Psychodelica. Patrik Knothe

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Название Psychodelica
Автор произведения Patrik Knothe
Жанр Публицистика: прочее
Серия
Издательство Публицистика: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783961451265



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Drehstuhl vor und zurück, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Kaffeetasse und erhob sich unter Ächzen und Stöhnen. Die Nacht schien hier nichts Ungewöhnliches zu sein.

      „Gut“, antwortete er und schüttelte meine Hand. „Willkommen! Ich erkläre Ihnen das Wichtigste und bringe Sie anschließend zu Ihrem Einweiser.“

      Sowie ich ihm durch die doppelflügelige Tür in die Verlade- und Sortierstation folgte, vermochte ich keinen klaren Gedanken mehr zu fassen. Ich war in eine stürmische, graue See gelaufen, deren Wellen nun mit Gewalt über mich hereinbrachen. Überall wimmelte es von kleinen, gelben Fischen, so wie auch ich nun wohl zu solch einem Fisch geworden war. Der Schichtleiter begann zu sprechen, doch seine Worte verschwanden im Tosen des Meeres. Es rummste, knallte und krachte zwischen den eng aneinander liegenden Sortierstationen, die wie Felsen aus dem wütenden Gewässer hervorragten. Jeder der gelben Fische hatte eine eigene Station, wo er die Lieferungen seiner Route gemäß einordnete – so viel jedenfalls verstand ich. Dann schnappte ich das Wort Gestelle auf und sah, wie der Schichtleiter dazu auf die circa einen Ster fassenden Metallkästen neben uns zeigte. Was hatte ich damit zu tun? War es meine Aufgabe, mich zu ihnen zu stellen? Wäre ich dann, neben den Gestellen, endlich das, was sie einen An-gestellten nannten? Gesichter blickten neugierig in unsere Richtung und ich fand, dass das Gelb sich nicht mit ihrer Hautfarbe vertrug und es sie blass und kränklich aussehen ließ. Vielleicht waren sie auch krank … Jedenfalls nahm ihr Fisch-Charakter deutlich ab, je näher man ihnen kam und es wurde mir immer schwerer, mich in der See zurechtzufinden. All die zupackenden und loslassenden Hände, das müde Stöhnen, all die gebückt Schlurfenden und aufrecht Laufenden, die Schleppenden und Schiebenden. All die feinen, süßen Düfte und der beißende Gestank.

      Erschrocken fuhr ich zusammen, als ich sah, dass es gar nicht mehr der Schichtleiter war, der neben mir stand, sondern ein Fisch wie ich, der mich mit sanfter Gewalt weiter in die Tiefe zu einer der Sortierstationen zog. Fasziniert beäugte ich die vielen Straßennamen und Hausnummern unter den im Halbkreis angeordneten Fächern. Dahinter konnte ich erkennen, wie ein schwer schnaufendes Seeungeheuer in maschinellem Rhythmus und schier unglaublicher Geschwindigkeit seine eigenen Fächer mit Briefen und Päckchen füllte. Überhaupt hatten es die Meeresbewohner überaus eilig, als sei morgen schon kein Wasser mehr da, durch das sie ihre Bahnen ziehen könnten. Vielleicht hätte ich den Fisch neben mir danach fragen sollen. Doch nach der schlimmen Erfahrung mit den zwei Bulldoggen, die sich inzwischen bestimmt dem Leben im Wasser angepasst hatten, beschloss ich, dass es besser war, den Mund zu halten.

      „Okay?“, schrie mir plötzlich der Fisch ins Ohr.

      „Was?“, schrie ich zurück.

      Es sah ganz so aus, als könne man nur schreien.

      „Jetzt fängst du mal mit der hier an“, brüllte er weiter und stieß mit dem Fuß gegen eine gelbe Kiste. „Wenn du Fragen hast: Ich bin nur zwei Stationen weiter.“

      Der Fisch zeigte mit dem Daumen hinter sich, zwinkerte kumpelhaft und war mit einem Satz verschwunden. Ungeachtet all der Stürme und Schreie war ich froh darum, nun ganz in Ruhe das schnaufende Seeungeheuer beobachten zu können. Dergleichen hatte ich noch nirgendwo gesehen und es machte ganz den Anschein, als käme dieses Wesen überhaupt nicht aus dem Meer, sondern von dort, wo man sich die Gestelle besorgte. Gebannt beobachtete ich das Ungeheuer und wartete darauf, zumindest einmal eine klitzekleine rhythmische Unregelmäßigkeit in seinen Gebärden zu finden. Aber offensichtlich waren hier Dinge am Werk, die ich nicht verstand. Nein! So sehr ich mich auch bemühte – es gelang mir nicht, Verständnis aufzubringen. Nicht für die Begebenheiten in dieser Halle und erst recht nicht für das Seeungeheuer. Stets war es dasselbe: Es bückte sich, zog ein Päckchen aus einer gelben Kiste und steckte es in das dazu gehörende Fach.

      Bücken – rausziehen – reinschieben.

      Bücken – rausziehen – reinschieben.

      Allmählich begann ich, in Gedanken eine Melodie über diesen Atomuhr-genauen 3/4-Takt zu legen, und möglicherweise wäre ein ganz hübsches Stück entstanden, wenn nicht plötzlich wieder der Schichtleiter neben mir gestanden und mich angeschrien hätte. Ja, das Schreien war in der Halle ganz normal und ich begriff natürlich nichts davon, was er schrie. Doch das extrem dunkle, fast schon ins Schwärzliche übergehende Rot seiner Fleischwulste war eindeutig: Etwas schien ganz und gar nicht so zu laufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Ich war verzweifelt! Auf Worte, die ich nicht verstand, konnte ich selbstverständlich auch nichts erwidern. Mein Schweigen aber machte ihn nur noch rasender. Einige der Fische – das Seeungeheuer ausgenommen – unterbrachen schon ihre Arbeit und drehten sich nach uns um. Irgendwann, nachdem der Schichtleiter wild, als könne er nicht mehr schwimmen, durch die Wellen gefuchtelt hatte, packte er mich grob am Arm und zog mich zurück zu seinem Büro, wo er mir einen Stapel Papiere – er sagte, es seien „meine Papiere“ – in die Hand drückte und mich zur Eingangstür hinausschob.

      Endlich befand ich mich wieder beim Morgen, so wie sich das gehörte. Meine Sinne wurden klar und es gelang mir, die Dinge zu verstehen, die er mir auf den Weg gab:

      „Sie nutzloser Drückeberger!“, sagte er. „Und ich wollte Ihnen einen Gefallen tun … Kommen Sie niemals wieder und verarschen Sie jemand anderen!“

      Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, dachte ich und blickte zum Himmel, wo die rosa Finger einem zarten Blau gewichen waren. Wiederkommen würde ich auf gar keinen Fall. Ich hatte auch nicht Eindruck, als habe er mir einen besonderen Gefallen damit getan, mich zu einem Gestell zu machen.

       V

      Wer aus den Brunnen der Menschen trinkt, der nehme sich in Acht vor schwarzen Löchern, schrieb der Dichter und während ich das Industriegebiet verließ und Richtung Innenstadt schlenderte, war mir, als habe er das vor allem für mich geschrieben.

      Noch immer trug ich die gelbe Fischjacke. Auch wenn sie mir viel zu groß war, fühlte ich mich von ihr eingeengt und mir wurde plötzlich furchtbar heiß. Hektisch zog ich die Jacke aus und warf sie so weit weg von mir, wie ich konnte.

       VI

      Begebenheiten wie jene beim Paketlieferdienst waren mir nicht zum ersten Mal widerfahren. Im Grunde hatte ich mich bereits damit abgefunden, ein Leben im Jenseits zu führen, wo es keine Plastikkärtlein mit Namen und Nummern darauf gab. Keine Stempelkarten und Verträge. Keine mit dem deutschen Adler verzierten Häuser, die mir ein Mindestmaß an Sicherheit und Obdach gewährten. In meinem Jenseits gab es das nicht und ich hätte am liebsten gesagt, dass es gut so war.

       VII

      War es die Angst, die mich dazu verleitete, ab und an dennoch den Versuch zu wagen, es mir in meinem Jenseits ein wenig behaglicher und sicherer einzurichten? Gut möglich … Doch schlimmer als Angst war Resignation und vor der hütete ich mich. Selbst wenn ich in frostigen Winternächten nach warmen Stuben suchte.

      Man darf nicht aufgeben, sagte ich mir, als ich mich wieder einmal beim Zählen erwischte. Inzwischen war ich in der Innenstadt angelangt und die warm leuchtenden, hellroten Pflastersteine, über die ich ziellos hinwegging, zogen mich sofort in ihren Bann. Das Zählen solcher Steine erschien mir als etwas Natürliches – Normales, wenn man so will –, etwas notwendig zu meiner Person Gehörendes, wie das Kratzen des Bartes oder das Aneinanderreiben der Füße, wenn ich keine Schuhe trug. Stets lief der Vorgang nach demselben Muster ab: Je nach Bauart meines Untergrunds erschienen mir zwei Umstände als wichtig: Zum einen war dies der Abstand, der zwischen meinen Schritten lag. Er durfte nie verändert werden. Je nach Größe der Pflastersteine mussten es derer immer zwei, drei oder auch vier sein, die mit einer Bewegung überquert wurden. Zum anderen war von Belang noch die Stelle, auf die ich trat. Am schönsten war das Gehen, wenn der Stein in etwa dieselbe Länge wie mein Fuß aufwies und ich die freie Fläche mit jedem Schritt nur auszufüllen brauchte, wobei ich selbstverständlich zugleich streng darauf achtete, niemals auf eine Rille zu kommen und den perfekten Fluss des Fortkommens, den Einklang, das Gleichgewicht zwischen dem Weg und meinem Körper, zwischen der Umgebung und mir, zwischen Innen und Außen zu unterbrechen.

       VIII