Im März färbte sich der Frühling braun. Manfred Eisner

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Название Im März färbte sich der Frühling braun
Автор произведения Manfred Eisner
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783961455188



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Freundin, falls wir noch Fragen haben sollten?«

      »Sie sitzt an der Kasse im Elbe-Kaufmarkt. Soll ich sie fragen?«

      »Na ja, wenn sich’s ergibt. Sag Bescheid, falls du etwas Nützliches erfährst, okay?«

      Waldi und Nili verabschieden sich.

      »Viel Glück, Nili, und lass uns wissen, wie’s weitergeht!

       *

      Während Waldi den Dienstpassat steuert, greift Nili zum Handy.

      »Guten Morgen, Herr Kriminaloberrat! Gut nach Hause gekommen?« Sie lauscht. »Ach was, Sie sind noch in Honigfleth?«

      KOR Stöver erzählt ihr, dass er über Nacht geblieben sei, weil sein Schwager mit einer Grippe im Bett liege. Er habe somit keinen Fahrer gehabt und sei gerade im Begriff gewesen, sich ein Taxi zu bestellen.

      »Unsinn, Herr Stöver, mein Waldi Mohr und ich kommen gleich vorbei und holen Sie ab. Und dann nehmen wir Sie mit zum Holstenhof meines Onkels. Bei einem guten Mittagessen können wir Ihnen gleich die aktuellen Neuigkeiten mitteilen.« Als der Kriminaloberrat protestiert, sagt sie: »Bitte keine Widerrede, das macht überhaupt keine Umstände, glauben Sie mir. Bei Onkel Oliver und Tante Madde geht es jedes Wochenende hoch her, denn da trifft sich unsere gesamte Familie und es gibt immer noch eine Portion für Überraschungsgäste. Also bis gleich!«

       *

      Ein wenig verlegen und überrumpelt von Nilis stürmischem Naturell wird Heinrich Stöver sehr herzlich vom Familienoberhaupt des Holstenhofes begrüßt und dann sogleich sämtlichen anwesenden Mitgliedern, »meiner gesamten Mishpacha«4 vorgestellt, wie Nili scherzhaft betont. Offensichtlich von dem freundlichen Empfang berührt, versucht er sich für sein unangemeldetes Eindringen zu entschuldigen.

      »Aber, aber, sehr geehrter Herr Kriminaloberrat, Sie brauchen sich darüber wirklich keine Gedanken zu machen!« Oliver Keller lächelt den Gast freundlich an. »Wie Ihnen meine Nichte vielleicht berichtet hat, sind meine Eltern, meine Schwester Lissy – also Nilis Mutter – und ich in Bolivien aufgewachsen, und dort ist es gang und gäbe, Gäste mit den Worten ›Mi casa es su casa‹ zu empfangen. Also genießen Sie mit uns Ihren heutigen Aufenthalt in diesem, Ihrem Haus!« Als Tante Madde zu Tisch bittet, führt Oliver den Gast in die große Wohnküche, wo sich alle rund um den großen Esstisch versammeln, und fügt mit Blick auf die erwartungsvoll dreinschauenden hungrigen Mäuler hinzu: »Oma Clarissa hat uns heute mit ihren letzten drei Gänsen vom Eulenhof bedacht. Sie haben das Weihnachtsfest überlebt, durch welches Wunder auch immer.«

      Spontanes Geklatsche begrüßt die Ankündigung.

      »Ist ja gut, ihr Lieben!«, quittiert Abuelita etwas verlegen die unerwartete Ovation. »Um das ›Wunder‹ aufzuklären, sei erwähnt, dass es drei verspätete Eischlüpflinge waren, die zu Weihnachten noch nicht ihre Schlachtreife erreicht hatten, sodass wir sie ihr Gnadenbrot bis vorgestern genießen ließen, als Viez Bruno sie bei uns abholte und zum Schlachter Reimers brachte. Maddes Kochanleitung stammt übrigens aus der Rezeptsammlung meiner Mutter Annette von Steinberg. Zum Nachtisch habe ich euch ein großes Glas meiner vorjährigen Quittenmarmelade mitgebracht.«

      »Ach wie schön, Omi, Martín Fierro!«, ruft das jüngste Familienmitglied Oskar entzückt dazwischen.

      »Na, dann brauche ich ja nichts mehr zu sagen! Jedenfalls hoffen wir, dass es euch schmeckt, und dazu guten Appetit!«

       *

      Als sie später beim Kaffee in der ›Guten Stube‹ des geräumigen Bauernhauses gemütlich zusammensitzen, bemerkt Heinrich Stöver: »Frau Masal, ich beneide Sie wirklich um Ihre prächtige Familie. Wie gern hätte ich auch so eine gehabt!«

      »Wieso, Herr Kriminaloberrat, sind Sie denn alleinstehend?«, fragt Omi Clarissa.

      »Ach, wissen Sie, gnädige Frau, auch wir wurden das Opfer der vermaledeiten Nazis. Zwar keineswegs mit Ihrem Schicksal zu vergleichen, aber dennoch wurden auch wir gegen Kriegsende vom Hass der polnischen Nachbarn in Oberschlesien gejagt und verfolgt. Ich kann es ihnen keineswegs verdenken, zu viel Unrecht und Tod haben Deutsche den Polen in jenen bösen Jahren zugefügt, das ist wahr, aber auch wir – die nichts Unrechtes getan hatten – mussten dafür bitter büßen. Als damals Willy Brandt in Warschau auf den Knien um Vergebung bat, hätte ich mich am liebsten neben ihn gekniet. Es war für mich eines der tiefsten Erlebnisse meines Lebens. Jedenfalls, kurz bevor die Russen einmarschierten, wurde mein Vater, in dritter Generation Inhaber einer Ziegelei in Kochlowitz bei Katowitz, von einigen dort unter schmählichen Bedingungen schuftenden KZ-Insassen erschlagen. Durch das energische Eingreifen eines polnischen Vorarbeiters erlaubte man meiner Mutter und uns vier Kindern, unsere Siebensachen auf einen Pferdewagen zu laden, und jagte uns davon. Wir schlossen uns einem Treck von Flüchtlingen an und entkamen glücklicherweise der stets vorrückenden Roten Armee um eine Nasenlänge. Ich war der Jüngste, aber meine älteste Schwester erfror unterwegs und meine Mutter zog sich eine Lungenentzündung zu und starb, kurz nachdem wir endlich in dem zerbombten Deutschland angekommen waren. Auch eine meiner beiden verbliebenen Schwestern hat nicht mehr lange gelebt, die andere ist in Honigfleth verheiratet, deren Ehe blieb aber kinderlos. Ich hatte Glück und wuchs in Marne bei einem entfernten Verwandten meiner Mutter auf. Mein Abitur machte ich dann in Itzehoe und schlug daraufhin die Polizeilaufbahn ein. Ich war nur kurz mit einer sehr lieben Frau verheiratet, die leider bei der Geburt unseres ersten Sohnes starb. So bin ich allein geblieben, habe mich aber daran gewöhnt.«

       *

      Als Nili und Waldi am frühen Abend den Kriminaloberrat wieder nach Itzehoe zurückbringen, stehen zu seiner Verabschiedung alle an der Haustür und winken dem Passat hinterher.

      »Das ist also Nilis berühmt-berüchtigter ›Hein Gröhl‹? Mir kam er eher ruhig und angenehm vor«, meint Ima Lissy.

      »Möglich. Aber ich denke, jetzt lassen sich seine gelegentlichen schroffen Ausbrüche besser nachvollziehen«, urteilt Abuelita.

       3. Aus Nilis Tagebuch

      Nili nimmt sich mal wieder ihr Tagebuch vor, denn sie will darin die letzten Ereignisse festhalten. Sie tut es damit ihrer Abuelita Clarissa gleich, die schon in früher Jugend die bedeutenden und intimsten Gedanken ihren Tagebüchern anvertraut hat und gelegentlich Tochter und Enkelin auch daraus vorliest. Nili erfährt dadurch immer wieder interessante Begebenheiten aus ihrer Familiengeschichte und von den ereignisreichen Tagen der Flucht der Großeltern Heiko und Clarissa, ihrer Mutter Lissy und Onkel Oliver aus Nazi-Deutschland sowie aus ihrem bolivianischen Exil. In ihrem ersten Gymnasialjahr in Hamburg begann sie mit den Einträgen und hielt in unregelmäßigen Abständen alle jene erwähnenswerten Erlebnisse handschriftlich fest, die ihr bedeutend erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg und anlässlich des schmerzhaften Endes einer Affäre mit einem Mann unterbrach sie diese Gewohnheit für längere Zeit und begann erst Jahre später damit – bereits zur Kriminaloberkommissarin befördert und nach Oldenmoor zurückgekehrt –, ihre interessantesten Fälle festzuhalten. Inzwischen tippt sie ihre Aufzeichnungen auf dem Laptop und speichert sämtliche Berichte auf einer separaten, nur dafür bestimmten Festplatte.

       Nachdem Waldi und ich KOR Stöver vor seinem Gästehaus in der Itzehoer Dorfstraße abgeliefert hatten, fuhren wir gleich weiter nach Kiel. Wir hatten uns erstaunt gezeigt, dass Stöver seit seiner Ankunft immer noch keine eigene Wohnung oder ein Haus bewohnt. Er meinte, für ihn hätte dies als Allleinstehender kaum einen Sinn. Er fühle sich sehr wohl bei seinem gastfreundlichen Wirtsehepaar Winter, das ihn mit allem Benötigten versorge. Waldi war der Meinung, dass er nach allem, was Stöver uns von sich erzählt hatte, viel besser nachvollziehen könne, weshalb dieser derart launisch sei und gelegentlich cholerische Ausbrüche habe. »Er ist allein und unglücklich, und diese Verbitterung macht ihn eben zu dem, was er ist!«, sagte er. Ich erwiderte, dass Stöver meines Erachtens in der letzten Zeit mit seinen Mitarbeitern etwas milder umginge, dies sei mir von denen auch mit Verwunderung berichtet worden und ich hätte