Paul - Wir haben ihn kaputt gemacht. Stefan Brauer

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Название Paul - Wir haben ihn kaputt gemacht
Автор произведения Stefan Brauer
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783957446206



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Vorgängerin, mit der ich in der Einarbeitungszeit noch einige Monate zusammenarbeitete, wirkte auf mich sehr kalt und lieblos. Wer weiß, eventuell würde ich mit der Zeit genauso werden, dachte ich schon damals.

      Sie hatte keine Kinder und wollte auch keine. Vermutlich bringt das dieser Job mit sich.

      Ich dagegen wollte schon immer Mutter werden, irgendwann. Doch wenn ich die Eltern der Kinder meiner Fälle kennenlerne, bekomme ich Angst, möglicherweise genauso überfordert zu sein und dann zu werden wie sie.

      Wenn man diesen Eltern auf der Straße begegnet, fallen sie niemandem auch nur ansatzweise besonders auf. Viele von ihnen könnte man sogar für richtig nette Menschen halten. Mittlerweile muss ich aufpassen, dass mir perfekt auftretende Eltern nicht sofort suspekt sind, so sehr hat meine Menschenkenntnis gelitten.

      Überall glaube ich irgendwelche Anzeichen auf Gewalttätigkeit gegenüber Kindern zu entdecken, selbst in meinem privaten Umfeld. Die Arbeit scheint mir nie aus dem Kopf zu gehen.

      Fast jeder von uns in der Abteilung hatte schon mal einen schlimmen Fall, der einen von Innen aufzufressen drohte und am Glauben an die Menschheit zweifeln ließ.

      Bei mir war es eine Mutter, die ihr wenige Monate altes Baby in einem Krankenhaus so schwer misshandelte, dass die Ärzte verzweifelt versuchen mussten, es wiederzubeleben. Es sei ihr runtergefallen. Nie vergesse ich ihre kalte, gefühllos vorgetragene Ausrede, während das Ärzteteam am blau angelaufenen Babykörper eine Herz-Lungen-Massage vornahm.

      Ich bin diese Ausreden so satt:

      »Mir ist doch nur die Hand ausgerutscht.«

      »Mir hat das damals auch nicht geschadet.«

      »Er ist schon wieder gegen die Tür gelaufen.«

      Auf der Suche nach den Schuldigen sind wir vom Jugendamt ein gefundenes Fressen. In den Medien stehen wir regelmäßig als Sündenbock der Nation da.

      Es ist immer das Gleiche. Entweder rauben wir Familien die Kinder oder schreiten viel zu spät ein, wenn dies schon längst überfällig ist.

      Und nun kämpfe ich erneut um das Leben eines Kleinkindes namens Paul.

      Wir bekamen den ersten Hinweis von der Hebamme und den Krankenschwestern, die bei der Entbindung dabei gewesen waren. Die Mutter sei unter Drogeneinfluss im Krankenhaus eingetroffen, als die Wehen einsetzten. Der Vater sei nicht anwesend gewesen. Dafür aber ein Mann, der ihnen durch seine Gleichgültigkeit seltsam vorgekommen sei.

      Da dies alles nur Vermutungen waren und wir keine hundertprozentigen Beweise vorliegen hatten, blieb uns erst mal nichts anderes übrig, als eine neue Akte anzulegen und mit der Mutter Kontakt aufzunehmen. Auf meiner Prioritätenliste kam Paul nach ganz unten.

      Also schickten wir einen Brief an die frisch gebackene Mutter mit der Bitte um ein Treffen. Damit signalisieren wir den Betroffenen, dass wir sie unterstützen wollen, und zugleich wollen wir ihnen die Angst vor uns nehmen. Bei solch schwierigen Rahmenbedingungen versuchen wir den Eltern zu helfen, den ganz normalen Alltag zu überstehen. Eine alleinstehende Mutter hat es nie leicht.

      Die Wochen vergingen ohne eine Antwort. Wir schrieben einen zweiten Brief, in dem wir untermauerten, dass wir ihr zur Seite stehen wollten und sie uns doch wenigstens anrufen könnte.

      Wieder keine Antwort. Im dritten Brief wurden wir schon etwas mürrischer. Wir drohten mit Konsequenzen und ermahnten sie, nun endlich mit uns zu kooperieren. Alle Briefe blieben unbeantwortet.

      Ich ging davon aus, dass die Mutter schon längst umgezogen war, ohne sich umgemeldet zu haben. Das passiert uns ständig. Viele versuchen auf diese Weise, dem Jugendamt auszuweichen. Mir kam das ganz recht. Ein Fall weniger, dachte ich mir und kümmerte mich wieder um die anderen Kinder auf meiner Liste.

       Der kleine Bruder

      Es war schon sehr spät und draußen war es bereits dunkel, als Paul durch einen lauten Knall aus dem Schlaf gerissen wurde.

      Wieder einmal war seine Mama längere Zeit weg gewesen und bei jedem noch so kleinen Geräusch freute sich Paul, dass sie vielleicht wieder zurückkam. Diesmal war es sehr laut gewesen.

      Noch etwas benommen lag er in seiner Ecke und hob den Kopf.

      »Mama?«

      Paul erkannte sofort ihre Stimme.

      Er richtete sich auf und krabbelte noch etwas unsicher Richtung Tür. Das Licht im Flur strahlte unter der Tür hindurch in sein Zimmer.

      Doch dann vernahm Paul einen merkwürdigen Lärm, den er noch nie zuvor gehört hatte. Irritiert lauschte er. Der Lärm hörte immer wieder für einen kurzen Moment auf und begann dann wieder, und wenn er wieder anhob, begann auch seine Mama zu brüllen. Die Tonlage kannte Paul. So schimpfte seine Mama mit ihm, wenn er wieder einmal zu laut war.

      Der fremde Lärm schien immer näher zu kommen. Während Paul sich noch fragte, was das wohl sein könnte, drehte sich der Schlüssel im Türschloss seines Zimmers mit metallenem Knirschen.

      Paul kannte diesen Klang nur allzu gut. Fast jeden Tag hörte er ihn, kurz bevor sich die Tür öffnete und Mama ihm was zu essen brachte.

      Voller Erwartung krabbelte Paul los, um sich, wie jedes Mal, in der Nähe der Tür zu postieren. Paul kannte sich sehr gut aus in seinem Zimmer, daher tastete er sich trotz der Dunkelheit schnell voran.

      Rasch öffnete sich die Tür und das grelle Flurlicht ergoss sich ins Zimmer. Geblendet vom Licht, bedeckte Paul seine Augen mit seinen kleinen Händen.

      Er konnte hören, wie seine Mama in schnellen Schritten ins Zimmer kam und an ihm vorbei ging. Sie schien das, was diesen Lärm machte, in ihren Händen zu halten. Paul konnte erkennen, wie sie etwas auf die Couch legte.

      Anschließend ging sie, ohne ein Wort zu sagen, zügig wieder raus. Die Tür knallte zu und das metallene Knirschen des Schlosses war erneut zu hören.

      Dunkelheit erfüllte das Zimmer. Paul rieb sich die Augen und tastete den Fußboden vorfreudig nach etwas Essbarem ab. Doch finden konnte er nichts.

      Da war der Lärm wieder. Er kam von der Couch.

      Paul trat vorsichtig näher und schaute sich das plärrende Bündel genauer an. Das fahle Mondlicht erhellte ein wenig die Stelle, wo es lag. Staunend erkannte er ein kleines Wesen, eingewickelt in Handtücher.

      Behutsam berührte er mit seiner Hand den warmen Kopf des Babys. Nahezu unverzüglich hörte das Bündel auf zu schreien und es sah aus, als wäre es eingeschlafen. Fasziniert rührte sich Paul nicht von der Stelle.

      Ein kleines Lächeln überzog sein Gesicht. Nun musste er nicht mehr alleine sein. Pauls Herz hüpfte vor Freude.

      Die Aufregung hielt ihn noch einige Zeit wach und Paul beobachtete überglücklich dieses kleine Wesen beim Schlafen.

      Am nächsten Morgen öffnete sich die Tür erneut. Seine Mama trat ein und nahm das Bündel wieder mit. Nun war Paul wieder alleine. Doch dieses Mal erschien ihm das Zimmer noch viel trostloser als zuvor. Traurig wartete er an seiner Tür und zum ersten Mal weinte er nicht vor Hunger, Durst oder Kälte.

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