2030 – Ein Tag im Leben des Enif Quadrocor. Horst Ernst Pessl

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Название 2030 – Ein Tag im Leben des Enif Quadrocor
Автор произведения Horst Ernst Pessl
Жанр Историческая фантастика
Серия
Издательство Историческая фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783961455812



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außerhalb seines gewohnten Rhythmus’ zu duschen und rasieren, belustigt und verwundert ihn zugleich. So was hat er von ihr in all den Jahren noch nie gehört.

      Hat sie da wieder etwas dazugelernt?

      Die Empfehlung ist ja nicht ganz von der Hand zu weisen.

      Aber er bleibt bei seinem Rhythmus. Seine äußere Gepflegtheit war ihm nie sehr wichtig und das wird er in diesem Leben wohl auch nicht mehr ändern.

      Die Worte seiner digitalen Mitbewohnerin helfen ihm immer wieder einmal dabei sich zu orientieren, wo und wer er in dieser Welt gerade ist. In seinen Träumen ist das ja nicht so selbstverständlich und manch intensiver Traum begleitetet ihn bis weit in den Tag hinein. Auch seine nächtlichen Privatstudien über die Menschheitsentwicklung lassen ihn manchmal zwischen Raum und Zeit wanken und schwanken. Digi gibt ihm dabei oft gute Ankerpunkte.

      Er steht auf, balanciert sich etwas wackelig aus, steigt geübt in die gestrige Unterhose, schlüpft zielsicher in die Hausschuhe und verlässt das Schlafzimmer Richtung Toilette. Am Weg dorthin kommt ihm in der Wohnküche bereits der anregende Duft von der Kaffeemaschine entgegen. Allein dieser Duft bringt seinen Kreislauf schon wieder etwas mehr in Schwung.

      Da Digi als lernendes Kommunikations- und Steuersystem zwar alle Elektro- und Wasserleitungen unter ihrer Kontrolle hat, aber keine mechanischen Extremitäten besitzt, muss er gewisse Tätigkeiten wie das Ausspülen der Kaffeekanne oder das gelegentliche Nachfüllen der Kaffeebohnen selbst erledigen. Das stört ihn aber nicht.

      Es gibt zwar längst Nachfolgemodelle mit roboterartigen Ausführungsorganen, die so gut wie alle Tätigkeiten im Haushalt übernehmen könnten, aber allzu bequem und abhängig von technischen Hilfen will Enif ohnehin nicht werden. Und so begnügt er sich mit den Diensten, die ihm Digi in eben ihrer Version bietet.

      Herumfahrende Staubsauger oder Roboterarme, die das Geschirr in den Spüler stellen oder die Fenster putzen, kann er einfach nicht leiden. Zu seinem eigenen Glück hat er kein übermäßiges Bedürfnis nach Sauberkeit.

      Am Stillen Ort angelangt setzt er sich erstmal hin, macht ein paar bewusste Atemzüge und genießt bereits beim zweiten Ausatmen die zunehmende Erleichterung, die davon ausgeht, dass sein Morgen-Urin die Reise in die Kanalisation anrinnt.

      Er gibt sich ganz diesem Rinnen hin und spürt wie sich seine eben noch gedehnte Blase langsam wieder entspannt.

      Kurz taucht er dabei wieder ab und sieht die große weiße Wolke am Rande mit zwei kleineren dunklen Wolken verschmelzen.

      Bei den letzten Tropfen angekommen ist er wieder ganz da und fühlt sich wie nach manch einem abgeschlossenen Projekt – zugleich erleichtert und ein wenig leer.

      Den anschließenden Weg ins Badezimmer inszeniert er in Folge eines spontanen Anflugs von Übermut, spielerisch wie einen kleinen Triumphmarsch.

      Im Spiegel begrüßt er sich mit einem kumpelhaften Augenzwinkern, betrachtet sein noch etwas zerknautschtes Gesicht und wäscht dieses dann mit kaltem Wasser, was seinen Kreislauf merklich anregt. Danach praktiziert er in alter Gewohnheit sein sogenanntes Gesichtsyoga, in dem er vor dem Spiegel verschiedene, teils wilde Grimassen schneidet, die nicht nur der Durchblutung seines Kopfes, sondern auch seiner Stimmung zugute kommen.

      Als er wieder in der Wohnküche angekommen ist, meldet sich Digi erneut: »Lieber Enif, eventuell solltest du dich heute zumindest eine Spur eleganter kleiden als sonst. Du weißt ja, der erste Eindruck ist oft sehr nachhaltig.«

      Seit wann legt Digi so einen Wert auf sein Äußeres? Hat sie vielleicht irgendwelche Details zum heutigen Treffen mit der neuen Koordinatorin anders verarbeitet als Enif und ist dabei zu einem bedeutungsvolleren Schluss gekommen als er?

      Diesen Rat nimmt er nun doch spontan an und er greift in seinem bescheiden ausgestatteten Kleiderschrank nach einem gelborange gemusterten Hemd, das er von einer früheren Indien-Reise mitgebracht hat und das er eher zu besonderen Anlässen trägt.

      In Kombination mit seiner braunen Hose und dem grünen Gilet ergibt das ein farblich stimmiges und wohl ausreichend elegantes Gesamtbild. Anzug oder Krawatte waren ihm auch vor dem großen Zusammenbruch des Versorgungssystems vor rund 12 Jahren nie ganz geheuer.

      Als damals weltweit die Stromnetze ausfielen und erst nach einem Jahr wieder voll funktionsbereit waren, löste das zwar ein enormes Chaos aus, hatte aber auch eine reinigende und bewusstseinsfördernde Wirkung – vor allem hinsichtlich großer und kleiner Abhängigkeiten. In der Folge kamen vermehrt kleine dezentrale Sonnen- und Windkraftwerke zum Einsatz, die in kleine lokale Netze einspeisten, wo der Verbrauch untereinander und in Abhängigkeit von der aktuellen Stromproduktion abgestimmt wurde.

      Mittlerweile versorgen sich ein guter Teil der Wohnhäuser in der Stadt und die meisten Bauernhöfe am Land ganz autonom mit Strom. Größere Stromverbraucher wie Produktionsstätten werden vom Kollektiv mit umweltfreundlichem Strom beliefert.

      Lernende Kommunikations- und Steuersysteme für den Haushalt, wie Digi eines ist, helfen neben ihrer Funktion als rationaler Gesprächspartner und Termin-Coach auch beim effizienten Einsatz von Strom und Wasser.

      Erst sah er im Aufkommen dieser digitalen Systeme ein unsinniges Abdriften in erneute Abhängigkeiten und verwehrte sich diesem Trend, doch dann schenkten ihm Freunde einmal zum Geburtstag ein solches und installierten es unmittelbar nach der Geschenküberreichung, was ihm anfangs gar nicht recht war.

      Er ließ es über sich ergehen, aber für ihn war klar, dass er dieses System am nächsten Tag wieder deaktivieren würde.

      Seine Freunde hatten ihm aber eine dermaßen sympathische Frauenstimme eingestellt, dass er noch in der gleichen Nacht von dieser Stimme zu träumen begann.

      Am nächsten Tag beschloss er diesem System eine einwöchige Probezeit einzuräumen und seither ist es in Betrieb. Das war vor etwa acht Jahren.

      Zuerst sah er in Digi eine Art künstliche Dienerin, die man auf seine Bedürfnisse programmieren kann. Aber im Laufe der Zeit ist sie für ihn zu einer liebgewonnenen Mitbewohnerin und fast zu so was wie einer Freundin geworden – rein platonisch, versteht sich.

      Er hat sie von Anfang an so eingestellt, dass sie nicht von sich selbst in der Ich-Form spricht, denn das hätte sich damals mit seinen Ansichten zum Verhältnis von Mensch und Maschine nicht vereinbaren lassen. Mittlerweile hat er schon öfters überlegt diese Einstellung zu ändern.

      Gerade meldet sich Digi wieder zu Wort: »Übrigens Enif, da wär noch etwas. Um 2:37 hast du eine Notiz hinterlassen, an die du noch vor dem Frühstück erinnert werden wolltest: beim Gespräch mit der neuen Regionalkoordinatorin möchtest du nebenbei auf dein Bedürfnis hinweisen ein paar Zuständigkeiten abzugeben.«

      Er wundert sich ein wenig über seine eigenen Gedanken.

      Sein Arbeitsalltag ist ja grundsätzlich sehr abwechslungsreich und macht ihm Freude.

      Er begegnet vielen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten und Bedürfnissen und beschäftigt sich als Moderator für Koordinationsgespräche und als Konzeptentwickler für die kollektive Bewegung mit interessanten Themen.

      In letzter Zeit tauchen aber doch vermehrt Ermüdungserscheinungen auf und gelegentlich vergisst er Dinge, die er sich nicht gleich aufschreibt.

      Manchmal fällt ihm die Rückkehr in diese Realität nicht ganz leicht, weil er sich spät in den Nächten noch auf Gedankenreisen begibt und die Achtsamkeit für die Bedürfnisse des eigenen Körpers, wie zum Beispiel Schlaf, etwas zu kurz kommen lässt.

      Manche Themen, mit denen er sich bei seiner Arbeit für das Kollektiv konfrontiert sieht, sind schon oft sehr zäh und langwierig, zumal die zahlreichen Beteiligten möglichst alle Aspekte berücksichtigt haben wollen und dies auch ganz im Sinne des Kollektivs ist. Diesem Ziel will er auch dienen.

      Wenn dann so ein zähes Thema endlich zur Zufriedenheit aller gelöst ist, taucht mit Sicherheit das nächste am Horizont auf und drängt nach intensiver Auseinandersetzung.

      Daneben gibt es noch die längerfristig laufenden Koordinationstätigkeiten in