Abenddämmerung im Westen. Wieland Becker

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Название Abenddämmerung im Westen
Автор произведения Wieland Becker
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783957448095



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die Legenden wie auch die vorgeblichen „Tatsachenberichte“ – je länger ich mich mit diesem Thema auseinandersetzte – immer fragwürdiger und schließlich unannehmbar. Wie kann das Töten anderer Menschen auf Befehl etwas Heldenhaftes sein? Auch Soldaten, die einen Verteidigungskrieg führen, müssen unmenschlich handeln, wenn sie siegen und überleben wollen, zumal ihnen die Befehle ohnehin keine andere Wahl lassen. Sicher gab es todesmutige, tollkühne, den Tod verachtende Soldaten. Aber Helden? Sind wirkliche Helden nicht vielmehr jene, die ihr eigenes Leben riskieren, um das Leben anderer zu retten?

      Wann genau es war, dass ich damit begann, Kriege von den Gefallenen, Niedergemetzelten, den Verkrüppelten, den Witwen und Waisen her zu begreifen, weiß nicht mehr genau; aber alle weiteren Studien, Analysen und Wertungen von Dokumenten und Darstellungen haben mich in meiner Überzeugung, dass es nur mit dieser Sicht möglich wird, Krieg wirklich zu begreifen, immer aufs Neue bestärkt.

       II. Heldengeschichten?

      Dass die bisherige Geschichte der Menschheit eben auch eine Geschichte von Kriegen war und ist, kann nicht in Frage gestellt werden. Vor Jahren legten Wissenschaftler ihre Berechnung zum Verhältnis von Krieg und Frieden in der jüngeren Menschheitsgeschichte vor: Für den Zeitraum der zurückliegenden etwa 4000 Jahre fanden sie Belege dafür, dass in der Welt in den meisten dieser Jahre insgesamt 14.000 Kriege geführt worden sind; dagegen gibt es lediglich 300 Jahre, in denen kein Krieg stattfand.

      Geschichten über Krieg und Heldentum wurden zu allen Zeiten – von der Antike bis zur Gegenwart – erzählt oder geschrieben und benutzt, wenn es galt, junge Menschen mit kriegerischem Geist zu versehen. Stets gab es mehr als genug Schriften, die den Krieg priesen und soldatisches Tun mit einer Aura der Tapferkeit als einen hohen sittlichen Wert für männliches Handeln zu umgeben. Vorgeblich siegte immer der Tapfere, der für edle Ziele kämpfte, als wäre das Schlachtfeld der Platz für den Beweis hoher Moral. Und wenn dann einer der Edlen fiel, dann wurde dem Leser der Trost zuteil, dass er den Heldentod gestorben war. Tote Helden kann man halt nicht befragen, ob sie sich im Sterben als Helden gefühlt haben…

      Es ist Teil dieses unsäglichen Feierns des Heldentums, das bedeutende literarische Zeugnisse, die populär waren, aber keine Heldengeschichten erzählten, verfälscht wurden.

      Als zwei der ältesten und zugleich literarisch bedeutendsten gelten „Ilias“ und „Odyssee“. Wovon berichten sie? Was sind ihre Botschaften, worin besteht ihre innere Wahrheit?

      Homers Gesänge vom Kampf um Troja, als die griechischen Könige unter Führung Agamemnons gegen das in Kleinasien liegende Troja zogen, um die angeblich geraubte Helena, Gattin des Spartanerkönigs Menelaos und schönste Frau der Antike, vom trojanischen Königssohn Paris „entführt“, zurückzuholen. Zehn Jahre dauert die Belagerung, erbitterte und opferreiche Kämpfe werden beschrieben.*

      Bedenkt man, dass Zwietracht selbst unter den Göttern im Olymp herrschte, die sich gegenseitig als Bundesgenossen der Griechen oder der Trojaner bekämpften, verfestigt sich der Eindruck, dass Homer diesen Krieg nicht als Heldenstück besang, sondern als ein von tragischen Ereignissen geprägtes Geschehen. Insbesondere die trojanische Königstochter und Seherin Kassandra, deren düstere Prophezeiungen, auf die niemand hört, sich immer erfüllen, steht dafür. Man kann in ihr durchaus ein ‚alter ego’ des Sängers selbst sehen.*

      Zu den – über Jahrhunderte bleibenden – Zeugnissen deutscher Geschichte zählen die als „Heldensagen“ popularisierten Lieder aus der Zeit der germanischen Eroberungen und der Hunnenkriege, als Attila mit seinem Reiterheer bis in das westliche Europa vordrang. Herausragend ist hier das „Nibelungenlied“, das als Heldengesang gefeiert und instrumentalisiert wurde. Die „Nibelungentreue“ galt über Jahrhunderte bis in die NS-Zeit als beispielhaft.

      Es beginnt freundlich, als Siegfried, von Xanten kommend, im burgundischen Worms eintrifft und sich in die schöne Kriemhild, Schwester König Gunthers. verliebt Aber Siegfried muss sich die Hochzeit „verdienen“, wofür sich bald schon eine Gelegenheit ergibt: Kriemhilds königlicher Bruder Gunther wirbt nämlich um Brünhilde, die nur einen Mann zu heiraten bereit ist, der sie im Wettkampf besiegt. Und so kommt es zum Betrug, indem Siegfried Gunther mit Hilfe seiner (dem Zwerg Alberich entwendeten) Tarnkappe hilft, Brünhilde in einem Wettkampf zu bezwingen.

      Jahre später löst der Streit der Königinnen Kriemhild und Brünhilde, wer von ihnen den Vortritt vor den Toren des Münsters zu Speyer beanspruchen darf, die Katastrophe aus; als der treue Vasall Hagen von der Kränkung der im Streit unterlegenen Brünhilde, seiner Königin, erfährt, schwört er, die Schmach zu rächen. Da er Siegfried im offenen Zweikampf nicht besiegen kann, greift er zu einer teuflischen List, indem er Kriemhild rät, zu Siegfrieds Schutz ein Kreuz auf dessen Jagdanzug anzubringen, genau dort, wo er einzig verwundbar ist. So kann er Siegfried töten und die Ehre seiner Königin wieder herstellen. Später heiratet Kriemhild den Hunnenkönig Etzel* und lädt die Burgunder ein, um sich an Hagen zu rächen. Die Tragödie ist nicht mehr aufzuhalten. Immer neue hunnische Heerscharen stürmen den Saal, in dem die Burgunder eingeschlossen sind. Alle Angreifer finden den Tod, bis Kriemhild Dietrich von Bern auffordert, seiner Lehnspflicht zu folgen. Mit seinen Recken stürmt er den Saal. Der Kampf endet erst, als sämtliche Krieger bis auf Dietrich, Hildebrandt, Hagen und Gunther tot in ihrem Blute liegen. Dietrich überwältigt Hagen und Gunther und bringt sie zu Kriemhild, die, als Hagen ihr die Auskunft über den Verbleib des Nibelungenhortes verweigert, zuerst Gunther töten lässt. Dann tötet sie Hagen mit dem Schwert, das einst Siegfried trug, und wird von Hildebrandt enthauptet, der, empört darüber, dass ein Weib einen Helden erschlug, rasend vor Zorn zuschlägt. Am Ende bleiben ganze drei einsame Männer von Tausenden zurück, die im Grunde genommen alles verloren haben, nur das eigene Leben ist ihnen erhalten geblieben, inmitten eines sinn- und trostlosen Blutbades.

      Es wird keine Heldensage erzählt, sondern eine bittere Geschichte von maßloser Gefolgschaftstreue und einer Ehrauffassung, die alles rechtfertigt, von Verrat und Hinterlist, von gnadenloser Rache, von eitler Geschwätzigkeit, die zu einer Eskalation rücksichtsloser Gewalt führt, die unaufhaltsam alle erfasst und erst mit dem hundertfachem Tod ein sinnloses Ende findet. Als mein Vater seine Lesart des Nibelungen- und des Hildebrandtliedes Anfang der 50er Jahre herausbrachte, wählte er „Warnlieder“ als gemeinsamen Titel. Gefolgt sind ihm nur wenige.

      Was in pseudohistorischen Werken, in Trivialliteratur und Kolportagen im Sinne von Lobpreisen von Krieg und Gewalt wie auch mit dem Ziel der Herabsetzung von Gegnern aus nationalistischen, rassistischen oder anderen niederen Beweggründen heraus geschrieben wurde und wird, hat mit Kunst nichts zu tun. Es dient ausschließlich der Manipulation und Instrumentalisierung der Menschen im Sinne von Krieg als patriotischem Heldentum. Wirkungsvoll war das zu allen Zeiten.

       III. Die Toten und die Überlebenden

      Es ist nur wenige Jahrzehnte her – man schrieb das Jahr 1942, als sich der polnische Widerstandskämpfer Jan Kozielewski unter seinem Tarnnamen Jan Karski vom besetzten Polen aus auf den Weg machte, der ihn bis in die USA führte. Seine Aufgabe: die polnische Exilregierung und die Regierungen Großbritanniens und der USA über die Hölle des Warschauer Ghettos und den Massenmord an Juden und der polnischen Intelligenzija in den Konzentrationslagern zu informieren. Beim Treffen mit dem amerikanischen Richter Felix Frankfurter, selbst Jude, fiel jener Satz, der Karski auf das schwerste traf. Nach seinem Bericht sagte Frankfurter: „Mr. Karski, jemand wie ich, der zu jemanden wie Ihnen spricht, muß ganz offen sein. So sage ich, ich kann nicht glauben, was Sie mir erzählt haben.“ Auf einen Einwand des anwesenden polnischen Botschafters, antwortete Frankfurter: „Herr Botschafter, ich habe nicht gesagt, dass dieser junge Mann lügt. Ich sagte, ich sei unfähig zu glauben, was er mir erzählt hat.“

      Jan Karski konnte damals aus verständlichen Gründen nicht ein einziges Foto oder Dokument vorlegen, das seinen Bericht belegen konnte, denn die unfassbare Wirklichkeit des Krieges und der Konzentrationslager konnte erst mit deren Befreiung und dem Ende des II. Weltkrieges durch Augenzeugen, Fotografien und filmische