Schamanismus bei den Germanen. Thomas Höffgen

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Название Schamanismus bei den Germanen
Автор произведения Thomas Höffgen
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783964260000



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im Regenwald von Südamerika bis heute eine enorme kulturelle Bedeutung, man denke an das stark psychoaktive „Nationalgetränk“ von Amazonien, Ayahuasca, mit dem dort jedes Kind vertraut ist: In nächtlichen Zeremonien singen die Ayahuasqueros (Ayahuasca-Schamanen) die Icaros genannten Heillieder, die sie von den Geistern selbst gelehrt bekamen und die die Ritualteilnehmer in eine Welt voll unfassbarer Visionen führen. Für den Schamanen ist diese Welt die wahre Wirklichkeit, in der die Alltagsrealität spirituell begründet liegt. Hier, hinter dem Schleier der Natur, behandelt er die Ursachen für Krankheiten und Not, weshalb man ihn auch Curandero („Heiler“) nennt.

      Der Schamane, der hinter den Schleier der Natur blickt, ist ein praktischer Philosoph: Er unternimmt eine Seelenreise in die Welt der Ur-Ideen, der platonischen Ur-Bilder, von denen die materielle Welt bloß ein Abbild ist. Dort steht er in Kontakt mit den Dämonen wie schon der weise Sokrates. Die hellenischen Gelehrten hatten sogar einen philosophischen Fachbegriff für diese Sphäre hinter der Natur: „Metaphysik“ (metá „hinter, jenseits“ und phýsis: „Natur“).

       Der Jhankri vom Himalaya

      Auch auf dem „Dach der Welt“ – im Himalaya – ist der Schamanismus noch lebendig. In der Kosmologie der nepalesischen Schamanen, Jhankris, spielt der Weltenbaum eine zentrale Rolle und ist mit dem wichtigsten Ritualgerät verbunden: Der sogenannte Phurba ist ein dreiseitiger, zugespitzter Holzstab, der als „Geisterdolch“ fungiert, den der Schamane bei der Jenseitsreise in den Händen hält, um etwaige Dämonen in die Flucht zu schlagen. Der Phurba symbolisiert die Weltachse, mit seiner Hilfe manövriert sich der Jhankri durch die drei Welten. Deshalb findet sich der Phurba traditionell an der nepalesischen Schamanentrommel: Die beidseitig mit Fell bespannte Rahmentrommel wird im Sitzen gespielt, mit der einen Hand an einem Griff gehalten und mit der anderen mit einem Schlägel geschlagen – dieser „Griff“ ist der Geisterdolch, der Weltenbaum.

      Vor ein paar Jahren hatte ich die Gelegenheit, der séance eines Himalaya-Schamanen vom Stamme der Tamang beizuwohnen, die m. E. mustergültig exemplifiziert, was man sich – zumindest äußerlich – unter der schamanischen Ekstase vorzustellen hat. Der Schamane trug die traditionelle weiße Tracht eines nepalesischen Jhankris, eine mit Pfauenfedern verzierte Kopfbedeckung und schwere Glockenketten um den Körper. Mantras murmelnd warf der Jhankri ein paar Reiskörner auf die Ritualwerkzeuge und Kultgegenstände, die vor ihm auf dem Boden ausgebreitet waren. Er schloss die Augen und begann rhythmisch auf die Trommel einzuschlagen – und zwar viel härter als ich es erwartet hatte. Aus den Mantras wurden lautstarke Gesänge und im Takt der Trommel bewegte sich der Jhankri (im Schneidersitz) heftig auf und ab. Der Schlagrhythmus mutierte immer mehr zu einem monotonen Trommelfeuer, das den verräucherten Raum dröhnend erfüllte wie ein tosendes Gewitter. Klirrender Lärm ging von den Ketten aus, die sich mit den heftigen Bewegungen des Schamanen syn-ästhetisch verbanden; die Gesänge klangen jetzt erhaben-hymnisch, gleichsam urtümlich-naturgewaltig. Das Szenario ließ mich unwillkürlich an die Wilde Jagd denken, jenen germanischen Geisterzug, der unter Peitschenknall und Hörnerblasen lautstark durch die nebeligen Rauhnachtstürme galoppiert. Immer fester schlug der Jhankri auf die Trommel und es sah so aus, als würde er gleich aufspringen, umfallen und sich über den Boden winden. Er hyperventilierte, riss die Augen heftig auf und schien für diese Augenblicke Dinge anzustarren, anzurufen, die nur er allein wahrnahm. Er verdrehte seinen Kopf, gab laute Zischgeräusche von sich und schnalzte mit der Zunge – die Stimmen der Geister. Mit rüttelnden Bewegungen und Zuckungen am ganzen Körper sah der Schamane aus wie einer, der vollkommen den Verstand verloren hat. Und in der Tat, der Mann war völlig außer sich, war in Ekstase. Endlich nahmen Geschwindigkeit und Lautstärke des Trommelrhythmus wieder ab, taumelnd kehrte der verschwitzte Jhankri in die Alltagswelt zurück. Mit letzter Puste sprach er Mantras und warf noch ein paar Reiskörner, bevor er sich erschöpft zurücklehnte und freundlich lächelte.

      Germanischer Werwolf – Schamanentanz zu Ehren Odins. Bronzeplatte aus Torslunda, 6.-7. Jhd

       Der Weltenbaum

       Yggdrasil

      Im Mittelpunkt der germanischen Mythologie steht der Weltenbaum, der älteste und schönste aller Bäume, an dessen Stamm die Götter alltäglich Gericht halten. In der nordgermanischen Überlieferung trägt der Weltenbaum den Namen Yggdrasil und ist eine immergrüne Esche. Im ältesten Lied der Edda beschreibt eine Seherin (Schamanin) den Weltenbaum:

      Eine Esche weiß ich stehen, sie heißt Yggdrasil,

      ein hoher Baum, überschüttet mit glänzendem Nass;

      von dort kommt der Tau, der in den Tälern niederfällt,

      sie steht immer grün über dem Urdbrunnen.

      (Völuspa 19)

      „Die Esche ist der größte und beste aller Bäume. Ihre Äste breiten sich über die ganze Welt aus und erstrecken sich über den Himmel“ (Gylfaginning 15). An den Wurzeln des Weltenbaumes sprudelt eine Quelle, der Urdbrunnen, der heilige Brunnen der Nornen. Die Nornen sind drei Göttinnen, die das Schicksal der Welt aus Runen lesen und die Schicksalsfäden der Menschen weben. Am Stamm des Weltenbaumes leben die Menschen; er ragt säulenartig hoch empor bis in den Götterhimmel. Die Krone ist der Wohnsitz der Götter. Ein Drache schlingt sich um die Wurzeln, vier Hirsche äsen an den Zweigen, ein Eichhörnchen flitzt entlang des Stammes und obenauf sitzt ein Adler. Der Tau, der vom Weltenbaum zur Erde fällt, wird Honigtau genannt.

      Der Weltenbaum ist keine Fiktion, sondern ein philosophisches Gleichnis. Er ist ein Sinnbild für das harmonische Zusammenwirken aller Dinge und für die kosmische „All-Einheit“. Der Weltenbaum ist ein mikrokosmisches Abbild des Universums, in dem alles sinnvoll ineinandergreift und einen einheitlichen Organismus bildet. Alles steht in Beziehung zueinander, und aus dem Wechselspiel entsteht die Wirklichkeit. Er ist der Baum des Lebens und des Todes, der Baum der Erkenntnis und der Weisheit – der „Nabel der Welt“. Eliade nennt ihn den „Ausdruck der Heiligkeit, der Fruchtbarkeit und Ewigkeit der Welt“ sowie „der absoluten Realität“.10 Der Weltenbaum ist ein kosmisches Symbol und fungiert als eine „Weltachse“ (axis mundi), welche die drei Weltebenen miteinander verbindet: Erde, Mittelwelt und Himmel.

      Es handelt es sich um ein Symbol für die kosmische Ordnung, das in der Mythologie zahlloser Naturvölker angetroffen werden kann: Der Weltenbaum ist ein Archetyp, ein Ur-Bild. Er kommt überall vor, kulturübergreifend und zeitlos, vor allem aber in schamanisch strukturierten Kulturen. In Sibirien zum Beispiel, wo der Begriff „Schamanismus“ ursprünglich herkommt, erzählt man sich,

      […] daß es einen Baum mit vielen Wipfeln gibt. Die Schamanen aus der ganzen Welt werden alle an diesem Baume aufgezogen. Je größer der Schamane nach Bedeutung und Kraft ist, um so höher liegt seine Seele auf dem Baum. Das heißt, die Seele liegt dort in verschiedener Höhe. Die Schamanen selbst sagen gewöhnlich, daß als Erzieher ein Rabe erscheint, der auf den Zweigen dieses Baumes sitzt und die Seele groß zieht.11

      Eine andere Schamanengeschichte aus Sibirien besagt:

      Im Himmel ist ein Baum mit Namen Yjyk-Mas. Sein Wipfel reicht bis in den neunten Himmel, seinen Umfang kann niemand feststellen. Von der Wurzel bis zur Spitze ist dieser Baum mit Auswüchsen bedeckt. Keine freien Zweige sind an ihm zu sehen. In diesen Auswüchsen werden die Schamanen geboren, die Schamaninnen und alle diejenigen, die mit Zauberei und Hexerei bekannt sind. Starke werden am Fuße des Stammes geboren, Schamanen mit voller Kraft entstehen an der Wurzel des Baumes in einem Auswuchs, der groß ist wie ein kleiner Grabhügel.12

      Nun ist der Weltenbaum für den Schamanen aber nicht nur eine Metapher für die Harmonie des Kosmos, sondern auch – ganz praktisch – eine Verbindungsachse zwischen den Welten, an