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weißen Sonntagskleider angezogen und ihnen große weiße Schleifen ins Haar gebunden, die die Brüder respektlos «Propeller» nannten. Bei jedem Schritt hatten die Schleifen gewippt. Mina hatte das Gefühl gemocht. Sie war als Kind zwar ein Wildfang gewesen, aber mit Kleid und Schleife hatte sie sich bei dieser Parade als etwas Besonderes gefühlt. Ihre Schwestern hatten ähnliche Kleider und Bänder im Haar, aber ihre eigenen Sachen waren am schönsten. Das konnte man auch genau auf dem Familienphoto erkennen. Vor der Parade, als die Kleider noch blütenweiß waren und der Kopfschmuck noch gerade saß, hatte die Familie nämlich einen Termin beim Photographen gehabt. Jedes Kind hatte einen Abzug des Photos bekommen. Mina liebte dieses Bild. Es war das einzige, auf dem auch August dabei war. Der älteste Bruder war im Ersten Weltkrieg gefallen, als sie gerade elf Jahre alt war. Es tat Mina noch immer sehr weh, denn August hatte stets gesagt, Mina sei seine Lieblingsschwester. Er hatte ihr auch in schlechten Zeiten immer einen Extrakrümel Essen aufbewahrt, und wenn sie sich fürchtete, durfte sie nachts heimlich unter seine Bettdecke. Es war schlimm für sie, als er in den Krieg zog.

      «Ick komm doch bald wieder. Hör doch auf zu weenen, meene Kleene!», hatte er zum Abschied gesagt und sie herumgewirbelt. Dann hatte er sie abgesetzt, sich zu ihr hinunter gebeugt und in ihr Ohr geflüstert: «Ick werde dich dein Leben lang beschützen, wo immer ick ooch bin. Hab keine Angst!»

      Der Ernst, mit dem er das sagte, hatte ihr Sorgen bereitet. Sie hatte ihm glauben wollen, aber er fehlte ihr überall. Als dann über längere Zeit hinweg kein Brief mehr von ihm kam, konnte sie die Hoffnungen ihrer Eltern und Geschwister nicht mehr teilen. Sie hatte damals bereits gewusst, was viele Monate später durch einen Brief vom Kriegsministerium bestätigt werden sollte: August war tot – getroffen von einer Granate, und mit ihm waren drei Kameraden in den Tod gerissen worden.

      Nun war sie also in Berlin. Doch etwas Entscheidendes fehlte: In Minas Träumen war sie immer an der Hand von Siegfried Plath gelaufen, den Sonnenuntergang über dem Fluss betrachtend. Sie hatten sich im Traum geküsst und waren anschließend mit einer Droschke ins Hotel Adlon gefahren, wo sie sich für ein oder zwei Wochen eine Suite gemietet hatten. Sie waren zuvorkommend behandelt worden, denn Siegfried war bei seinen zahlreichen Besuchen in der Hauptstadt schon häufiger in diesem Hotel abgestiegen. Sie hatte keine Schwielen an den Händen und keinen alten, zerbeulten Koffer als Gepäck.

      Siegfried… Sie zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Probleme hatte sie auch so schon genug. Jetzt musste sie zunächst einmal beten, dass ihre alte Freundin Charlotte überhaupt noch in der Linienstraße wohnte und sie bei sich aufnehmen würde.

      Fünfzehn Einstiche zählte Dr. Kniehase.

      Hermann Kappe hatte schon viele Leichen gesehen, aber dieser Mörder schien eine wahre Wonne dabei verspürt zu haben, seine Opfer regelrecht abzuschlachten. Die Anzahl der Stichwunden variierte von Fall zu Fall. Besser gesagt, sie nahm zu.

      Hatte Kniehase im Dezember 1925 noch acht riesige Löcher notiert, so waren es im April bereits elf Stiche gewesen – die aufgeschlitzte Kehle jeweils nicht mitgezählt. Und nun im August also fünfzehn. Die weitaus meisten Wunden waren bei allen drei Leichen im Unterbauch angesiedelt. Extremitäten wurden nur am Rande verletzt. Kniehase war bereits bei den beiden vorherigen Opfern davon ausgegangen, dass diese Wunden allesamt nicht zum Tode geführt hatten und der Mörder erst ganz am Schluss den tödlichen Schnitt durch die Kehle ausgeführt hatte.

      Kappes Magen schickte sich an zu rebellieren bei dem Gedanken daran, welche Qualen die armen Frauen hatten erleiden müssen. Obwohl er ein gestandener Kriminaler war, schockierte ihn die unglaubliche Grausamkeit, mit der er in diesen Fällen konfrontiert wurde, stets aufs Neue.

      Sein Kollege Galgenberg nahm es stattdessen, wie es sich für seinen Namen geziemte: mit Galgenhumor. «Noch drei Löcher mehr, und die Dame hätte ’nen prächtjen Jolfplatz abjejeben. Bloß mit det Jrün hautet nich so janz hin.»

      Kappe seufzte. Mitunter überschritten Galgenbergs Bemerkungen die Grenze zur Geschmacklosigkeit, aber das war eben seine Art, mit derlei Barbarei fertig zu werden.

      «Uff den Schreck ’nen Schnaps, Kolleje?» «Mensch, Galgenberg, wir sind im Dienst!»

      «Aba wenn unsre Nerven blank liejen, is ooch nüscht mit Ermitteln. Du willst ma doch nicht erzähln, det det hier spurlos an dir vorbeijeht.»

      Dr.-Ing. Konrad Kniehase sah mit hochgezogener Augenbraue zu Galgenberg hinüber.

      Kappe wusste, dass der Mediziner in seiner Laufbahn sicher noch schlimmer zugerichtete Opfer gesehen und untersucht hatte. Soweit Kappe wusste, trank dieser trotzdem nicht bei jeder Leiche einen Schnaps. Sonst wäre er wohl schon Alkoholiker – auch wenn er erst relativ spät zur Kriminalpolizei gekommen war.

      Kniehase hätte heute noch an der Artillerie- und Ingenieurschule sein können, an der er nach seinem Dienst als Ingenieur im kaiserlichen Heer gelehrt hatte, wenn er seine Finger von der Frau eines Vorgesetzten gelassen hätte. Diese Liebesaffäre hatte ihn damals dazu gezwungen, seinen Dienst zu quittieren, und das führte ihn schließlich zum Morddezernat. Seine kriminal technischen Untersuchungsergebnisse wurden immer besser.

      Kappe fragte sich oft, wo sie ohne Kniehases Hilfe wohl stünden. «Wir können später noch etwas trinken», lenkte Kappe ein. «Wissen wir, wer das Opfer ist?»

      «Nejativ! Wir wissen lediglich, det die Wohnung von eim jewissen Herrn Brause jemietet wurde. Möbliert und für drei Monate im Voraus bezahlt.»

      «Wo hält sich der Mann auf?», fragte Kappe.

      Galgenberg ließ sich auf die Knie nieder und schaute unter die Kommode, die sich neben ihm an der Wand befand. Dann kam er schnaufend wieder hoch. «Da isser schon ma nich!»

      Kappe verdrehte die Augen. «Mensch, Galgenberg!» «Heidelinde Fuchs von jejenüber, die dem Herrn die Wohnung vermietet hat, sacht, det se nich ma weeß, wo der Herr Brause in Lohn und Brot is. Weil er jleich jezahlt hat, hat se det nich interessiert. Wenn ick meine bescheidene Meinung kundtun darf, denn würd ick meinen, der Herr Brause is sozusagen uff Nimmerwiedersehn davonjebraust.»

      «Dann sollten wir mal herausfinden, wo der Herr sonst noch gemeldet war und wie er aussieht. Damit dürften wir heute gut zu tun haben. Und dann müssen wir uns um die Identität der Frau kümmern.»

      «Jawoll, Herr Oberkommissar!»Galgenberg knallte zackig die Absätze zusammen und legte die rechte Hand zum Gruß an eine imaginäre Mütze.

      Wieder verdrehte Kappe die Augen, und Galgenberg lachte. Seit ihr Vorgesetzter, Dr. Brettschieß, Kappe zwei Jahre zuvor aus taktischen Gründen zum Oberkommissar befördert hatte, zog Galgenberg ihn damit auf. Mit der Beförderung war keine Gehaltserhöhung verbunden gewesen, und so hielt Galgenbergs Neid sich auch in Grenzen. Als er 1918 aus dem Krieg gekommen war und feststellen musste, dass Kappe in der Zwischenzeit die Stellung eines Kommissars innehatte, hatte ihn das tatsächlich getroffen. Aber diese «Oberkommissar-Nummer», wie er Kappes erneute Beförderung nannte, fand er einfach nur zum Schießen. «Keen Wunder! Die Idee stammt ja ooch von Brettschieß», pflegte Galgenberg dann und wann zu kalauern.

      Dr. Arnulf Brettschieß hatte 1924 die Nachfolge des Waldemar von Canow bei der Polizei angetreten. Von Canow, als Schlaftablette bekannt, war harmlos gewesen. Er hatte Kappe und Galgenberg nicht in die Arbeit hineingeredet, sich aber auch nicht sonderlich für sie eingesetzt. Galgenberg hatte ihm keine Träne nachgeweint, aber Kappe hatte immer gedacht, dass sie es mit von Canow eigentlich ganz gut getroffen hatten, obwohl Kappe ihn nicht als seinen Freund bezeichnet hätte. Er hegte die ärgsten Befürchtungen, als von Canow in den Ruhestand ging. Am selben Tag wurde ihnen dann auch bereits Dr. Brettschieß präsentiert: ein junger Spund von damals vierzig Jahren mit stechendem Blick und einer sehr eigenwilligen Auffassung von Polizeiarbeit. In erster Linie hatte er sich anfangs darauf beschränkt, Kappe und seine Kollegen von der Arbeit abzuhalten, indem sie am laufenden Band Statistiken und Berichte verfassen mussten.

      So war Kappe zunächst geradezu froh gewesen, als Brettschieß ihn zu Cläre Stinnes geschickt hatte. Die Industriellenwitwe behauptete, ein Arzt hätte ihren Mann bei einer Operation absichtlich sterben lassen, und verlangte, dass Kappe diesen einsperrte. Nachdem Kappe dem Manne beim besten Willen nichts