Der verborgene Dämon. Detlef Amende

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Название Der verborgene Dämon
Автор произведения Detlef Amende
Жанр Зарубежная классика
Серия
Издательство Зарубежная классика
Год выпуска 0
isbn 9783961456796



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den Rand einer Wirtschaftskrise gebracht. Viele Amerikaner sprachen damals von Sabotage oder Brandstiftung durch die Chinesen oder Russen. Diesmal wollte Papa, dass ich die geographischen Orte, an denen die großen Feuer brannten, selber auf dem Globus finde. Ich suchte lange nach Kalifornien und fand sogar Australien. Auch dort brachen etwa zum gleichen Zeitpunkt durch lang anhaltende Trockenheit nördlich der Millionenstadt Sidney großflächige Buschbrände aus. Hohe Temperaturen und starke Winde hatten dafür gesorgt, dass die Feuer sich soweit ausbreiteten, dass sie mit den zur Verfügung stehenden Löschmitteln nicht mehr bekämpft werden konnten. Die Konsequenzen für die Landwirtschaft waren unüberschaubar. Australien musste in der Folge Unmengen an Lebensmitteln importieren und rutschte so in eine fatale Staatsüberschuldung. Das Land wurde mit dem Problem allein gelassen und musste hilflos zusehen, bis sich das Inferno von selbst aufgezehrt hatte.

      Einige Monate später, als ich mich auf die dritte Klasse freute, wurde Mitteleuropa von einer Hitzewelle geplagt. Ich kann mich noch an die heißen Sommermonate erinnern. Meine schulischen Leistungen waren in dieser Zeit ganz ansehnlich, weil der Umgang mit den kryptischen Symbolen des Alphabets und der Algebra mir eine Menge Spaß bereitete. So musste ich nicht allzu viel meiner nachmittäglichen Freizeit in die Erledigung von Hausaufgaben und Übungen investieren, sondern trieb mich stattdessen häufig irgendwo draußen herum. Die glücklichen Ferienwochen verbrachten meine Kumpels und ich – darunter auch einige von den Neuen – oft ganztägig im Schwimmbad, wir unternahmen Fahrradtouren oder stundenlange Exkursionen in das von unserem Haus nicht weit entfernte Waldstück, wo sich das dichte Unterholz mit ein wenig Geschick in kaum zu entdeckende Geheimquartiere umfunktionieren ließ. Uns Kindern haben die extremen Temperaturen offensichtlich kaum zugesetzt. Aber ich kann mich auch erinnern, dass viele Leute gestöhnt und gejammert haben. Mehr als zehn Wochen lang herrschten damals Tagestemperaturen von über fünfundvierzig Grad und nachts kühlte die Luft sich nicht mehr unter fünfundzwanzig Grad ab. Wir hörten oft das Martinshorn der Rettungswagen und die Eltern erzählten mir später, dass in diesen Monaten in ganz Europa Zehntausende älterer oder kranker Menschen an Schwäche gestorben sind. Versorgungsengpässe müssen den Leuten das Leben schwer gemacht haben, zum Beispiel bei den begehrten Kühlaggregaten, die dann nicht mehr frei gekauft werden durften, sondern nur für Krankenhäuser und die öffentliche Verwaltung reserviert worden sind. Und trotz der Proteste, die allein dieser Umstand auslöste, stiegen zudem auch noch die Preise, was zu berechtigtem Unmut in der Bevölkerung führte. Viele Leute wollten das nicht mehr hinnehmen und gaben sich der angeblich „selbstbefreienden“ Lebensweise hin. Sie sahen ihr Heil in der schon zuvor entstandenen Sekte der „Lichtmenschen“, die mit ihrem neuen Zentrum in den USA in dieser Zeit einen Zulauf von Millionen Begeisterten verbuchte.

      Zu meinem zehnten Geburtstag schenkte Opa mir die dicke, von einem gewaltigen Einweckgummi zusammengehaltene Mappe voller Berechnungen mit den Worten: Leon, bewahre dieses Geschenk gut auf. Auch wenn du das noch nicht verstehst, du wirst die Niederschriften irgendwann gebrauchen können! Seinen bedeutungsvollen Blick habe ich bis heute nicht vergessen. Dennoch vertraute ich den Packen Unterlagen dann ohne größeres Verlustgefühl meinem Papa an, war aber mächtig stolz, nunmehr Besitzer irgendeines, wie auch immer gearteten Schatzes geworden zu sein. Und als „Schatzbesitzer“ kann man seine Kinderzeit genießen, obwohl auch für unsere Familie damals die Lebenshaltungskosten immens gestiegen sein mussten. Ich bekam das mit, weil sich die Eltern um die Bezahlung meiner Schulbücher für die vierte Klasse zankten. Doch meistens versuchten sie, die Sorge um ihren Schützling vor mir zu verbergen, so gut sie konnten. Außer bei dem Netz, das sie über meinem Bett anbrachten und das ich so über alle Maßen scheußlich wie unnötig fand. Ich bin doch kein Mädchen, das einen Schleier über der Bettdecke haben möchte! Aber diese Maßnahme müsse sein, hatte Mama gesagt und Papa verbot mir mit aller Strenge, drüben noch einmal in den Wald zu gehen. Was ist los? Nein, ich hätte nichts Falsches getan und das wäre um Gottes willen auch keine Strafe. Zur Schule musste ich neuerdings auch bei warmem Wetter nur noch mit langärmeliger und langbeiniger Kleidung gehen und befürchtete, dafür von den Anderen voll „gedisst“ zu werden. Komisch war nur, dass es vielen meiner Schulkameraden ähnlich ging. Die trugen plötzlich auch so voll uncoole Klamotten und dann lachten wir uns alle gegenseitig aus. Aber das Lachen verging uns, als eines Morgens unsere Klassenlehrerin und der Schuldirektor mit ernsten Gesichtern den Klassenraum betraten und uns bekannt gaben, dass Elvira S., wir nannten sie immer Elvis, nicht mehr in unsere Schule käme. Elvis war schon seit über einer Woche nicht mehr zum Unterricht gekommen und jetzt sagte die Klassenlehrerin, sie hätte mit einer schlimmen Krankheit im Krankenhaus gelegen. Wir waren alle tief betroffen und fragten nach. Der Direx erklärte, dass seit mehreren Wochen in Deutschland die asiatische Buschmücke gehäuft aufgetreten ist, sich nun mit hoher Geschwindigkeit vermehrt und weiter schnell ausbreitet. Diese Mückenart überträgt das Virus des sogenannten Dengue-Fiebers, an dem man sterben kann. Und Elvis war von solch einer Mücke gestochen worden. Da niemand mit diesem Krankheitsbild rechnete, obwohl - was wir Kinder nicht wussten - das Robert-Koch-Institut Monate zuvor eine bundesweite Warnung herausgegeben hatte, war Elvis falsch behandelt worden und ist dann an den Folgen des Mückenstiches erkrankt. Wir sollten sie nicht mehr wieder sehen … Doch nun ging die Angst um an der Schule. Freiwillig setzten die meisten Schüler auch an anderen Schulen und auch in den höheren Klassen schon im September die Kapuzen ihrer Anoraks auf. Unsere Blicke streiften jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn alle Wände des Klassenraums, ob sich nicht eines von diesen „Aliens“ auf die Lauer gelegt hätte und gnadenlos zu töten wäre. Jedenfalls waren wir Schüler aufgefordert worden, unsere Augen offen zu halten und jeden noch so kleinen Vorfall sofort zu melden. So war auch meine Aufmerksamkeit in diesen Herbstwochen des Jahres 2024 – außer immer noch auf das Lernen – hauptsächlich auf die unmittelbare Umgebung gerichtet und ich bekam nur am Rande oder über Gesprächsfetzen meiner Eltern mit, was sich draußen in der großen weiten Welt so alles abspielte.

      Schon im Frühjahr war auf vormals irakischem Gebiet das wahhabitische Kalifat ausgerufen und in den nördlichen Restgebieten der Region das freie Kurdistan gegründet worden. Das Nebeneinander des Kalifats mit dem amerikanischen Protektorat verlief seltsamerweise recht konfliktfrei und der Handel entwickelte sich prächtig. Warum Russland diese Konstellation hinnahm, stiftete in der Welt zwar Verwunderung, aber dieses Wohlwollen hatte seine Gründe, wie sich einige Jahre später herausstellen sollte. Europa wusste wieder einmal nicht, wie auf diese unklare Gemengelage zu reagieren sei und verfiel erneut in einen tiefen Streit über das weitere Vorgehen zur Sicherung der eigenen Energiebasis. Im Ergebnis dieser verbittert geführten Auseinandersetzung riefen Polen, Ungarn, die Slowakei und Österreich gemeinsam den Artikel fünfzig des EU-Vertrages auf und traten aus der Europäischen Gemeinschaft aus. Interessanterweise hatte dies lediglich eine Entspannung des Brüsseler Haushaltes nach sich gezogen und blieb zunächst ohne direkte politische Folgen.

      Im Jahr danach wurde die „Lichtsekte“ immer mächtiger. Sie umfasste bald mehr als fünfhundert Millionen Mitglieder und war mittlerweile von Teilen der Scientology-Bewegung unterwandert worden. In einem Akt der Verzweiflung hatten sich nach langwierigen Geheimverhandlungen der Papst, der oberste islamische Gelehrte der Universität Kairo, die orthodoxen Patriarchen und israelischen Oberrabbiner auf eine gemeinsame Position geeinigt und zusammen mit der evangelischen und anglikanischen Kirche die Grundsatzerklärung ‚Kehret um‘ veröffentlicht. Darin wurden die Menschen inständig dazu aufgerufen und ermutigt, auf den Pfad der Tugend und der Vernunft zurückzukehren und sich der Bewältigung der Gegenwartsprobleme zuzuwenden, anstatt irrationalen Heilsversprechen zu folgen. Dem schlossen sich der iranische Wächterrat, die Führung der kommunistischen Partei Chinas sowie die Staaten Tadschikistan, Finnland, Uruguay und Gambia an. Trotz aller medialen Aufmerksamkeit, die das Papier weltweit erlangte, half aber auch dieser Versuch nichts mehr. Das geschätzte Vermögen der „Lichtsekte“ war im Jahr 2025 auf über achthundert Milliarden Dollar angewachsen und ermöglichte deren grauen Eminenzen, massiv Einfluss auf die anstehende US-Präsidentschaftswahl auszuüben. So wunderten sich nur wenige, dass dieses Mal ein religiöser Fanatiker in das Amt des bis dahin mächtigsten Politikers der Welt gehoben wurde. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, die immer noch in Streit stehenden Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer in einer Nacht- und Nebelaktion militärisch zu besetzen, um auf das zwei Jahre zuvor erlassene Exportverbot Chinas für seine einheimischen Waren zu reagieren. Die Bedeutung all dessen konnte ich selbst als Sechstklässler nicht