen Plan. Er wird den Kampf aufnehmen, zusammen mit einem mächtigen Verbündeten. Mit dem wird er heute Abend in seiner Kammer sprechen. So wie es ihm seine Mutter immer gesagt hat, früher, als jeder noch mit seinen Sorgen zu ihr kommen durfte. „Wenn man was ganz fest will“, hat sie gesagt, „muss man nur inständig darum bitten, dann geht es auch in Erfüllung.“

      Jetzt sagt sie das nicht mehr. „Aber ich werde es trotzdem tun. Schaden kann es ja nicht! Überhaupt werde ich heute Abend dem Herrn Gott klarmachen, dass wir ja schon eine hergegeben haben. Das langt doch!“ Das würde der bestimmt einsehen. Er sei doch gerecht. Das hat der Pfarrer in der Kinderkirche schon oft gesagt. Der weiß es sicher genau, sonst wäre er doch nicht Pfarrer geworden. Wenn der solche Sachen weitererzählt, muss ja was dran sein. „Ich werde es sogar schriftlich machen und meine zwei Mark von Onkel Arthur darin einwickeln. Dann stecke ich den Zettel in den Opferstock. Ich muss sowieso wieder am Sonntag mit allen in die Kirche. Nachher kann der Pfarrer alles miteinander beim Herrn Gott abgeben. Es darf halt keiner sehen – das Opfergeld und meine Nachricht.“

      Ein tiefes Aufatmen war von Jürgen zu hören. „Warum bin ich nicht schon lange darauf gekommen? So werde ich es machen! Ist doch ganz einfach. Man muss nur reden miteinander“, dachte er noch, während ihn eine neue Lebensfreude fast überwältigte. Er schwang sich vom Holz. Einige der sauber aufgeschichteten Scheite fielen hinter ihm herunter. Er merkte es nicht. Er rannte und hüpfte auf die Dorfstraße, an den Häusern des kleinen Weilers vorbei, lief die vertrauten Wege zwischen den Wiesen und Feldern, bis er am Ende schwer atmend wieder vor seinem Zuhause stand.

       SAURE KIRSCHEN

      Jahrgang 1959, ich habe Ende Juni Geburtstag, um genau zu sein am achtundzwanzigsten. Beginn der Reifezeit unserer Kirschen. Dreizehn glückliche Jahre lebte ich auf dem gesegneten Fleckchen Erde, das ich Heimat nennen darf. Viele unvergessene Tage mit Sonja, in einer Freundschaft, wie sie nur in der Einsamkeit des Landlebens erlebt werden kann. Es war kein anderer da, mit dem wir unsere Freundschaft teilen mussten. Wir beide erlebten gemeinsam unsere Kindertage, unsere Schultage, Geburtstage, Sonntage, Sommer- und Wintertage… Einfach irgendwie fast jeden Tag.

      Ich wäre gerne so schön gewesen wie sie. Standen wir beide nebeneinander, war ich zwar anwesend, aber gesehen hat man nur sie. „Bisch du aber a saubers Mädle, du siehsch ja aus wie’s Schneewittchen“. Und so hieß sie dann auch bald „Schneewittchen“. Das stach schon manchmal ein bisschen in der Magengegend, aber doch nur kurz, dann überwog der Stolz, dass ich so eine schöne Freundin hatte.

      Meine Gedanken lassen sich nicht mehr aufhalten. Ich möchte sie steuern in eine andere, eine harmlose Richtung, aber sie kommen dem Grauen am Tag vor Fronleichnam 1972 immer näher. Sie sind nicht aufzuhalten, genauso wenig wie der Zug, in dem ich sitze und der mich mit unwiderstehlicher Kraft in Richtung Süden bringt. Ich spüre wieder diese aufgedrehte Unruhe in mir, die mich in den letzten drei Jahren immer wieder mehr oder minder panikartig überfallen hat.

      Zuerst dachte ich an eine Schilddrüsenüberfunktion. „Aber nein, es ist nichts, es ist nichts Organisches“, sagte der Arzt, „etwas anderes nagt an Ihnen. Was, das müssen Sie herausfinden und abstellen.“

      Ich musste nicht suchen, um das zu finden, was mich belastete, was mich mit aller Macht hinunterzog in diese unbezwingbare Finsternis, die sich vor vielen Jahren in irgendeine Ecke meines Körpers zurückgezogen hatte. Bestimmt hat sie dort gelauert, auf den richtigen Moment gewartet, um bei passender Gelegenheit wieder hervorzukriechen.

      Was sagte der Doktor noch? Abstellen? Wie denn? Die längst überwundenen Albträume kamen wieder. Erst schleichend, dann heftiger. Die Bilder waren wieder da. Bilder, die ich glaubte, überwunden und im Griff zu haben. Sie ließen sich nicht mehr zurückdrängen und ich spürte: „Es ist Zeit! Du musst nach Hause, du musst dich den Orten stellen, die du, krank an Leib und Seele, vor vierzig Jahren verlassen hast, verlassen musstest. Ruhig gestellt von den Eltern und dem Doktor Eberwein.“

      Viele Jahre später erzählte Mutter immer noch davon, dass ich eines Morgens nicht mehr aufgestanden war. Sie brachten mich dann weg. Weit weg. Nach Berlin. Für mich fühlte sich die große, fremde Stadt an wie ein anderes Land. Ich kam zu einer Frau, die Tante Elvira hieß. Ein Name, der zuvor ab und zu