Название | "Rosen für den Mörder" |
---|---|
Автор произведения | Johannes Sachslehner |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990404669 |
Rückwirkend mit 1. Mai 1938 wird Franz Murer Mitglied der NSDAP, die Mitgliedsnummer: 6171713. Bundesarchiv Berlin, NSDAP-Gaukartei.
Zuhause am Hof in Gaishorn erwartet Elisabeth Murer inzwischen ihr erstes Kind, Tochter Arngund wird am 28. September 1940 geboren – für den Flak-Artilleristen erfreulicher Anlass, um Heimaturlaub zu nehmen. Bald ist auch Gattin Elisabeth wieder schwanger: Am 19. August 1941 wird der erste Sohn des Paars geboren und auf den Namen „Gerulf“ getauft, ein Name, den die Eltern so wie bei Tochter Arngund wohl mit Bedacht wählen – die althochdeutschen Wurzeln ger (Speer) und wolf (Wolf) sind Programm.
Inzwischen braut sich im heimatlichen St. Lorenzen Unheil zusammen – die erste Jahreshälfte 1941 wird von einem Familiendrama überschattet, das die ganze Region in Atem hält und in der Grazer und Wiener Presse für Schlagzeilen sorgt: Am 26. März 1941 beginnt vor dem Landgericht Leoben der Prozess gegen Franz Murers um ein Jahr jüngeren Bruder, den 28-jährigen Georg Murer, Bauer am väterlichen Pötscherhof in St. Lorenzen ob Murau. Zusammen mit dem 31-jährigen Aufsichtsjäger Rupert Perner aus Seetal, der einst auf seinem Hof als Knecht beschäftigt war, muss sich Georg Murer wegen Mordes verantworten. Was war geschehen? Murer und sein Freund waren dem Glücksspiel verfallen, bei dem Perner schließlich nicht nur die Mitgift seiner Frau, sondern oft auch sein gesamtes Monatseinkommen an Murer verloren und weiter Schulden angehäuft hatte. Diesen Umstand machte sich Georg Murer zunutze und erbat sich von Perner als Gegenleistung die „Erlaubnis“, in dem von ihm beaufsichtigten Revier wildern zu dürfen. Angesichts seiner misslichen Lage musste Perner einwilligen, beide Spieler veranstalteten im Revier von Perner nun regelrechte Treibjagden, zu denen auch der als Wilddieb bekannte Holzarbeiter Raimund Urschnigg eingeladen wurde. Der vorbestrafte Jagdfreund Urschnigg hatte jedoch eine Schwäche: Er plauderte gerne und erzählte prompt im Wirtshaus von den fröhlichen Pirschgängen mit Murer und Perner. Georg Murer, um seine Reputation besorgt, sah daraufhin nur mehr einen Ausweg: Urschnigg musste aus dem Weg geräumt werden.
Er redete seinem Kumpanen Perner so lange zu, bis dieser am 6. Juli 1940 in den Wald marschierte, um mit Urschnigg, dem Schwätzer, „abzurechnen“. Bei einer Holzknechthütte traf der Jäger auf den Wilderer, der eben dabei war, ein Stück Wild aufzubrechen. Perner zog seine Dienstpistole und forderte Urschnigg auf, ihm auf die Gendarmerie zu folgen. Der verblüffte Wilderer nahm die Aufforderung seines Bekannten nicht ernst und ignorierte auch eine zweite – da feuerte Perner einen Schuss ab, Urschnigg war sofort tot.
Perner wurde einen Tag später wegen Überschreitung der Notwehr verhaftet, seine Version des Tathergangs – Urschnigg sei mit einer Axt auf ihn losgegangen – erwies sich in den Vernehmungen bald als Lüge, schließlich legte der Jäger ein Geständnis ab und belastete damit auch seinen Freund Georg Murer schwer. Da der Verdacht der Mitwisserschaft aufgrund der Aussage Perners auch auf Georgs Schwester Seraphine Murer (1910–1948) fiel, wurde sie ebenfalls in Untersuchungshaft genommen, nach drei Monaten allerdings freigelassen. Perner hatte behauptet, dass sie gehört hätte, wie ihr Bruder Georg sagte: „Der Urschnigg gehört weg!“
Vom Strafsenat des Landgerichts Leoben wurden Rupert Perner und Georg Murer, der beharrlich leugnete, am 1. April 1941 wegen Mordes bzw. Anstiftung zum Mord zu lebenslangem schwerem Kerker mit einem harten Lager an jedem Jahrestag der Tat verurteilt. Die beiden Verurteilten und auch der Staatsanwalt, der ursprünglich sogar für die Todesstrafe plädiert hatte, gingen in die Berufung an das Reichsgericht – dessen Entscheidung wollte Georg Murer aber nicht mehr abwarten: Er verübte am 10. Februar 1942 in seiner Zelle im Grazer Gefängnis Selbstmord. Das Strafausmaß für Rupert Perner wurde im November 1942 – nunmehr wegen „Totschlags“ – auf zehn Jahre Zuchthaus herabgesetzt. Der „Leobner Wildererprozess“ wurde auch in den Wiener Blättern aufmerksam verfolgt, erblickte man darin doch ein bezeichnendes Sittenbild aus der steirischen Provinz.
Auftakt in Wilna
„Messieurs, mir scheint, wir sind in Jerusalem!“, soll Napoleon Bonaparte gesagt haben, als er 1812 auf dem Weg nach Moskau seinen Einzug in der Stadt hielt. Der schlagfertige Korse und seine Entourage waren überrascht von dem Bild, das sich ihnen in den Gassen bot: Orthodoxe Juden prägen das Leben in der Stadt, die von ihnen Vilne genannt wird und seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem Mittelpunkt jüdischer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit geworden ist. Hier, im „Jerusalem des Nordens“, blüht die Haskala, die osteuropäisch-jüdische Aufklärung, die Bildung und Wissenschaft hochhält und eine Erneuerung des Judentums anstrebt.
1847, unter Zar Nikolaus I., wird eine russischsprachige Rabbinerschule mit einem angeschlossenen Gymnasium gegründet, die russische Assimilationspolitik zielt auf eine Anpassung der jüdischen Bevölkerung an die russische Gesellschaft, die Repressionen reichen von der Zwangstaufe bis zur Aberkennung von Grundbesitzrechten und Militärpflicht für Juden. Gleichzeitig wächst der Antisemitismus – nicht nur bei den Russen, sondern auch bei den Polen. Von Pogromen bleibt Wilna jedoch verschont, die jüdische Gemeinschaft floriert und setzt auch politische Zeichen: 1897 wird in Wilna der „Bund“ gegründet, die bedeutendste jüdisch-sozialistische Partei Osteuropas.
1939, am Vorabend der Besetzung durch die Rote Armee im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts, hat Wilna, zu diesem Zeitpunkt noch Hauptstadt der polnischen Wojewodschaft Wilno (województwo wileńskie), rund 200.000 Einwohner, der Anteil der jüdischen Bevölkerung beträgt knapp 40 Prozent, also etwa 75.000 Menschen.
Wilna, das „Jerusalem des Nordens“, ist eine Stadt der Kirchen und Türme. Blick über die Altstadt, Ansichtskarte, um 1920.
Es ist Anfang Juli 1941. Seit wenigen Tagen läuft „Unternehmen Barbarossa“, Hitlers gigantischer Feldzug gegen die Sowjetunion. Ordensjunker Franz Murer, der mit seiner Truppe noch immer in Nordfrankreich stationiert ist, wird am 2. Juli zur „A. u. E.-Stelle“ des Luftgaukommandos III versetzt, soll also für „Ausbildung und Ersatz“ tätig sein. Die neue Dienststelle ist jedoch nach wenigen Tagen bereits wieder Vergangenheit: Ein Telegramm aus Berlin trifft für den Gefreiten ein. Lakonisch heißt es da: „Auf Befehl des Führers haben Sie sich in Berlin beim Sonderstab R. zu melden …“ Sonderstab R.? Murer hat keine Ahnung, was sich dahinter verbergen mag, offenbar hat man aber in der Hauptstadt eine besondere Aufgabe für ihn vorgesehen. Die Adresse, an der er sich melden soll, klingt ziemlich kryptisch: „Institut für kontinental-europäische Forschung“ in der Rauchstraße 17/18. Geht es um Russland, um einen Einsatz im Osten? Was er nicht weiß: Telegramme wie dieses haben auch zahlreiche andere „Ordensburger“ erhalten. Pflichtbewusst meldet sich Murer am 8. Juli 1941 bei seiner Einheit ab und reist am nächsten Tag nach Berlin, wo sich das Dunkel etwas lichtet: Der „Sonderstab R.“ entpuppt sich als „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR), offenbar verbindet sich damit tatsächlich eine Funktion in den eben von der Wehrmacht eroberten Gebieten. Murer muss für das geheimnisvolle Institut für kontinental-europäische Forschung eine „Notdienstverpflichtung“ unterschreiben und gleichzeitig seinen Dienst als Soldat quittieren: Aufgrund der „Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938“, so der Text dieser wortkargen „Polizeilichen Verfügung“, werde er nun zu einem „langfristigen Notdienst“ herangezogen. Was Murer zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht weiß: Er ist jetzt Mitarbeiter von Alfred Rosenbergs „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“, das sich unter dem genannten Tarnnamen im beschlagnahmten Gebäude der ehemaligen jugoslawischen Botschaft in der Rauchstraße angesiedelt