Das Mädchen mit den Schlittschuhen. Michael W. Caden

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Название Das Mädchen mit den Schlittschuhen
Автор произведения Michael W. Caden
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783957446077



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ich euch eigentlich schon einmal von Paulchen und den Kolonisten erzählt?«

      Fast synchron schüttelten die beiden Burschen die Köpfe.

      »Nein? Wirklich nicht?«

      Willi zündete sich eine seiner Salem-Zigaretten an und blies eine dicke Rauchschwade durch das Zimmer. Albert hatte ihm die Zigaretten bei der Miggegret besorgt. In einer Schachtel waren immer drei. Bei der Miggegret holte sich Albert zuweilen für 25 Pfennige auch sein Fliegerbier – eine Art gelbe Limonade. Die Miggegret, ledig und von recht korpulenter Statur, betrieb neben der Dorfkneipe einen kleinen Kolonialwarenhandel und dort gab es alles – auch die Salem für den Vater. Genüsslich zog Willi an der Zigarette. Sie war ohne Filter, muss wohl ziemlich stark gewesen sein, denn sie rief bei ihm mit jedem Zug auch immer ein leichtes Räuspern hervor.

      »Ämmh, also seit Jahren schon waren Paul und ich dicke Freunde. Eigentlich seit dem Moment, als die schusselige Minna, also das war die Dienstmagd des Lehrers, durch die Decke des Klassenzimmers plumpste und ihr Hinterteil in seiner ganzen Pracht sichtbar über den verdutzten Schülern hing.«

      »Das Hinterteil? Der ganze Dupps?«

      Karlchen klopfte sich vor Vergnügen auf die Oberschenkel, während Willi um die Ecke lugte, um auszuschließen, dass Mutter Elisabeth etwas von seiner pikanten Kinderstunde mitbekommen hatte.

      »Ja sicher, was meint ihr denn? Der ganze prachtvolle Dienstmagddupps!«

      Hatte er gerade noch laut und deutlich erzählt, ging er jetzt schlagartig in einen Flüsterton über.

      »Der Lehrer meinte, wer hinschaut, der solle blind werden, als er nach oben ging, um dem armen Marjellchen zu helfen.«

      Karlchen rutschte aufgeregt auf der Ofenbank hin und her.

      »Und hast du hingelugt?«

      »Was denkt ihr denn!«, lachte Willi. »Klar habe eijn Og riskiert und wisst ihr: Blind geworden bin ich och nuscht. Oder seht ihr da irgend wat an meijne Ogen.«

      Karlchen schaute sich den Vater etwas genauer an und grinste.

      »Ne Vadder, scheint alles noch in Ordnung!«

      Willi wusste, dass Paul, der zwei Bänke vor ihm saß, neben ihm der einzige war, der hingeschaut hatte. Das imponierte ihm. Willi und Paulchen, wie er ihn freundschaftlich nannte, das verhielt sich seitdem wie ein durchhängender Dupps zu einem Eimer. Sie wohnten in derselben Straße, sie waren fast gleich alt, und so manches Abenteuer sollten sie fortan gemeinsam überstehen. So stahlen sie der alten Grethe das fette Huhn, als es mutterseelenallein und gänzlich herrenlos in der Nähe des Elbing-Flusses promenierte. Ein anderes Mal mopste Paulchen seiner größeren Schwester Hanne einen Büstenhalter von der Wäscheleine. Mit dem Beutestück, das alle Maße übertraf, die Willi bislang in seinem noch jungen Leben wahrgenommen hatte, statteten sie der unverhüllten »Anna« einen Besuch ab. Anna, so nannten die Elbinger liebevoll die Statue, die Diana, der altrömischen Göttin der Jagd, gewidmet war. Sie stand dort, wie Paulchen fand, ziemlich schamlos zwischen der Kaiserin Auguste-Victoria-Schule, dem Elbinger Lyzeum und dem Pfarrhaus der St. Marienkirche in einem kleinen Lustgarten herum. Willi war schon immer der Meinung, dass man ihr mal etwas anziehen müsste. Besonders oben herum. Und was würde Diana besser passen, als der überdimensionale Büstenhalter von Paulchens Schwester?

      Mit Paulchen hatte er sich eines Tages auf Beutezug in das Gebiet der Kolonisten gewagt, mitten in die Pangritzkolonie. Es kam wie es kommen musste. Plötzlich waren sie da – so als hätte der Himmel sie ausgespuckt – und das unmittelbar vor ihre Nase.

      »Lauf Willi, lauf um dein Leben! Die Kolonisten kommen!«

      Paulchen stand da wie festgewachsen, die Panik ins Gesicht geschrieben. Eben noch hatte er eine dieser dunkelroten, leckeren Kirschen genüsslich von einer Backentasche in die andere geschoben, als er plötzlich eine bedrohliche Ansammlung von zehn bis fünfzehn zornigen Burschen den sandigen Weg hinauflaufen sah. Dass die etwas mit dem Kirschbaum zu tun gehabt haben mussten, dem Willi und Paul zuvor einen Besuch abgestattet hatten, war offensichtlich. Das verriet Paulchen schon dieses knackige und zuckersüße Stückchen Frucht, das seine Geschmacksnerven für einen kurzen Augenblick in reinste Verzückung hatte geraten lassen. Sein noch ach so junges Leben war sicherlich nicht in Gefahr, das ahnte Willi schon, zumindest aber würden sie ordentlich Kattun kriegen, bekämen die Kolonisten sie erst einmal in die Hände.

      Sicherlich würden sie ihnen die Kleider vom Leib reißen und sie mit geübten Stockschlägen durch die Brennnesseln treiben, so wie sie es mit dem kleinen Glogowski gemacht hatten, als dieser sich einmal erdreistete, einen Apfel aus der Kolonie mitzunehmen, der, von der Pangritzer Bevölkerung völlig unbemerkt, zuvor den Baum als Fallobst verlassen hatte. Und sie? Sie hatten die Eimer und Hosentaschen jetzt voll von Kirschen – Pangritzkirschen. Also gab es für Willi und Paulchen nur eins: Rennen! Sie ließen die Eimer Eimer sein und rannten, rannten, als hätte gerade ihr letztes Stündlein geschlagen. Ja, sie rannten in diesem Augenblick tatsächlich so, als ginge es um ihr Leben.

      Die Kolonisten, das waren die Burschen aus der Pangritz-Kolonie. Es gab sie in verschiedenen Größen – zumindest an diesem späten Frühlingsnachmittag. Vorne weg preschten zwei große Lantrusse. Dahinter hatten sich jede Menge Lorbasse formiert, gefolgt in einigem Abstand von ein paar kleinen Rotznasen, die sich das Spektakel als kurzweilige Spätnachmittagsvorstellung offensichtlich nicht entgehen lassen wollten.

      Willi und Paulchen steckten knochentief im Schlamassel. Sie befanden sich auf feindlichem Territorium, die Beweislage war eindeutig, und die wilde Horde rückte ihnen ständig näher auf die Pelle.

      Immer wieder mal waren die beiden in der Vergangenheit in die Pangritzkolonie zum Beutezug ausgerückt. Das Angebot war schließlich reichhaltig und verlockend. Es gab saubere Gärten, Gemüse, viele Obstbäume, auch mal einen Karnickel- oder Hühnerstall, da waren Bienenkörbe und zusätzlich ertragreiche Schrebergärten – alles ideale Orte für eine Erfolg versprechende Expedition. Vor hundert Jahren existierten dort, wo die prallgefüllten Kirschbäume standen, nur Sandhügel. Bis ein ehrbarer Elbinger Kaufmann sie aufkaufte. Er erbaute für sich den Pangritzhof mit einem großen Garten, was ihm offenbar reichte. Das übrige Land teilte er in Parzellen auf und gab es gegen eine geringe Pacht an arme Leute. Die Pacht blieb bestehen, auch als der Pangritzhof später zum Gasthaus »Alte Welt” wurde. Doch was spielte diese Großherzigkeit eines Mannes, den sie noch nicht einmal kennen gelernt hatten, jetzt noch für eine Rolle? Für Willi und Paulchen überhaupt keine.

      »Komm Willi, da den Hügel hinauf!«

      Paulchen deutete in Richtung »Alte Welt.«

      Hatte sein Kumpel vielleicht einen Ausweg aus der Misere gefunden? Willi wollte es noch nicht so recht glauben. Doch egal, was kommen mochte: Paule, der würde ihn nicht im Stich lassen. Das wusste Willi nur zu genau. Und auch umgekehrt konnte Paul immer auf ihn zählen. Das war gewiss. Und gerade dann, wenn Willi glaubte, dass es keine Lösung mehr geben würde: Paulchen, der fand eine.

      »Schnell, da drüben!«

      Willi hatte einen Moment inne gehalten, war stehen geblieben, um abzuschätzen, wie dicht ihnen die Pangritz-Meute schon auf den Fersen war. Lange würde man sie sich nicht mehr vom Leibe halten können.

      »Deiwel noch eins! Willi, nun komm endlich!«

      »Wo willst du hin?«

      »Zum Friedhof hinter der »Alten Welt!«, knurrte Paulchen.

      War das die Rettung? Ein Friedhof als letzter Ausweg?

      Das Gasthaus »Alte Welt” war ein Gebäude mit einem halbrunden Giebel. Ins Gasthaus selbst hatte Willi sich bislang noch nie getraut. Merkwürdig berührte es ihn, dass gleich hinter dem Garten der alte Friedhof lag, der zur Pauluskirche gehörte. Auch sollte im Garten der Richtblock des letzten Scharfrichters Macketanz aufgestellt sein – was für ein Graus! Und auch die Richtstätte »Önner Grund” war nicht weit entfernt.

      Als Willi und Paulchen den Friedhof erreichten, waren ihnen die Kolonisten schon ein bedrohliches Stück dichter auf die Fersen gerückt. In der zweiten linken Reihe hinter dem Eingangstor