Dunkeltage im Elbsandstein. Thea Lehmann

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Название Dunkeltage im Elbsandstein
Автор произведения Thea Lehmann
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783948916060



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…?« Leo sah Sascha an.

      Der winkte ab. »Das verstehst du nicht. Mach einfach weiter.«

      Leo erinnerte sich, dass er das schon öfter gehört hatte: viertel irgendwas. Jeder sagte in so einem Fall »viertel nach zehn« – nur die Sachsen, die machten ein viertel elf draus. Er wandte sich wieder an Frau Dünnebier:

      »Haben Sie den Leichnam angefasst? Oder das Auto?«

      »Iieh, Gott bewahre!«, sagte Helga Dünnebier entrüstet. »Wo der doch tot war. Und kennen tu ich den ja auch ni.«

      »Ist Ihnen, bevor Sie das halbe Dorf hierher beordert haben, irgendetwas aufgefallen? Lagen Gegenstände herum, haben Sie Spuren wahrgenommen?«

      Oma Dünnebier schüttelte den Kopf. »Ne, ich hab da nix gesehen, aber ehrlich gesagt, so gut sehen tu ich ja auch ni mehr.«

      Als Watzke gegen Mittag aufwachte und aus dem Fenster sah, war er sofort höchst alarmiert. Zwei Polizisten marschierten vom Sägewerk kommend über den Waldweg auf sein Häuschen zu. In wenigen Minuten würden sie vor seiner Tür stehen. Die Gewissheit, dass sie ihn nun doch gefunden hatten, grub sich wie eine Bleikugel in seine Magengrube. »Der Notfallplan!«, schoss es ihm durchs Gehirn. Er hastete so schnell er konnte die enge Treppe hinunter und in den Stall. Dort klappte er die Aluleiter zusammen und legte sie an die Seite. Den Rucksack stellte er in den Vorraum im Stall. Als er die Stalltür zum Hausflur verschloss, klopfte es bereits. Ohne Hose, im lose hängenden Hemd und barfuß öffnete er.

      Die beiden Polizisten musterten ihn erstaunt.

      Watzke war sich der absurden Situation bewusst, aber sie tangierte ihn nicht. Er hatte im Dorf ohnehin den Ruf, ein komischer Kauz zu sein. Ihm war es egal, wenn er nun mit noch vom Schlaf zerwühlten Haaren und einer schlackerigen Unterhose zur Mittagszeit in der Haustür stand.

      »Ja, bitte?«, sagte er so neutral wie möglich, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug und er die Arme vor dem Körper verschränken musste, damit man nicht sah, wie sehr seine Hände zitterten.

      Die Polizisten stellten sich als Beamte der Polizeiinspektion in Sebnitz vor und wollten wissen, ob ihm am Wochenende irgendetwas Besonderes aufgefallen war. Man habe einen verwaisten BMW und einen toten Mann oben beim Dorf gefunden.

      Watzke war so erleichtert, dass er einen fahren ließ. Die beiden jungen Polizisten traten synchron einen Schritt zurück.

      »Nee, also, da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich schlafe immer sehr lange und sitze nachts über meinen Büchern, aber dass was Besonderes passiert wär, habe ich in den letzten Tagen nicht bemerkt.« Er sprach gepflegtes Hochdeutsch und nur bei genauerem Hinhören ließ sich eine leichte Berliner Färbung feststellen.

      »Sie haben also nichts festgestellt? Keine nächtlichen Geräusche, ungewöhnlich viel Autoverkehr oder Ähnliches?«, fragte einer der Polizisten.

      Watzke schüttelte energisch den Kopf. Die Spitzen seiner langen Haare flogen ihm um die Ohren, der Rest klebte am Schädel.

      »Nein, leider, mir ist überhaupt nichts Merkwürdiges aufgefallen«, beeilte er sich zu sagen. Dem Naserümpfen des einen Polizisten zufolge schien er nicht nur optisch eine Zumutung zu sein.

      »Na«, sagte der Polizist. »Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt, dann rufen Sie bitte hier an.« Er reichte ihm mit ausgestrecktem Arm eine Karte, auf der mehrere Telefonnummern notiert waren. Die beiden hatten es eilig, von hier wegzukommen, und verabschiedeten sich. Das war Watzke nur recht. Er nahm die Karte und ging zurück ins Haus.

      Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, verriegelte Watzke sie und lehnte sich mit zitternden Knien dagegen. Das war knapp gewesen! Die würden ihn nicht noch einmal in die Finger kriegen, niemals!

      Wenn er einmal in der Woche nach Sebnitz zum Einkaufen ging, war er mental immer darauf vorbereitet, andere Menschen zu treffen. Aber gleich morgens auf leeren Magen zwei Polizisten! Diese Begegnung brachte ihn völlig aus dem Konzept. Was hatte das zu bedeuten? Waren sie gekommen, um ihn auszuspionieren? Hatten sie ihn letztlich doch gefunden? Wussten sie von seinem Geheimnis? Er wankte in die kleine Küche und ließ sich auf die Bank sinken. Stück für Stück analysierte er den Vorfall. War es nur ein Vorwand gewesen? Oder sprachen sie die Wahrheit und das Ganze hatte nichts mit ihm zu tun? Er drehte und wendete die Gedanken in seinem Kopf so lange hin und her, bis er sich wieder beruhigt hatte. Die Kälte kroch an seinen nackten Beinen nach oben und zwang ihn dazu, in den ersten Stock zu gehen und sich anzuziehen. Er schnupperte kurz an seinen Achseln und stellte fest, dass es wohl wirklich Zeit war, mal wieder zu baden. Unschlüssig starrte er auf den Kalender neben seinem Bett. Heute war Montag. Eigentlich badete er nur mittwochs.

      Montag war sein Einkaufstag. Nervös setzte er sich auf sein Bett und konzentrierte sich auf seinen Atem. Nach einer langen Weile beschloss er, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Er band seine Haare mit einem Haargummi zusammen und zog sich an.

      Zum Frühstück kochte er sich wie immer einen Tee und aß drei Scheiben Zwieback. Als er fertig war, spähte er vorsichtig zum Fenster hinaus. Auf dem Waldweg waren keine Polizisten mehr zu sehen. Die Luft schien rein zu sein.

      Er beschloss, es zu wagen. Watzke brauchte die Routine, um sich zu beruhigen. Da heute Montag war, würde er einkaufen gehen, wie immer. Nichts war auffälliger, als Routinen zu durchbrechen.

      Weil er kein Auto besaß, ging er die acht Kilometer nach Sebnitz immer zu Fuß. Bei schönem Wetter war der Hinweg sogar ganz nett. Aber an diesem Montagnachmittag nieselte es wieder und das Wetter gab einen Vorgeschmack auf den bevorstehenden Winter. Watzke griff zu Tante Hermines altem Regenmantel und stopfte seine langen, inzwischen ziemlich grau gewordenen Haare unter einen speckigen Hut, bevor er aus der Haustür trat. Ohne das Sägewerk eines Blickes zu würdigen, machte er sich hinauf auf den Weg durch Ottendorf und wandte sich dort nach rechts Richtung Sebnitz. Er vermied es, auf die Häuser links und rechts der Straße zu schauen. Er wollte niemanden sehen und von niemandem gesehen werden. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht. Als sich die gewundene Straße hinter der Ortschaft wieder hinunter ins Sebnitztal senkte, hörte der Nieselregen auf. Die Sonne kam zwischen den Wolken hervor. Aus dem Wald leuchteten Birken und Buchen mit buntem Laub, und auf den Wiesen neben der Straße glitzerten die Regentropfen im Sonnenlicht. Wenn die noch warmen Strahlen auf die Straße trafen, stieg die Feuchtigkeit in kleinen Dampfschwaden auf.

      Watzke atmete tief durch. Einmal mehr beglückwünschte er sich dafür, dass er von Berlin hierher nach Ottendorf gezogen war. Ohne Tante Hermine wäre sein Leben wahrscheinlich furchtbar kompliziert geworden. Jetzt war er dagegen fast am Ziel seiner Träume und die Zukunft erschien ihm so rosig wie schon lange nicht mehr, immer vorausgesetzt, dass die Polizisten nicht nach ihm suchten.

      Watzke hörte ein Auto kommen. Er trat nach rechts an den Straßenrand, um den Wagen an der engen Stelle vorbeizulassen. Doch der fuhr nicht vorbei, sondern hielt neben ihm an. Eine junge Frau mit einer viel zu großen Strickjacke und einem geblümten Kleid saß am Steuer des silbergrauen Toyotas. Sie beugte sich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster herunter. »Soll ich Sie ein Stück mitnehmen? Ich fahre nach Sebnitz.« Erwartungsvoll sah sie Watzke an.

      Der war vor Schreck wie erstarrt. In seinem Gehirn ratterte es. Das war nun schon das zweite Mal heute, dass er von einem anderen Menschen angesprochen wurde. Immer wieder boten ihm Autofahrer auf dem Fußmarsch über die Landstraße nach Sebnitz an, ihn mitzunehmen, selten stieg er ein. Aber gerade heute? Waren sie ihm doch auf der Spur? War sie eine gut getarnte Agentin? Oder doch harmlos? Machte er sich verdächtig, wenn er ablehnte? War er in Gefahr, wenn er mitfuhr? Woran sollte er erkennen, ob sie ein Spitzel war? Fieberhaft flitzten seine Augen durch das Wageninnere. Er sah einen Einkaufskorb auf dem Rücksitz, einige Bonbonpapierchen auf dem Boden und einen Nylonbeutel im Fußraum des Beifahrersitzes. Wahrscheinlich war eine Geldbörse drin, wie eine Waffe sah das jedenfalls nicht aus. Watzkes Herz schlug bis zum Hals. Die junge Frau wurde langsam ungeduldig und sah ihn immer noch fragend an: »Wollen Sie jetzt mitfahren oder nicht?«

      Sie hatte ein paar Silberfäden in ihrem langen, dunklen Haar und war völlig ungeschminkt. War das jetzt ein gutes Omen oder ein schlechtes? Watzke wusste immer noch nicht, wie er reagieren