Gerechtigkeit über Grenzen. Onora O'Neill

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Название Gerechtigkeit über Grenzen
Автор произведения Onora O'Neill
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783532600481



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selbst wenn wir es rechtfertigen könnten, dass (eine bestimmte Konzeption von) Freiheit oder Autonomie die grundlegendste aller moralischen Fragen ist, dann weisen die beiden Aspekte immer noch in vollkommen unterschiedliche Richtungen beim Thema, welche Rechte es nun tatsächlich gibt. Kein Wunder also, dass die Verfechter dieser Ansprüche sich nicht auf eine gemeinsame Liste von Rechten bzw. auf die richtige Interpretation der Menschenrechte einigen können.

      Wer die Freiheit für grundlegend hält, verstanden als bloße „negative“ Nicht-Einmischung seitens anderer, erkennt nur Freiheitsrechte an. Die Idee von teilbaren Freiheiten würde sofort in sich zusammenfallen, sobald wir Rechte auf Hilfen oder Dienstleistungen in unseren Katalog mit aufnehmen, denn die Pflichten, die diese sozialen Rechte Realität werden lassen, vertragen sich nicht mit den Handlungsrechten, die die grundlegendsten Freiheitsrechte schützen sollen. Wenn wir die Pflicht haben, für alle, die es nötig haben, Nahrung zur Verfügung zu stellen, können wir nicht das unbeschränkte Recht ausüben, mit den Nahrungsmitteln, die uns gehören, zu tun, was wir wollen. Bestenfalls können bestimmte Gesellschaften ihre Freiheitsrechte nutzen, um institutionalisierte Rechte auf bestimmte Leistungen – für Bildung, Wohlfahrt, gesundheitliche Versorgung – einzuführen, wie dies ja auch die meisten wirtschaftlich entwickelten Staaten getan haben. Doch ein institutionalisiertes Recht ist kein Naturrecht oder Menschenrecht. Und die sozialen oder „Wohlfahrts“-Rechte, die in entwickelten Ländern den Institutionen übertragen wurden, haben keine Auswirkung auf Hunger oder Armut in Staaten, wo diese Rechte keinen Eingang in die Institutionen gefunden haben.

      Wer hingegen annimmt, dass Autonomie (oder in manchen Versionen auch „Würde“) zentral ist und nicht die simple Nicht-Einmischung, akzeptiert bestimmte soziale Rechte auf Güter und Dienstleistungen, zum Beispiel das Recht auf ein Existenzminimum. Denn ohne angemessene Nahrung und Unterbringung geht die menschliche Autonomie zugrunde, womit auch Freiheitsrechte sinnlos wären. Doch die Verfechter des Rechts auf ein Existenzminimum haben bisher keine überzeugenden Argumente vorgelegt, wer nun die Verpflichtung übernehmen soll, für andere den Lebensunterhalt bereitzustellen. Doch diese Frage ist die allerwichtigste, wenn das „Recht auf Lebensunterhalt“ die menschlichen Bedürfnisse tatsächlich decken soll.

       Rechte und Wohltätigkeit

      Einige der Parteigänger der Menschenrechte gehen, vor allem, wenn sie einen libertären Ansatz verfolgen, davon aus, dass wir uns nicht weiter darum kümmern sollten, wenn Theorien von Rechten die menschlichen Bedürfnisse vernachlässigen. Wir sollten doch im Hinterkopf behalten, dass Gerechtigkeit nur ein Teil der Ethik ist, die auch weiterreichende Verpflichtungen umfasst wie die zur Barmherzigkeit und Wohltätigkeit. Die Vorstellung, dass die Bedürfnisse der Armen durch Wohltätigkeit erfüllt werden könnten, finden viele Menschen reizvoll. Im Kontext einer Theorie der Menschenrechte aber wirkt sie wenig überzeugend. Allein die Idee der Rechte untergräbt den Status der Wohltätigkeit, denn diese wird gewöhnlich nicht als Verpflichtung betrachtet, sondern als etwas, das wir tun oder lassen können, oder gar (was noch weniger plausibel ist) schlicht als „gutes Werk“. Solch eine Sicht der Hilfe für die Bedürftigen ist für die „Besitzenden“ dieser Welt natürlich sehr bequem, weil sie ihnen suggeriert, dass sie über ihre Pflichten hinausgehen und etwas wirklich Gutes tun, wenn sie anderen überhaupt helfen. Für die „Nicht-Besitzenden“ hingegen ist sie schädlich und deprimierend, weil sie vor diesem Hintergrund keinen Anspruch auf Hilfe haben, da er ihnen ja nicht als Recht zuerkannt wird. Sie können nur hoffen, dass jemand ihnen helfen wird. Und was dabei getan wird, ist gewöhnlich erschreckend unzulänglich.

       Menschliche Handlungen, Rechte und Pflichten

      Gerechtigkeit muss weder in den Begriffen der Menschenrechtsbewegung noch in denen der Utilitarier verstanden werden, die Gerechtigkeit nur als einen Aspekt unter vielen sehen, der zum menschlichen Glück beiträgt. Eine andere Herangehensweise wäre es, Verpflichtungen oder Pflichten, anstelle der Rechte, als grundlegend zu erachten. Dies war ein durchaus üblicher Ansatz für ethische Fragen, sowohl vor der Herausbildung der christlichen Tradition als auch danach. Rechte sind sozusagen die Emporkömmlinge in der moralischen Diskussion, die erst im 18. Jahrhundert die Bühne betraten. Dasselbe gilt auch für das individuelle Glück als Maßstab für moralisches Handeln. Beiden Ansätzen liegt ein reichlich passives Menschenbild zugrunde. Besonders deutlich wird das in der utilitaristischen Vorstellung vom Menschen als Träger von Schmerz und Vergnügen. In der Menschenrechtstheorie tritt dieses passive Bild von Männern und Frauen schon weniger scharf hervor. Ganz im Gegenteil, die Hinwendung zu den Rechten wird mitunter verteidigt durch Verweis auf die aktivere Rolle, die die Ohnmächtigen hier einnehmen, können sie sich selbst doch als Träger von Ansprüchen sehen, die ihnen vorenthalten werden, statt sich im traditionell-feudalen Rahmen als bescheidene Bittsteller erleben zu müssen.

      Es ist schon richtig, dass die Menschenrechtsbewegung ein aktiveres Menschenbild vertritt, als Utilitaristen oder Wohlfahrtstheoretiker dies tun. Aber sie sieht sie eben immer noch nicht vollständig als Akteure an. Denn wer einen Anspruch erhebt, will ja andere dazu bringen, etwas zu tun. Wenn wir unsere Freiheitsrechte einfordern, verlangen wir als Erstes, dass andere etwas tun, um uns den Raum und die Möglichkeiten zu geben, innerhalb derer wir dann handeln können oder auch nicht. Fordern wir unsere sozialen Rechte ein, dann müssen wir uns überhaupt nicht als Handelnde sehen, denn es sind ja andere, denen die korrespondierende Pflicht obliegt, etwas zu tun. Sehen wir aber im Gegensatz Pflichten als grundlegend an, dann wenden wir uns an jene, die den Wandel schaffen oder verweigern können – eben jenes Publikum, das die Rechte-Verfechter nur indirekt ansprechen.

      Die französische Philosophin Simone Weil, die ihre Werke während des 2. Weltkriegs verfasst hat, schreibt in Die Einwurzelung:

       Der Begriff der Verpflichtung hat den Vorrang vor dem des Rechtes, der ihm untergeordnet und von ihm abhängig ist. Ein Recht ist nicht wirksam durch sich selbst, sondern einzig durch die Verpflichtung, der es entspricht; die tatsächliche Erfüllung eines Rechtes geschieht nicht durch den, der es besitzt, sondern durch die anderen, die ihm gegenüber eine Pflichtleistung ihrerseits anerkennen.26

      Wir wissen nicht, worauf ein Recht hinausläuft, bevor wir nicht wissen, wer die Verpflichtung hat, was für wen unter welchen Umständen zu tun. Wenn wir versuchen, in puncto Rechte Klartext zu reden, müssen wir über Verpflichtungen sprechen. Die grundlegende Schwierigkeit mit der Rhetorik der Rechte ist, dass sie nur einen Teil – den ohnmächtigeren Teil – des relevanten Publikums anspricht. Diese Rhetorik mag Resultate bringen, wo die Armen nicht völlig machtlos sind. Wo sie es aber sind, bringt die Einforderung von Rechten herzlich wenig. Wo die Armen machtlos sind, müssen die Mächtigen überzeugt werden, dass sie Verpflichtungen haben – ob die Menschen die Erfüllung dieser Pflichten nun als Recht einfordern oder nicht. Eine Ethiktheorie, die sich auf das Handeln konzentriert, sollte daher eher Verpflichtungen als Rechte rechtfertigen.

       Die Pflichten der Gerechtigkeit

      Eine Theorie der Pflichten kann bei Überlegungen zum Welthunger nur dann Sinnvolles beitragen, wenn es möglich ist zu zeigen, welche Pflichten Menschen haben. Die Mühe, dies ohne Rückgriff auf theologische Grundlagen zu tun, hat im 18. Jahrhundert Immanuel Kant auf sich genommen. Kants Arbeit gilt manchen als Menschenrechtstheorie. Das mag daran liegen, dass er seine Argumente auf eine Konstruktion gründet, die analog bei der Einschätzung der Menschenrechte als Ausdruck maximaler menschlicher Freiheit oder Autonomie Anwendung fand. Denn er fragt danach, welche Handlungsmaxime von allen Akteuren geteilt werden kann. Die grundlegenden Handlungsmaximen müssen teilbar sein. Es geht nicht an, dass Prinzipien nur für einige Privilegierte da sind. Kants Methode, die Prinzipien der Pflichten festzulegen, lässt sich nicht auf die oberflächlichen Details des Handelns anwenden: Wir können nicht das Getreide verzehren, das jemand anderer isst, oder alle unter demselben Dach leben. Aber wir können versuchen, darauf zu achten, dass die grundlegendsten Maximen unseres Lebens und unserer Institutionen von allen geteilt werden können, und dann ausarbeiten, was diese Maximen für jeweils einzelne Situationen bedeuten.

      Das