Der König vom Feuerland. Horst Bosetzky

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Название Der König vom Feuerland
Автор произведения Horst Bosetzky
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783955522506



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sagte Borsig später zu seinem Freund Hermes. »Das Ganze hat er doch nur in Szene gesetzt, um mich von seiner Tochter abzutrennen. Marie soll sicher einen reichen Laffen heiraten.«

      Friedrich Hermes nickte. »Kann schon sein. Möglich ist aber auch, dass dein Vater dahintersteckt und mit Kiesewetter gesprochen hat, denn es stört ihn mächtig, dass du nicht auf die Walz gehen willst, wie es sich für einen echten Zimmermann gehört.«

      »Ich will aber kein echter Zimmermann mehr sein!«, rief Borsig.

      Der Hofrath Professor Bach saß am Schreibtisch in der Provinzialregierung und starrte aus dem Fenster – als könnte ihm die matte Herbstsonne zu einer Erkenntnis helfen. Vor ihm lag ein Schreiben aus Berlin, auf das er heute endlich reagieren musste, aber bis jetzt hatte er sich noch nicht zu einer Entscheidung durchringen können. Man beschwerte sich darüber, dass Breslau noch immer keinen Zögling aus Schlesien in die neue Königliche Gewerbeschule in der Klosterstraße geschickt habe. So ginge das nicht – und wenn man den Willen des Königs weiterhin konterkariere, werde das negative Folgen für Breslau haben. Irgendeiner müsse doch auch in Schlesien zu Höherem berufen sein als zu einem schlichten Handwerksmeister. Unterschrieben war das Ganze von einem Christian Peter Wilhelm Beuth, Director der Technischen Deputation für Handel und Gewerbe.

      Bach war hin- und hergerissen. Einerseits musste dem Wunsche Berlins entsprochen werden, und er gönnte ja auch jedem Schlesier den Aufstieg – ja, es war ihm eine Herzensangelegenheit, jede Begabung zu fördern –, andererseits aber wollte er verhindern, dass Schlesien austrocknete und seine Provinz mit der zweiten Wahl vorliebnehmen musste. Das war ein unlösbares Dilemma. Schließlich ließ er den Bauinspector Hirt rufen, um sich mit ihm zu beraten.

      »Einen müssen wir schicken, lieber Hirt, da kommen wir nicht drum herum. Aber nehmen wir den Besten, dann berauben wir uns selbst, nehmen wir das Mittelmaß, dann blamieren wir uns.«

      Hirt dachte nicht lange nach. »Es ist unsere Pflicht vor Gott und den Menschen, den Besten zu schicken, damit er sich in Berlin entwickeln und zu Preußens Größe beitragen kann.«

      »Unser Bester, das ist der Borsig …«

      »So ist es, Herr Hofrat. Er ist so begabt wie kein Zweiter.«

      Bach sah ein, dass es keine andere Lösung gab. »Dann schicken wir einen Boten nach ihm und lassen ihn kommen.«

      Eine halbe Stunde später stand August Borsig vor ihnen – und sah nicht sehr begeistert aus, als er erfahren hatte, was sie mit ihm vorhatten. Dass er wegen Marie in Breslau bleiben wollte, konnte er ihnen unmöglich verraten.

      »Borsig«, rief der Hofrath, »warum zögern Sie da? Die Lebensbahn eines Handwerkers ist nichts mehr für Sie, Sie sind dafür geschaffen, sich andere Ziele zu setzen, höhere Ziele! Berlin ermöglicht es Ihnen, das Wissen zu erwerben, das Sie befähigt, Großes, Eigenartiges und Wunderbares zu schaffen!«

      Kapitel vier 1823

      Seit Beginn der Demagogenverfolgung, die nach der Ermordung des Dichters August von Kotzebue – er galt als Gegner demokratischer Freiheiten – am 7. Juli 1819 eingesetzt hatte, stagnierte in Berlin das öffentliche Leben. Die wichtigste Behörde war das Polizeipräsidium. Seit den Befreiungskriegen, in denen man um die zweihunderttausend Menschen in Berlin gezählt hatte, wuchs die Bevölkerungszahl von Jahr zu Jahr, und hinter London, Paris und St. Petersburg stand die preußische Residenz in der Rangliste der europäischen Metropolen an vierter Stelle. Während im politischen Bereich die liberalen Ideen radikal unterdrückt wurden, kamen sie in der Gewerbe- und Wirtschaftspolitik voll zur Geltung. Trotz aller Unterdrückung erlebten Wissenschaft und Bildung, Kunst und Kultur eine ihrer glanzvollsten Epochen. Berlin entwickelte sich langsam zur Industriestadt. Damit wuchsen auch die sozialen Probleme, und 1820 waren vor den Stadtmauern die ersten Mietskasernen entstanden. Der Salon von Karl August und Rahel Varnhagen von Ense galt als geistiger Mittelpunkt der Stadt. Am 3. März 1821 hatte man das von Karl Friedrich Schinkel geschaffene Nationaldenkmal für die Befreiungskriege auf dem Kreuzberg enthüllt. Am 18. Juni 1821 war Carl Maria von Webers romantische Oper Der Freischütz uraufgeführt worden. Im gleichen Jahr hatte Schinkel den Neubau des Schauspielhauses am Gensdarmen-Markt vollendet, und am Oranienburger Thor konnte die Eisengießerei und Maschinenfabrik von Franz Anton Egells ihren Betrieb aufnehmen.

      So war das Berlin beschaffen, in das August Borsig am 1. Oktober 1823 seinen Einzug hielt. Am Alexanderplatz stieg er aus der Postkutsche, und das lange Sitzen hatte seine Glieder so steif werden lassen, dass seine ersten Schritte auf dem harten Berliner Pflaster sehr unbeholfen wirkten und er wie ein alter Mann aussah und nicht wie ein junger Spund, der gekommen war, die Welt zu erobern.

      Berlin war sicher eine ganz besondere Stadt, aber das ließ ihn nicht vor Ehrfurcht erstarren, denn schließlich kam er aus Breslau und nicht vom Dorfe. Aber die Leute waren doch irgendwie anders.

      »Kannst du mir bitte mal sagen, wie ich zur Münzstraße komme?«

      Der Schusterjunge, den er angesprochen hatte, grinste. »Klar kann ick det, denn wenn ick det nich könnte, wär ick ja janz schön mit’m Klammerbeutel jepudert. Det is also ’ne Beleidigung, det Se mir det nich zutrau’n.«

      Borsig brauchte einen Augenblick, um mit dieser Logik zurechtzukommen. »Muss ich also in diese Richtung?« Er zeigte nach Süden.

      »Nee, hier nach Westen. Erst kommt die Alexanderstraße, die ham Se direkt vor da Neese, und dann die Münzstraße.«

      Borsig bedankte sich, schulterte die Kiste mit seinen Siebensachen und machte sich auf den Weg. Bald hatte er das zweistöckige Haus der Witwe Järschersky erreicht, in dem ihm die Berliner Schule ein Zimmer reserviert hatte. Der Name irritierte ihn nicht, denn in Breslau gab es viele, die ein -ky am Ende hatten: Brohasky, Ciazynsky, Damretzky, Domschikowsky, Galetschky, Labitzky, Panowsky oder Websky. Es waren eine ganze Menge -ky’s, an die er sich erinnern konnte.

      Luise Järschersky ging auf die siebzig zu und kam aus der französischen Kolonie in Berlin, wie sich an ihrem Mädchennamen Grolleau leicht erkennen ließ. Geheiratet hatte sie den Holzhändler Johann Järschersky, der aus Ostpreußen nach Berlin gekommen war. Ihr Vorbild war die stadtbekannte Madame Du Titre, mit der sie auch befreundet war. Beide sprachen noch fließend französisch, liebten aber den urwüchsigen Berliner Dialekt und konnten komisch erzählen. Etwa in der Art, wie Madame Du Titre dem König nach dem Tod seiner Luise ihr Mitgefühl ausgedrückt hatte: »Ja, Majestätken, et is schlimm for Ihnen. Wer nimmt ooch jern een Witwer mit sieben Kinderkens?«

      Die Witwe Järschersky hieß August Borsig herzlich willkommen. »Ach du meine Jüte, drei Bonbons in eene Tüte! Sie sind nun schon der dritte Jast aus Breslau, den ick hier bemuttan darf. Erst war et der Friedrich von Gentz, aber der ist ja ab in det jlückliche Österreich, und denn der Herr Schleiermacher, aber wat der so rumspinnt, det is mir allet höchst schleierhaft.« Dann verwies sie auf ihre Nähe zu Madame Du Titre und hatte auch gleich noch eine Anekdote bereit, die man sich von ihrer Freundin erzählte: »Sie hat Joethe schon imma bewundert, und als er vor ’n paar Jahre in Berlin war, hat er ooch von ihr jehört. Als er ihr uff de Straße sieht, da will er ihr verwirren und fragt: ›Kennen Sie mich?‹ Da macht sie janz ehrfürchtich ’n Knicks und ruft: ›Jroßer Mann, wer sollte Ihnen nich kennen: Fest gemauert in der Erden/steht die Form, aus Lehm gebrannt!‹«

      Borsig ging es wie ein Mühlrad im Kopf herum, und er zog sich erst einmal in sein Zimmer zurück, um wieder etwas zu sich zu kommen. Erschöpft warf er sich auf das Bett. Seine Gefühle waren höchst zwiespältig. Einerseits fühlte er sich einsam und verlassen und sehnte sich nach seiner Familie, nach Marie, nach Kiesewetters Zimmerei, andererseits aber war er froh und glücklich, ein neues Leben zu beginnen, war er neugierig auf die Preußenresidenz. Er fühlte sich wie ein Schauspieler, der auf der Breslauer Bühne zehn Jahre lang einen Zimmermann gespielt hatte und sich nun freuen konnte, dass es in Berlin andere Rollen für ihn gab.

      Er mochte eine Stunde tief und fest geschlafen haben, als jemand an seine Zimmertür klopfte. Es war Wilhelm Järschersky, der Sohn seiner Wirtin, und der wollte ihn fragen, ob er morgen mit ihm durch Berlin spazieren und