Die Stunde der Kurden. Hans-Joachim Löwer

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Название Die Stunde der Kurden
Автор произведения Hans-Joachim Löwer
Жанр Политика, политология
Серия
Издательство Политика, политология
Год выпуска 0
isbn 9783990403549



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Es liegt gerade mal 100 Meter von Amna Suraka entfernt.

      „Hätten Sie sich“, so frage ich, „nicht eine schönere Nachbarschaft aussuchen können?“

      „Mein Mithäftling Dr. Kamaran Karadachi hat es noch viel besser“, sagt er und lacht nun ganz herzhaft. „Er ist Lungenspezialist und hat eine eigene Klinik. Sehen Sie das Gebäude da drüben? Es liegt dem Ex-Gefängnis genau gegenüber. Wenn er will, kann er jeden Tag von seinen oberen Stockwerken aus mitten hineinschauen.“

      Dann aber wird er ernst. Er meint, früher seien die Peschmerga-Führer nichts weiter als die Ersten unter Gleichen gewesen – „vergleichen Sie das einmal mit heute“. Früher seien die Kurden im Leiden geeint gewesen – heute drifte die Gesellschaft immer mehr auseinander. Der Kampf, für den er seine ganze Jugend hergab, sei noch immer nicht zu Ende. „Wir müssen jetzt“, sagt er, „den Kampf im Innern gewinnen – und das ist schwerer als gegen den Feind von außen.“

      ERBIL

       Ein Taxifahrer, der Englisch spricht? Äußerst ungewöhnlich in Kurdistan. Kurdisch, Arabisch, Türkisch – das haben sie alle drauf. Aber Englisch? Das hier muss ein Sonderfall sein.

       „Ich bin Lehrer“, verrät der Mann am Steuer. „Seit zwei Monaten kriege ich kein Gehalt mehr. Normalerweise erhalten wir es aus Bagdad. Aber aus dem Geldhahn dort kommt es jetzt nur noch tropfenweise. So musste ich mir halt einen zweiten Job zulegen.“

      HALABDSCHA

       „Nur Alter und Tod können mich stoppen“

      Weshalb ein verkrüppelter Minenräumer weitermacht

      Was war er für ein kühner junger Kerl! Seine Kameraden konnten oft gar nicht hinsehen, wenn er bei der Arbeit war. Er legte sich der Länge nach auf den Bauch und robbte zentimeterweise vor. Seine Hände tasteten sich vorsichtig durch das Dunkel der Nacht. War da irgendwo ein Stolperdraht, der quer durch das Gelände verlief? Oder saß da, per Hand vergraben, ein kleiner Sprengkopf im Boden? Hoschiar Ali wusste, dass er in die Luft fliegen würde, wenn er auch nur ein wenig zu stark an so etwas stieße. Das Teufelszeug, das er im Gelände suchte, waren Minen. Er war Mitte zwanzig und hatte sich, das war Ehrensache zu jener Zeit, den Peschmerga angeschlossen. Diese kamen nachts von den Bergen herunter und griffen Militärbasen an, auf denen die irakische Armee stationiert war. Seit 1986 hatten die Kurden dieses Ass in ihren Reihen. Hoschiar buddelte ihnen, durch das Geschick seiner Hände, jeweils einen zwei Meter breiten Korridor frei, durch den sie dann ihre Attacke starteten.

      „Ich habe mir das alles praktisch selber beigebracht“, sagt er. „Nach kurzer Zeit wusste ich schon genau, wie die Soldaten ihre Minen legten und wie groß die Abstände zwischen den Sprengfallen waren.“ Wir sitzen im Wohnzimmer seines Hauses in Halabdscha, in einer Ecke steht eine ganze Kollektion von Minen, und Hoschiar, Jahrgang 1963, erzählt aus seinem verrückten Leben. Er ist der nächste Kurde, bei dem ich aus dem Staunen nicht mehr herauskomme.

      1991, als die Vereinten Nationen eine Schutzzone für die Kurden einrichteten, überfluteten internationale Hilfsorganisationen den Nordirak. Sie machten sich daran, Millionen von Minen aufzuspüren und zu entschärfen, die große Teile des Landes schlicht unbewohnbar machten. Wenn Menschen in die Berge zurückkehrten, um ihre von Saddam Hussein zerstörten Dörfer wiederaufzubauen, liefen sie Gefahr, bei der Feldarbeit auf vermintes Gelände zu geraten, ihre Kühe und Schafe durch Explosionen zerrissen zu sehen. Viele Dorfbewohner waren unzufrieden mit dem Tempo, das die Experten aus dem Ausland an den Tag legten. Da fiel ihnen dieser Teufelskerl aus Halabdscha wieder ein, von dem die Peschmerga so oft erzählt hatten. „Ruft ihn doch einfach an“, hieß es dann. „Der fackelt nicht lange. Der legt einfach los.“

      „Ich habe jedem meine Telefonnummer gegeben, der mich danach fragte“, berichtet Hoschiar heute. „So sind mit der Zeit immer mehr Anrufe gekommen.“ Seine Eltern waren dem Giftgasangriff auf Halabdscha zum Opfer gefallen, daher hatte er auch niemanden, der ihn ernsthaft zurückzuhalten versuchte. „Ich habe so viel Sterben gesehen – ich wollte einfach etwas tun. So ist das bis auf den heutigen Tag.“

      „Was nehmen Sie denn pro Einsatz?“, frage ich.

      „Nichts, absolut nichts“, antwortet er. „Ich habe das noch nie für Geld gemacht. Ich war fünf Jahre Peschmerga, schied aus im Rang eines Generalmajors, und die Pension, die ich heute dafür bekomme, reicht aus. Ich will mit den Minen kein Geld verdienen.“

      Es hat nicht wenige Leute gegeben, die ihn kritisierten. Er mache eine lebensgefährliche Arbeit ohne jedes moderne Gerät und ohne je eine Ausbildung absolviert zu haben. Sein Vorgehen sei amateuerhaft, unprofessionell, mehr von Abenteuerlust als von Fachwissen bestimmt. Dadurch verleite er junge Leute, die ebenfalls ohne Training seien, es ihm gleichzutun. In der Tat sind zwei seiner Brüder, die ihm beim Minenräumen halfen, dabei umgekommen. Einmal wurde er vom Ministerium für Minenangelegenheiten in Sulaimania verklagt, weil er angeblich in dessen Zuständigkeitsgebiet wilderte. Aber da ging das Volk für ihn auf die Barrikaden, und es meldete sich eine Schar von Rechtsanwälten, die anboten, ihn kostenlos zu verteidigen, und so verlief das Verfahren schließlich im Sande.

      „Glauben Sie mir“, sagt er trotzig, „ich habe mehr getan als all diese Organisationen zusammen. Ich habe 540.000 Hektar Land gesäubert und dabei fast 2,4 Millionen Minen ausgegraben. Ich habe 160 Menschen, die in Minenfeldern schwer verletzt wurden, eigenhändig herausgezogen. Die meisten dieser Organisationen aber sind korrupt und verschwenden nur das Geld.“

      Mir kommen Zweifel angesichts der abenteuerlichen Zahlen. Aber ich sehe mit eigenen Augen, dass er einen hohen Preis für seine Passion bezahlt hat. 1989, in seinem dritten Peschmerga-Jahr, wurde ihm bei einer nächtlichen Suche das linke Bein abgerissen. Kein Minenräumer der Welt hätte danach wohl Lust gehabt, nach der fälligen Amputation seine Arbeit wiederaufzunehmen. Hoschiar hingegen zog mit Krücken wieder los, legte sie an Ort und Stelle aus der Hand und robbte einbeinig auf seine neuen Ziele zu.

      Fünf Jahre später, 1994, erwischte es ihn das zweite Mal. Er setzte seinen verbliebenen Fuß auf einen Stein, unter dem eine Mine vergraben war. Da wurde ihm auch noch das rechte Bein zerfetzt, Ärzte mussten von dem Stumpf nach und nach immer noch einmal etwas abschneiden, dafür wurde er in den Iran und sogar nach Russland gebracht. Nun war Hoschiar aus Halabdscha endgültig zum Volkshelden geworden – zu einer Art lebendem Märtyrer.

      „Peace Winds“, eine japanische Hilfsorganisation, lud ihn zu einer Reise in den Fernen Osten ein. Dort blieb er insgesamt sieben Jahre, die Japaner präsentierten ihn auf Fundraising-Touren im ganzen Land und sammelten so viel Geld, sodass seine Familie noch eine zusätzliche Pension erhielt. Mit den Mitteln aus Spenden kauften die Japaner ihm zwei computergesteuerte Prothesen – sozusagen „intelligente Kniegelenke“, die die Bewegungsabläufe koordinieren und harmonisieren. Damit geht er nun auch nicht gerade gelöst, sondern nur mühsam, ständig hin- und herschwankend. Doch kein einziges Wort des Jammerns kommt über seine Lippen. Er lacht, als habe er bei all dem noch Spaß, und aus seinem Mund sprudelt ein unaufhörlicher Quell von Geschichten.

      „Wäre es, nach dem Verlust beider Beine, nun nicht wirklich genug gewesen?“, frage ich ihn.

      „Warum denn?“, antwortet er. „Es gibt noch so viel zu tun.“ Das Gebiet an der iranischen Grenze, im Raum Halabdscha und Sulaimania, sei bislang nur zu einem Drittel geräumt. 9250 Minenopfer habe es in dieser Gegend schon gegeben. Der Vertrag von Ottawa, den der Irak unterschrieben habe, sehe vor, dass bis 2018 das ganze Land frei von Minen sein soll. „Da habe ich wirklich noch viel, viel Arbeit.“

      So wackelt er mit seinen Prothesen auch heute noch ins Feld, schnallt seine zwei Kunstbeine ab, legt sie ins Gras – und beginnt als Torso nach Minen zu suchen. Die Kurden haben nun auch noch einen Helden ohne Beine. Moscheen wurden nach ihm benannt, Schulen und Kliniken und ganze Dörfer tragen seinen Namen.

      „Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen mein neues