Am Abgrund. Klaus Vater

Читать онлайн.
Название Am Abgrund
Автор произведения Klaus Vater
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783955520120



Скачать книгу

erschienen die Köpfe erschöpfter und verdreckter Bauarbeiter. Sie stiegen, so schnell es ging, seitwärts aus der Leiter. Dann erschien der Sanitäter. Ihm folgten weitere erschöpfte Bauarbeiter, die eine Sekunde innehielten, als die Oberkante der Grube erreicht war. Mühsam hievten zwei Arbeiter einen Körper die Leiter hoch. Ihre Gesichter waren starr vor Anstrengung, und ihr Atem ging stoßweise. Sie legten den Körper vorsichtig auf den Boden.

      Die Bewegungen der Sanitäter wurden hektisch, weil der Verletzte nicht reagierte. Rasch nahmen sie ihn hoch und trugen ihn zum Polizeifahrzeug. Das raste sofort los.

      Es entstand ein Augenblick der Bewegungslosigkeit. Schließlich erschien ein Mann in einem völlig verdreckten Anzug auf der Leiter. Bevor er sich aus der Grube schwang, blickte er sich um. Als er wieder auf festem Boden stand, wichen die Zuschauer instinktiv zurück. Kleine Gruppen entstanden.

      Einer der Arbeiter gestikulierte und redete drauflos. Zuerst schauten die Umstehenden an ihm vorbei. Lass ihn quatschen, sollte das wohl bedeuten. Als der nicht aufhörte, sondern lauter wurde, wurden Polizisten aufmerksam. «Verdammt noch mal, daran ist dieser Schweinehund schuld! Warum kann der nicht anständig arbeiten? Der hat die Träger nicht tief genug in den Boden schlagen lassen. Absichtlich!» Der Mann ereiferte sich immer mehr. Seine Stimme überschlug sich. Er zeigte mit dem Finger auf einen Zimmermann, der wenige Schritte entfernt stand. Schwarze Kordhose, schwarze Kordweste, weißes Hemd – weiß wie dessen Gesicht. Graues Haar, buschige schwarze Augenbrauen. Hammer und Nageltasche hingen am Gürtel. Die Fäuste waren geballt.

      Die übrigen Arbeiter standen beisammen. Ein Polizist begann, sie zu befragen. Ein weiterer Polizist wandte sich dem Mann in dem dreckigen Anzug zu.

      Der nahm seinen Hut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Nein, nein, auf keinen Fall kann ich die Arbeiten unterbrechen! Es darf keine Verzögerung mehr geben. Wir liegen schon Tage zurück», klagte er.

      Von dem Polizisten befragt, was eigentlich geschehen sei, antwortet er: «Fließsand. Der schoss mit unglaublicher Gewalt aus der Wand. Das ist wassergesättigter Sand, in dem man ertrinkt, wenn keine Hilfe kommt.»

      Zwei Polizisten nahmen den Zimmermann in die Mitte, drehten ihm die Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. Sie führten ihn, ohne dass er Gegenwehr leistete, zum Polizeiwagen.

      «Was ’n hier los?», fragte ein Arbeiter, der gerade erst gekommen war. Er trug eine Schiebermütze auf dem Kopf, sein Atem roch nach Bier.

      «Kameraden sind tot! In den Tod gelockt. So ein Drecksack!», antwortete einer seiner Kollegen, flennend fast. Mager war er, hohlwangig. Die Ärmel seiner Arbeitsjacke waren viel zu kurz. «Fast hätte es auch mich erwischt.»

      Doch das schien den anderen nicht zu interessieren. «Und wer ist hier der Drecksack?»

      «Da geht er. Die haben ihn schon am Schlafittchen.» Die Stimme des Bauarbeiters schrillte.

      «Was ist ’n das für einer? Ist doch ganz manierlich angezogen. Sieht aber irgendwie komisch aus, mit den dicken Augenbrauen. Wie Würmer.»

      «Das ist …», der Arbeiter schluckte, «… ein ganz dreckiger Halunke. Ein Zigeuner … oder Polack.»

      Die Schiebermütze sah zu, wie Polizisten den Zimmermann ins Auto verfrachteten, dann wandte sie sich wieder dem Kollegen zu. «Nu bleib man ganz ruhig. Das ist kein Polack. Die riech ich schon auf einen Kilometer gegen den Wind. Na ja, ein Parade-Arier ist er auch nicht gerade. Aber das ist wohl keiner hier.» Er lachte laut über seinen eigenen Witz.

      Auf der Stirn des Arbeiters begann eine dicke Ader zu pochen.

      «Was willst du eigentlich hier? Stänkern? Wenn ich dir sage, das ist ein Dreckschwein, dann ist es ein Dreckschwein!»

      «Ja ja, schon gut. Wie viele sind denn tot?»

      «Weiß ich nicht. Der Drecksack lebt aber noch. Stell dir das mal vor: Bringt die Kollegen um, und ihm ist selber nichts passiert …» Der Rest ging in einem unverständlichen Jaulen unter.

      Die Schiebermütze wandte sich einem anderen zu. «Wie soll er die denn umgebracht haben?»

      «Durch Fließsand», entgegnete ein kurzhaariger Arbeiter mit militärisch grader Haltung. Die vergangenen Minuten hatte er dagestanden und aufmerksam beobachtet, was passierte und wer mit wem sprach. «Was wollen Sie hier? Sie gehören überhaupt nicht hierher.»

      Die Schiebermütze ging nicht darauf ein, sondern fragte lediglich: «Durch Fließsand? Nie davon gehört.»

      Der Kurzhaarige verlagerte sein Körpergewicht vom rechten auf den linken Fuß. «Der Polack hat die Männer in die Grube gelockt. Dann hat es gekracht, und alles ist eingestürzt.»

      «Das gibt’s doch nicht.»

      Ein anderer fügte hinzu: «In der Mittagspause haben wir noch zusammengesessen. Die armen Schweine. Das war Mord, sag ich euch!» Er fuhr sich mit seinen dicken, hornigen Fingern über den Schädel und setzte seine speckige lederne Schirmkappe wieder auf. Eine lange rote Narbe zierte sein Gesicht.

      Jemand drängte sich zu ihm durch. «Das glaub ich nicht!»

      «Ach, halt die Schnauze!»

      «Das hättest du gern, dass ich die Klappe halte. Mir machst du keine Angst.» Die Stimme gehörte zu einem lang aufgeschossenen jungen Mann in einem abgetragenen blauen Anzug, die blonden Haare sorgfältig geglättet.

      «Pass ja auf! Wir sind schon mit ganz anderen fertig geworden.» Der Mann mit der roten Narbe hob drohend die Faust.

      «Das kann ich mir vorstellen. Damit du Bescheid weißt: Ich bin Zimmermann. Und ich weiß, wie man auf großen Baustellen arbeitet. Hier ist jedenfalls der Wurm drin.»

      «Ach ja?», mischte sich der kurzhaarige Arbeiter wieder ein.

      «Hier ist also der Wurm drin, ja? Du bist ja ein ganz Schlauer. Schläfst wohl an der Wand, was!»

      Der ließ sich nicht einschüchtern. «Hier geht es seit Tagen drunter und drüber. Wenn der da, den die Polente abgeführt hat, verschalte oder Stützen einzog, liefen ihm die Leute vor den Füßen her. Wenn er sie anschrie, sie sollten aufpassen, haben sie ihn ausgelacht. Dann habe ich erlebt, dass mitten im Betonieren drei oder vier Arbeiter der Schicht grinsend aus der Grube geklettert sind. Ich dachte, mich trifft der Schlag! Die Kameraden alleinlassen, während Beton die Röhre runterkommt! Wo gibt’s denn so was? In den Knast sollte man euch stecken und mehr anständige Arbeiter hier ranlassen. War doch klar, dass hier mal was passiert.»

      «Pass auf, sonst landest du im Knast!» Der Mann war puterrot vor Wut geworden. «Arbeitsscheues Gesindel! Du bist einer der Roten! Heil Moskau, was? Dich kriegen wir auch noch.»

      «So seid ihr alle», antwortete der junge Mann im blauen Anzug. «Wer euch nicht passt, wird fertiggemacht. Wenn das nicht reicht, dann landet man im Columbiahaus. Das muss ich mir nicht anhören!» Er ging kopfschüttelnd weg.

      Ein magerer älterer Mann sagte beschwichtigend: «Hört doch auf! Gegen Fließsand hilft nichts, der ist wie Wasser. Gerätst du da rein, biste verloren. Rettungslos. Es muss doch aber jemand was bemerkt haben.»

      Niemand antwortete ihm.

      «Hat keiner gewarnt?», wollte er wissen.

      «Nee, niemand.»

      «Und was ist mit dem, den die Polente geschnappt hat?»

      «Der? Dieses Aas. Den sollten die schnell aufhängen!»

      Der Ältere wollte nun wissen, wie viele unten geblieben waren.

      «Fängst du jetzt auch an?»

      «Man wird doch mal fragen dürfen!»

      «Soll Leute geben, die sich totgefragt haben!»

      Nun wurde der Alte ärgerlich: «Ich bin seit 1926 in der Partei. Den Kommunisten hier haben wir schon die Köppe eingeschlagen, als du noch in die Hosen geschissen hast. Also komm mir ja nicht dumm!»