Briefgeschichte(n) Band 2. Gottfried Senf

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Название Briefgeschichte(n) Band 2
Автор произведения Gottfried Senf
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783961450459



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eine große Überraschung für uns Deutsche! Wir kannten die krachende Zackigkeit des Militärs und der SS. Ich war einmal mit meiner Mutter beim Kommandanten, der ein kleines Büro hatte neben dem Büro des damaligen Bürgermeisters Müller (dem Stiefvater von Frau Thiemann). Das war wohl im Mai 45. Ein Soldat kam ins Büro und setzte sich mit einer Hinterbacke gemütlich auf den Schreibtisch des Kommandanten und unterhielt sich mit ihm. Wir waren natürlich sehr erstaunt. Vor amerikanischen Krankenhäusern und Kasernen standen Schilderhäuschen, aber die Wachhabenden saßen meist daneben auf einem zurück gekippten Stuhl und sahen sich Comicbooks an. Es geht also auch anders. Bei den Russen ging es dann wieder zackig zu. In allen Diktaturen herrscht „Ordnung“, auch besteht in denen ein mächtiges Rangsystem. Es ist doch sehr merkwürdig, dass im Arbeiter- und Bauernstaat DDR, viel mehr aber in der Sowjetarmee, diese erstaunlichen Rangunterschiede bestanden zwischen Offizieren und Mannschaften. Es gibt ja immer noch Leute, die das vergangene Russische System als „links“ bezeichnen. Die Russen unter Stalin (und später) lebten - wie die Deutschen unter Hitler - in einem Staatskapitalismus, waren also „rechts“. Da kamen die zwei schlimmsten Sachen, Diktatur und Kapitalismus, zusammen! Unser Kapitalismus braucht die Demokratie, um halbwegs erträglich zu sein.

      Zur Affäre Kohl, die unterdessen auch eine Affäre der CDU geworden ist: „Die Zeit“ vom 27. Januar hat eine hoch interessante Artikelserie darüber: „Parteichef Helmut Kohl“ (Roger de Weck), „Schaden, Freude“ (Christoph Dieckmann), „Was heißt eigentlich Ehre?“ (Marion Gräfin Dönhoff), „Immer noch schlimmer“ (Tobias Dürr), „Alles in bar“ (Jochen Buchsteiner). … Es ist zum Weinen. Andererseits wären diese Machenschaften eines Politikers, der viel zu lange an der Macht war, in einer Diktatur in Geheimarchiven verschwunden. Ich hoffe, dass der jetzt beginnende Reinigungsprozess die zwei Deutschland näher zusammenbringt, zumal wenn Biedenkopf zum Zuge kommen sollte.

      Was in Österreich (Jörg Haider) vor sich geht, ist nicht schön, doch ist es ironisch, dass ausgerechnet die Amerikaner so scharf reagieren. Ich denke da an den vom amerikanischen Geheimdienst unterstützten Putsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Allende in Chile, der den grässlichen Faschisten Pinochet zur Macht brachte und Tausenden das Leben kostete. Im Garten des Kalten Krieges wuchsen merkwürdige und schrecklich aussehende Blüten!

      Zum Antisemitismus: Ich bin immer noch der Meinung, dass ein katholisches Milieu diesen in der Vergangenheit mit verursacht hat. Die Protestanten hatten immerhin eine innerkirchliche Bewegung (die „Bekennende Kirche“), die sich Hitler und seinen Lehren entgegenstemmte. In Rom gab es, abgesehen von einzelnen Priestern und Katholiken hier und da, keinen Widerstand gegen die Nazis. Mit der Lehre, dass Juden den „Heiland“ ermordeten, fängt das Unheil an.

      Hoffentlich ist dieser schnell geschriebene Brief leserlich. Im April werden wir wohl für drei Wochen nach England fliegen, Ende August vielleicht nach Deutschland. Doch ist das noch unbestimmt. Alles erdenkliche Gute und Schöne wünschen wir Euch. Mit herzlichen Grüßen von John + Gisela

       25. Februar 2000

      Lieber Gottfried, liebe Karin, wir bedanken uns sehr für Deinen „Rundgang durch die Geithainer Altstadt“ sowie die neusten Nachrichten Paul Guenther betreffend, und schließlich den ausführlichen Bericht über die unterirdischen Gänge in Geithain. Toll, was Du da alles zusammenträgst. Da wundert es mich nicht, dass Du kaum Zeit zum Briefeverfassen findest. Wir hörten mit Bedauern, dass der nette Herr Griesbach aus Dover/N.J., gestorben ist. Wenn Du an die Lehrerin Ulla Wienhöfer in Dover/N.J. schreibst, dann grüße sie doch bitte von uns. Es ist kaum zu glauben, dass in diesem Sommer vier Jahre seit unserer Reise nach Dover vergangen sind!

      Zu Deinem „Rundgang“ kommen mir die Erinnerungen: Da heißt es, dass die Bürgerschule von 1877 bis 1925 als Schule benutzt wurde und bis 1952 die Stadtverwaltung beherbergte. Mir fehlt dort, dass Geithain 1945 in diesem Gebäude erst einmal eine recht bescheidene amerikanische Dienststelle beherbergte und vom Juli 45 an völlig geräumt wurde, um Platz zu machen für die russische Kommandantur. Wie lange die dort war, weiß ich natürlich nicht, doch war die Kommandantur im Sommer und Herbst 45 ein „Prachtbau“, den man nicht übersehen konnte und sogleich das Zentrum der Macht. Um das ganze Gelände zogen die Russen einen mindestens zwei Meter hohen Holzzaun mit hölzernen, zwiebelförmigen Ornamenten auf den Pfosten. Die Bildnisse von Marx, Lenin und Stalin (gemalt vom Geithainer Maler Niederwerfer, wenn ich mich recht an den Namen erinnere), sowie Spruchbänder mit kyrillischen Schriftzeichen, schmückten die Fassade. Auf einem dieser Spruchbänder stand (so wurde es uns übersetzt) “Stalin, unsere Sonne“. Nach dem Sieg über Deutschland war Stalin auf der Höhe des später kritisierten „Personenkults“, und die Auswirkungen dieses Kults in Geithain sind aus historischen Gründen erwähnenswert. Innen sah die Kommandantur wie ein prächtiges Hotel aus. Auf dem Fußboden der Eingangshalle und die Treppe hinan lagen Teppiche. In der Halle standen Sofas unter Palmen und Gummibäumen. Oben im ersten Stock war, in der Mitte, das Zimmer des Kommandanten, tadellos möbliert mit den dunklen, geschnitzten Möbeln (Schreibtisch, Ledersessel, Ledersofa, Rauchtisch etc.), die man aus dem Herrenzimmer von Herrn Magnussen (der kurz vor dem Einmarsch der Russen mit seiner Familie nach Schleswig-Holstein geflohen war) herbeigeschafft hatte. Oben im Festsaal schliefen etwa 40 – 60 russische Soldaten. Die Offiziere hatten sich in Villen an der Robert-Koch-Straße und anderswo einquartiert. Nicht jeder Ort in Sachsen hatte damals eine Kommandantur. Ich war oft in diesem Gebäude, da der Sommerhof diese „Garnison“, wenn du es so nennen willst, mit Nahrungsmitteln versorgen musste. Fast täglich gab es Lieferungen an Milch, Butter, geschlachtetem Federvieh, Eiern, etc.. Ich glaube, Dir davon vor Jahren berichtet zu haben. Auch mussten die Bauern der Umgebung im Büro des Offiziers, der verantwortlich war für die Landwirtschaft, jeden Tag die Direktiven für den nächsten Tag abholen und eingehend über die Tätigkeit des Tages berichten. Also: Wie viele Fuder Heu oder Getreide wir eingefahren hatten, wie viele Acker beerntet oder gepflügt wurden, wie viele Schweine oder Kälber das Licht der Welt erblickten, etc. etc.. Über alles wurden Statistiken aufgestellt.

      Darüber habe ich Dir sicherlich schon berichtet. Oder? Einmal, als wir unser „Soll“ nicht erfüllt hatten, wurde ich für eine Nacht in der Kommandantur eingesperrt, in einer sehr ungemütlichen Zelle mit einem winzigen Fenster nach hinten hinaus. Ich glaubte, mein Ende sei gekommen. Aber am nächsten Tag verhörte mich der Kommandant, ein junger, schneidiger, und nicht unmenschlicher Bursche, in seinem Arbeitszimmer, und ließ mich frei. Gibt es denn keine Photos der Kommandantur aus der damaligen Zeit? Ich lege Dir eine schnelle Skizze bei, wie die damals aussah. (Bild 11)

      Beiliegend noch eine, und diesmal letzte Leseprobe über den CDU-Skandal in der hiesigen Presse. Auch etwas über Jörg Haider, das Euch vielleicht interessieren könnte. Wir bekamen von Freunden zu Weihnachten ein hochinteressantes Buch über Deutschland: „Deutschland auf Bewährung“ von Ulrich Wickert, Wilhelm Heine Verlag München. Das Buch solltest Du lesen. Ich habe viel daraus gelernt.

      Was noch? Sicherlich fällt mir alles mögliche ein, wenn der Brief weggeschickt ist. „Die Zeit“ hält uns recht gut auf dem Laufenden über Ereignisse in Deutschland, und trotzdem möchte man mehr wissen, besonders über das sich langziehende Zusammenwachsen von Ost und West bzw. über die Entwicklung der „Neuen Bundesländer“. Nun war ja der „Regionalismus“ in Deutschland Tradition. „Denn gleich hinter Meißen, pfui Spinne, kommt Preissen“! Die Bayern wären nach 1918 liebend gerne selbstständig geworden. Vielleicht fühlen sich alle besser, wenn Deutschland und alle seine verschiedenen Länder eines Tages völlig in einem vereinigten Europa aufgegangen sind.

      Die Wahlen zum Präsidenten in den USA ziehen sich, wie aller vier Jahre, endlos hin. Ein ganzes Jahr Wahlkampf, da will man schließlich gar nicht mehr hinhören. Bush hat schon 52 Millionen Dollar ausgegeben bisher, und die Wahl ist erst im November. Wo kommen diese Summen her? Von den Reichen natürlich, und zum Nutzen der Reichen wird schließlich die Politik sein, die der gewählte Präsident einschlägt. Nicht Demokratie, sondern Oligarchie ist der Name dieses Systems.

      Herzliche Grüße den Mitgliedern des Heimatvereins. Du schriebst von Eurem Aufenthalt in Bad Birnbach Wo ist Bad Birnbach und warum seid Ihr dort gewesen? Seid Ihr